Moria ist abgebrannt und es ist gut, dass in diesem Elendslager kein Mensch mehr leben muss.
Seit vielen Jahren schon sind die Zustände dort unhaltbar gewesen. Zuletzt war das Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos, das auf die Unterbringung von weniger als 3000 Menschen ausgerichtet war, mit nahezu 13000 um ein Vielfaches überbelegt. Dann kam Corona und es wurde alles noch schlimmer. Angesichts des Gedränges und desolater hygienischer Verhältnisse waren die Menschen im Lager der Pandemie schutzlos ausgeliefert. Nur wenige Tage vor dem Brand wurden erste Covid-19-Fälle unter den Flüchtlingen bekannt. Inzwischen hat die griechische Regierung ein neues Lager für die Menschen aus Moria errichtet, in das die meisten jedoch nur sehr zögerlich oder erst nach Aufforderung durch die Polizei gehen. Viele haben Angst, dass es sich um ein geschlossenes Lager handelt. Und dass sich wiederholt, was sie bereits aus Moria kennen: Aus einer schlechten Übergangslösung wird ein noch schlechterer Dauerzustand. Eine Sorge, die sie – wenn auch aus unterschiedlichen Beweggründen – mit vielen Inselbewohnerinnen und Inselbewohnern teilen.
Evakuiert Moria, verteilt die 13000 in Europa oder – wenn ihr euch auf EU-Ebene nicht einigen könnt – holt sie alle nach Deutschland! Und zwar sofort! Mit dieser Forderung gehen die Seebrücke-Bewegung und andere mit Tausenden von Menschen deutschlandweit unermüdlich auf die Straße. Richtig ist: Menschen in Not muss geholfen werden. Und dass es andere nicht tun, kann keine Ausrede sein. Zu lange hat man die Menschen von Moria schon hingehalten und ihrer Rechte beraubt. Es ist am reichsten Land Europas, sich nicht länger hinter einer „europäischen Lösung“ zu verstecken, sondern voranzugehen bei der Aufnahme. Zugleich ist es aber auch richtig zu fragen: Und was ist mit den anderen Flüchtlingen in Griechenland? Mit denjenigen, die nach ihrer Anerkennung obdachlos in Athen leben, oder mit denjenigen, die weiter in den Lagern auf Chios, Kos, Leros und Samos ausharren müssen, wo teilweise auch erste Corona-Fälle bekannt wurden? Und wie weiter mit den Millionen Flüchtlingen auf der ehemaligen Balkanroute, in den italienischen Hotspots, in der Türkei, im Libanon, in Syrien, in Libyen, auf dem Mittelmeer oder in den Ländern der Sahelzone?
Mehr als alle anderen genannten Orte hat Moria in den letzten Jahren die internationale Aufmerksamkeit für die Situation von Flüchtlingen auf sich gezogen. Tausende von internationalen Helferinnen und Helfern waren vor Ort, Hunderte von Journalistinnen und Journalisten haben berichtet. Doch ihre Weckrufe wurden überhört. Zu sehr hat man offenbar auf eine abschreckende Wirkung der Bilder aus Moria gehofft und sich gegenseitig die Verantwortung zugeschoben.
Jetzt ist es höchste Zeit anzuerkennen: In Moria ist das EU-Türkei-Abkommen mit seinem Hotspot-Ansatz krachend gescheitert. Das Abkommen, das 2016 als Lösung der so genannten „Flüchtlingskrise“ präsentiert wurde, hat mit seinem Hotspot-Konzept Orte des Elends und der Entrechtung wie Moria an den EU-Außengrenzen hervorgebracht und verstetigt. Von den angekündigten beschleunigten Asylverfahren ist dort nichts übrig geblieben, was menschenrechtlich vertretbar wäre. Grundlegender Rechte beraubt, sehen sich viele Flüchtlinge in den Hotspots daher gezwungen, alles dafür zu tun, um als vulnerabel eingestuft zu werden. Denn es sind schon lange nicht mehr ihre Rechte, die ihnen zu einem menschenwürdigen Leben verhelfen. Die Menschen sind vielmehr einem Wettbewerb der Vulnerabilitäten unterworfen. Humanitäre Nothilfe vor Ort und die Aufnahme von Familien mit Kindern aus humanitären Gründen dürfen daher niemals als Antwort auf Moria genügen. Es muss immer auch darum gehen, das Recht auf Rechte zu verteidigen, das in Moria vor unser aller Augen unterhöhlt wurde und um das es auch in dem neu errichteten Lager auf Lesbos aller Voraussicht nach nicht gut stehen wird.
Moria macht exemplarisch deutlich: Es ist keine Lösung, Menschen dauerhaft in Lagern an den Rändern der EU anzusiedeln. Und wenn die EU-Kommission jetzt die Dublin-Verordnung in Frage stellt, die eben diesen Ländern bislang sämtliche Asylverfahren von Ankommenden aufbürdete, ist das erst mal ein gutes Zeichen. Doch nicht nur die Dublin-Verordnung gehört revidiert, sondern auch die Politik der Deals. Wer sich auf dubiose Tauschgeschäfte mit unberechenbaren Autokraten einlässt, die Flüchtlinge von Europa fernhalten sollen, erklärt Menschen zur Verhandlungsmasse und macht sich erpressbar. Schon mehrfach hat der türkische Regierungschef infolge des EU-Türkei-Abkommens bewiesen, dass er sich nicht davor scheut, Flüchtlinge als Druckmittel einzusetzen, zuletzt Anfang des Jahres als er Tausende von ihnen an die Grenzen zu Griechenland bringen ließ. Gleichzeitig hat er die Grenze zu Syrien massiv hochgerüstet, sodass niemand aus dem nach wie vor vom Krieg erschütterten Land mehr in Richtung Türkei fliehen kann. Im syrischen Idlib sitzen nun Hundertausende fest, ohne Schutz vor Bomben und Corona – eine Kettenreaktion, die nicht zuletzt auf das Konto des EU-Türkei-Deals geht. Dennoch wird dieser Deal immer wieder als Blaupause für ähnliche Abkommen mit anderen Ländern gehandelt.
Neu ist dieses Vorgehen allerdings nicht. Längst nutzt die EU Handelsbeziehungen und Entwicklungshilfezahlungen als Druckmittel, um Kooperation bei der Steuerung von Flucht und Migration zu erzwingen. Sei es in der Zusammenarbeit mit einem der ärmsten Länder der Welt wie Niger oder mit dem vom Bürgerkrieg zerrütteten Libyen, in dem Migrantinnen und Migranten und Flüchtlinge erwiesenermaßen in Folterlagern gefangen gehalten werden.
Dem EU-Türkei-Abkommen wie anderen vergleichbaren Deals liegt die letztlich koloniale Idee zugrunde, man könne steuernd in Flucht- und Migrationsbewegungen andernorts eingreifen, ohne den jeweiligen Kontext zu berücksichtigen. Und ohne die eigene Beteiligung an fernen Ereignissen und Katastrophen anzuerkennen. So werden beim EU-Türkei-Abkommen die politische Gemengelage um die Türkei herum und die weitreichenden Folgewirkungen des Abkommens bis hin zum Mauerbau an der syrischen Grenze ebenso ausgeblendet wie der vielschichtige geopolitische und sozioökonomische Kontext, in dem die Länder der Sahelzone und Nordafrikas stehen. Fragwürdige Deals einzugehen und sich ohne Berücksichtigung der Umstände gegenseitig Zahlen zuzurufen, ist keine Politik, sondern unwürdiges Geschacher. Wenn wir das nicht wollen und Zustände wie in Moria der Vergangenheit angehören sollen, müssen wir akzeptieren: Schnelle und einfache Lösungen, ausgedacht in Brüssel oder Berlin, sind keine Grundlage für eine zukunftsweisende menschenrechtsbasierte Politik. Und letztere wird es ohne fundamentale Veränderungen nicht geben.
Dieser Beitrag erschien zuerst am 20. September 2020 in Der Hauptstadtbrief.