Humanitäre Krise in der Ukraine

Ist Hilfe die Lösung?

11.05.2022   Lesezeit: 10 min

Hilfe muss gerade in diesen Zeiten nicht nur das Nötigste tun, sondern auch reflektieren, wie sie wirkt und welche Konsequenzen sie hat.

Von Katja Maurer

Sergej aus Charkiw saß vor wenigen Tagen bei uns im Büro. Er ist eigentlich Spezialist für die Reparatur von Eisenbahnen. Früher hatte er einen Betrieb mit 150 Angestellten. Mit Beginn des Krieges hat Sergej gemeinsam mit Freunden, die in Friedenszeiten mehrere Restaurants betrieben, eine Großküche in Charkiw aufgebaut, in der sie nun täglich Essen kochen und rund 7500 Menschen versorgen, die sich in den Bombenschutzräumen ihrer Häuser oder in den U-Bahnschächten aufhalten. Denn seit neun Wochen liegt die zweitgrößte Stadt der Ukraine unter Dauerbeschuss des russischen Militärs. Er und weitere 50 Freiwillige haben eine Organisation aufgebaut, die neben der Kantine für Schutzsuchende auch Lebensmittel an Menschen liefert, die noch in ihren Wohnungen sind und selbst kochen können. Sie fahren in speziellen Transporten Kranke ins nahegelegene, noch friedliche Poltawa. Von dort aus werden diese in ganz Europa in Krankenhäuser oder Altenheime untergebracht.

Die Stadtverwaltung von Charkow, wie es ein Teil der russischen Bevölkerung hier spricht, erhält nicht in ausreichendem Umfang Hilfsgüter, um sie weiter zu verteilen. Der 30-jährige neoliberal organsierte Transformationsprozess des Landes hat diese Institutionen zur Gewährleistung individueller Bereicherung verkommen lassen. Misstrauen vieler Menschen in die Politik sind die Spuren, die dieser Prozess hinterlassen hat. Dass die Menschen sich nun in der Situation des Krieges mit vielfachen Praxen der Selbsthilfe solidarisch beiseite stehen, ist keinesfalls selbstverständlich und vor erhebliche Herausforderungen gestellt. Allein die Versorgung der 7.500 Leute kostet 80.000 Euro die Woche. Dafür brauchen die Freiwilligen-Initiativen Bargeld. Sie werden deshalb nun einen Verein mit dem Namen „Mirnoe nebo“ (Friedlicher Himmel) gründen. Dann können sie Eigenmittel offiziell einwerben.

Viel und schnell hilft viel

Die Selbstorganisation der Ukrainer:innen hat ein internationales Gegenüber mit sehr viel Geld. Allein im Bündnis Entwicklung Hilft, dem auch medico angehört, wurden Beträge im oberen zweistelligen Millionenbereich gesammelt. Die allgemeine Ohnmacht, ausgelöst durch den russischen Angriffskrieg, hat eine nie dagewesene Spendenbereitschaft hervorgerufen. Menschen wie Sergej werden davon hoffentlich profitieren. Denn sie leisten essentielle Überlebenshilfe.

Auf Dauer aber stellen sich angesichts dieses enormen Spendenvolumens viele Fragen. Die Hilfsorganisationen, die in Deutschland große Summen erhielten, haben zum größten Teil noch nie in der Ukraine gearbeitet. Es gibt also kaum Strukturen, auf die sie für Wissen und Einschätzungsvermögen zurückgreifen könnten. Das trifft auch auf medico zu.

Unter diesen Bedingungen ist Geschwindigkeit nicht alles, es ist aber das, was verlangt wird. In den immer aufgeregteren Medien – man kann diesen Modus ja gerade in seiner ganzen gefährlichen Dimension erleben – wird die schnelle Verausgabung der Mittel als Maß aller Dinge zur Beurteilung der Arbeit von Hilfsorganisationen gehandelt. Die Fragen darüber, ob dabei im Sinne der Betroffenen gehandelt, ob sie gar selbst Mittel verwalten, ob es mit vorhandenen Strukturen abgesprochen und ob die Hilfen zu ihrer Stärkung und Demokratisierung genutzt werden – das steht meist ganz weit hinten in der Berichterstattung. Warum? Weil die Aufgabe, mit Hilfe nachhaltig strukturellen Ursachen zu beseitigen, die sie erst nötig machen, mit der Privatisierung und Entpolitisierung der Hilfe weitestgehend aufgegeben worden ist.

Die Dilemmata der Hilfe

Hilfe aber ist eine soziale Beziehung und keine Sozialtechnik. Wer es auf letztere reduziert, verdeckt die Komplexität und Ambivalenzen der Abhängigkeiten und der Asymmetrien, die diese Beziehungen zwischen Geber:innen und Nehmer:innen gestalten. Der Aufbau von Beziehungen, von Verständigung über die Art und Weise des gemeinsamen Handelns, von gegenseitigem Vertrauen dauert viel länger als die humanitären Erfordernisse es erlauben.

„Tausend Fragen eine Antwort: Hilfe“ titelte Anfang der 2000er eine deutsche Hilfsorganisation auf Plakaten, die bundesweit gedruckt wurden. Zur selben Zeit begann der Irak-Krieg der USA und ihrer Koalition der Willigen. „Helfen“ konnte nur, wer sich von der US-amerikanischen Armee kontrollieren ließ: Embedded Aid war geboren und wurde in Afghanistan Teil der Besatzungsstrategie. Hilfe als Vorfeldarbeit, um das Klima für die Militärs zu verbessern. Wer nur die Antwort gibt: „Helfen“, mutet den Spender:innen die Schwierigkeiten einer Hilfe, die nachhaltig die Ursachen der Katastrophe überwindet, nicht zu. Das funktioniert gut, sogar besser als Komplexität und spült viel Geld in die Kassen der Organisationen.

Das hat bisher in allen großen Katastrophen nicht nur zu einem enormen „Mittelabflussdruck“ geführt, das heißt der Anforderung, das Geld möglichst schnell und für die Spender:innen einsichtig zu verausgaben. Hilfsorganisationen stehen auch vor einem weiteren Dilemma: Nämlich Teil einer globalen Strategie zu werden, die zwar Menschenrechte im Mund führt, aber sie häufig für eigene Herrschaftsinteressen instrumentalisiert und so die Glaubwürdigkeit ihrer Rede untergräbt. Dass dies einer der Gründe ist, warum man im globalen Süden ganz anders auf den Ukraine-Russland-Konflikt schaut, liegt auf der Hand. Mit moralischen Argumenten wird man da nicht weit kommen, es braucht eine andere Praxis von Hilfeleistung.

Markt statt Solidarität

Das Ende des Ost-West-Konflikts durch den Sieg des liberalen wie neoliberalen Westens hat diese Form der Entpolitisierung von Hilfe eingeläutet. Hilfe begriffen als Solidarität verlor eben die Idee der 68er, dass jede:r sich mit der Entscheidung zur Solidarität in die Verantwortung für das ganze weltweite Unrecht und die strukturelle Gewalt begibt. In einer Welt, in der es nichts mehr grundlegend zu verändern gibt, sondern nur noch das Bestehende zu verbessern ist, wird aus Hilfe ein Hilfsbusiness und aus engagierten und solidarischen Spender:innen ein Spender:innenmarkt.

Das ist die Grundlage des Humanitarismus, die darin besteht, soweit Hilfe zu leisten, wie es unserer privilegierten Lebensweise nicht schadet. Wir helfen den Geflüchteten. „Aber wir können ja nicht alle aufnehmen“ – wie der Volksmund und die Politik spricht. Nach welchen Kriterien entscheidet man, wen man aufnimmt und wen man zurück in die Hölle schickt? In der aktuellen Situation offenbaren sich Methoden und Kriterien. Geflüchtete Ukrainer:innen werden aufgenommen und erhalten schnellen Zugang zu Schule, Arbeitsmarkt und Anerkennung ihrer beruflichen Qualifikationen – eigentlich das Mindeste, was Menschen auf der Flucht zusteht. Aber das gilt nicht für alle. Selbst Geflüchtete unterliegen einer Kriegslogik. Wie in der Erbsenauslese bei Aschenputtel gibt es die „guten“ Geflüchteten aus der Ukraine, deren Aufnahme den Humanitarismus des Westens erneuern, und die „schlechten“ Geflüchteten, die aus anderen Kriegs- und Katastrophenzonen hier ankommen. Letztere verweisen eben nicht darauf, dass wir auf der „richtigen Seite“ stehen, sondern vor allen Dingen auf unsere Mitverantwortung für Kriege und Klimakatastrophe.

Überlegenheitsdenken der Hilfe

Zum Humanitarismus gehört auch die Ankündigung, dass man nach der Katastrophe die zerstörten Regionen besser wiederaufbauen werde. Die Überlegenheitsgeste des „Rebuild better“ ist zu einem universellen Ziel geworden. So richtig dieses Anliegen ist, so leer ist oft seine Verwirklichung. Nach dem Krieg der NATO gegen Serbien und die damit erreichte Unabhängigkeit des Kosovo gelangten viele internationale Hilfsgelder in die Republik. Man wollte beweisen, dass man nicht nur Kriege führt, sondern zum demokratischen Nation Building beiträgt. Die meisten Gelder verwalteten internationale Hilfsorganisationen und setzten sie in Einzel-Projekten um. Die fehlenden Landes- und Sprachkenntnisse ersetzten einheimische Kräfte, die auf die Leistung von Hilfsdiensten für ein internationales Kommando reduziert wurden, statt selbst an der politischen Zukunftsgestaltung des Landes teilzunehmen. Die durch die Hilfe eingeleitete NGOisierung des Kosovo trug weder zu seiner Demokratisierung noch zur Entfaltung von Bewegungen bei, die entstandene Räume politisch hätten nutzen können.

Ähnliches lässt sich auch in anderen durch NGOisierung erfolgte „Wiederaufbau“-Prozesse beschreiben, die die Länder gerade nicht aus ihrer sozialen, politischen und ökonomischen Sackgasse herausgeführt haben. Das letzte Beispiel ist Haiti und die gescheiterte Erdbebenhilfe nach 2010, die vollständig in den Händen internationaler Akteur:innen lag. Um einen demokratischen und rechtsstaatlich organisierten Institutionenaufbau kümmerten sie sich nicht. Längst haben sie Haiti verlassen und bis zu 80 Prozent der Gelder in Form von Gehältern, Bürokratiekosten oder Gewinnen wieder zurückgenommen, die eigentlich Haiti hätten zugutekommen sollen. Ein Skandal, der keiner ist, weil ihn niemand mehr wahrnimmt. Stattdessen versinkt Haiti im Chaos, das die Hilfe hinterlassen hat.

Manches davon lässt sich auch in der Ukraine beobachten, in der es seit 2014 zu einer NGOisierung der Zivilgesellschaft kam, die aus dem Maidan hervorgegangen war. Alle Auseinandersetzungen um einen Rückgang der Korruption und eine Entmachtung der Oligarchie in der Ukraine sind seither gescheitert. Einzig rechtsnationalistische Kreise sind nicht ngoisiert, sondern organisierten sich politisch, übrigens auch immer wieder um die Korruptionsfrage.

Eine neue Welle der NGOisiserung

Nun stehen den internationalen Hilfsorganisationen enorme finanzielle Mittel zur Verfügung. Damit droht eine neue Welle der NGOisierung der Ukraine. Es werden nun zuhauf lokale Partner entstehen oder sich gründen, die für die humanitäre Angelegenheit sehr viel Geld brauchen und bekommen. Diese Form der NGOisierung wird aber keine politischen Fragen lösen, die für eine demokratische ukrainische Nachkriegsgesellschaft von erheblicher Bedeutung sein werden. Und schließlich geht es doch um Demokratie, wie allseits behauptet wird.

Wie sähe eine öffentliche Infrastruktur in einem Land aus, in dem der Staat in den letzten Jahrzehnten nur eine Privatisierungsmaschinerie war (nicht nur wegen der Oligarchie, sondern auch wegen der IWF-Kredite, die gegen entsprechende Auflagen gewährt wurden). Eine NGOisierung des Sozialen, das ist hinlänglich aus anderen Kontexten bekannt, kann eine öffentliche und rechtlich abgesicherte, also für alle zugängliche soziale Infrastruktur nicht ersetzen. Sie macht aus einem Recht, eine von ausländischen Geldgebern abhängige Gnade. Sich diesen Kontext zu vergegenwärtigen ist die Aufgabe all der NGOs, die nun mit ihrem Geld so oder so auch Teil der innerukrainischen Debatte sind.

Befreiungsnationalismus

Das wirft aber eine weitaus grundsätzlichere Debatte auf. Eine entpolitisierte und professionalisierte, hin zu einem technokratischen Humanitarismus gewendete, Solidarität kann keinen Beitrag zu der offenen Frage leisten, wie die Ukrainerinnen und Ukrainer in ihrer ganzen Vielfalt künftig leben wollen und welche internationalen Bedingungen außer einer Beendigung des Krieges sie dafür bräuchten. Sie gibt auch auf unsere eigenen politischen Hoffnungen in Bezug auf Europa und die globalen Katastrophen keine Antwort. Ob der legitime ukrainische Widerstand gegen einen bewaffneten Angriff auch einem emanzipatorischen und antikolonialen Prozess Auftrieb gibt, wie der ukrainische Schriftsteller und Psychoanalytiker Jurko Prochaska in den Römerberggesprächen Ende April 2022 in Frankfurt sagte, ist offen. Einen solchen emanzipatorischen Prozess zu unterstützen, wäre die Aufgabe eines EU-Europas, das seinen demokratischen Auftrag ernst nimmt. Dann richtet sich die Frage nicht nur an die Haltung der internationalen Hilfe der NGOs, sondern auch an eine EU-Politik, die gegenüber der Ukraine bislang nichts anderes kennt als systematische Verschuldungspolitik und Auflagen zur Strukturanpassung, die einzig die Marktliberalisierung im Blick haben.

Es muss in der Ukraine also sehr viel um die Haltung gehen, mit der Hilfsorganisationen dort agieren. Diese Haltung ist herausgefordert, kritisch und selbstkritisch die Erfahrungen zu reflektieren, die in den vergangenen Jahren der großen Hilfseinsätze vom Tsunami in Südostasien, über das Erdbeben in Haiti bis zur großen Flut in Pakistan gemacht wurden. Lehren daraus gibt es viele.

medico international hat in den vergangenen Wochen zu unterschiedlichen Initiativen und Organisationen Verbindungen aufgebaut. Wir unterstützen eine selbstorganisierte Suppenküche in Charkiw, die Arbeit feministischer und zivilgesellschaftlicher Basisinitiativen, alternative Mediennetzwerke genauso wie die Begleitung und Versorgung von Geflüchteten und Projekte für nachhaltige Landwirtschaft und Umweltschutz. Unsere Partner verbinden die konkrete und direkte Hilfe mit der Frage nach solidarischen Perspektiven, die über den Krieg hinausweisen. Ein Kurzporträt aller Projekte und die Möglichkeit zu Spenden finden Sie auf unserer Seite: Hilfe, wo sie gebraucht wird

Katja Maurer

Katja Maurer leitete 18 Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit von medico international und die Rundschreiben-Redaktion. Heute bloggt sie regelmäßig auf der medico-Website.


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