Libanon

Kleines Land, groß wie die Welt

12.05.2020   Lesezeit: 5 min

Flucht und Migration, Armut und Aufstand: Im Libanon verdichten sich zahllose globale Realitäten. Mitten im Handgemenge setzen sich medico-Partnerorganisationen für gleiche Rechte und emanzipatorische Perspektiven ein.

Von Mario Neumann

„Wenn man sagt, man habe den Libanon verstanden, hat man nichts verstanden“, so lautet ein politischer Witz auf den Straßen Beiruts. Die Umkehrung dieses Satzes erinnert an die alte Weisheit der griechischen Philosophie, dass bewusstes Nicht-Wissen auch eine Erkenntnis ist. Aber zurück zum Libanon: Kann Nicht-Verstehen tatsächlich ein Verstehen sein? Und was würde es helfen? Es kann bedeuten, dass eine Situation undurchdringlich, vielschichtig, widersprüchlich und offen ist, dass etwas nicht als System begreiflich wird, sondern als Überlagerung unterschiedlicher Prozesse. Beim Versuch, den Libanon in diesem Sinne zu verstehen, hilft ein Blick auf die Migration. Das kleine Land hat ungefähr so vielen Flüchtlingen aus Syrien Zuflucht gewährt wie ganz Europa. Zu den 4,5 Millionen Einwohner*innen kommen rund 1,5 Millionen Flüchtlinge aus dem Nachbarland hinzu. Viele von ihnen sind beim Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR gar nicht registriert. Doch auch denen mit legalem Status geht es kaum besser. Für ihr Recht auf gesundheitliche Versorgung im Libanon streitet AMEL. Gegründet in der Zeit des libanesischen Bürgerkriegs, verfolgt die Organisation das Prinzip „Gesundheit für alle“, unabhängig von Religion, Pass oder Einkommen. AMEL begann als Hilfsorganisation für arme Libanes*innen aller Konfessionen und versorgte dann während des Krieges im Libanon zunehmend auch Flüchtlinge, heute in erster Linie die Menschen aus Syrien. Und AMEL hat nicht erst gestern erkannt, dass sich die Situation der armen Einheimischen und die der syrischen Flüchtlinge ähnelt. Im ganzen Land betreibt die Organisation 24 Gesundheitszentren und sechs mobile Kliniken für alle Bedürftigen, Libanes*innen wie Flüchtlinge.

Moderne Sklavenarbeit

Flucht und Migration sind nicht nur eine Frage der Gesundheit. Sie sind auch untrennbar verbunden mit Armut, Kinderarbeit und Ausbeutung. Viele Flüchtlinge arbeiten in undokumentierten Jobs, in der Bauwirtschaft, auf den Feldern und Hanfplantagen in der Bekaa-Ebene, dem syrisch-libanesischen Grenzgebiet. Überdeutlich wird im Libanon, dass die Grenze nicht nur ein Ort ist, sondern eine politische Methode, die auch im Inneren von Gesellschaften existiert. Menschen, die seit Jahren oder Jahrzehnten nebeneinander leben, sind durch unsichtbare, aber wirksame Grenzen voneinander getrennt. Diese Grenzen drücken sich auch in Rechten aus, die man eben hat oder nicht. Und die Entrechtung von Migrant*innen schafft die Bedingungen für ihre rücksichtslose Ausbeutung und Unterdrückung. Das gilt nicht nur für die Menschen aus Syrien. Schätzungsweise 300.000 „Migrant Domestic Workers“ aus Asien und Afrika leben und arbeiten im Libanon. Bis zum Ausbruch des libanesischen Bürgerkrieges waren mehrheitlich syrische und libanesische Frauen aus ländlichen Regionen als Hausangestellte beschäftigt. Um alte religiöse und ethnische Konflikte stillzustellen, werden inzwischen aber vorwiegend Migrantinnen aus Äthiopien, den Philippinen, Sri Lanka, Nepal oder Sudan rekrutiert – und zwar von einem professionellen internationalen Anwerbesystem, betrieben von Recruitment-Agenturen
und der libanesischen Regierung. Die Arbeiterinnen sind von nationalen Arbeitsgesetzen ebenso ausgeschlossen wie von internationalen Schutzregeln. Stattdessen unterliegen sie dem „Kafala“- System, das ähnlich in Saudi-Arabien und den Emiraten praktiziert wird. Letztlich ist es ein staatlich unterstütztes System moderner Sklaverei: Mit der Anwerbung treten die Arbeiterinnen ihre Rechte an den Hausherren bzw. die Arbeitgeberin ab. Oft wird der ohnehin karge Lohn nicht ausbezahlt, Missbrauch ist alltäglich – ebenso ein Leben „unter Arrest“, da viele Migrantinnen das Haus nicht verlassen dürfen. Indem die Arbeitgeber*innen auch über die Pässe verfügen, bestimmen sie über Legalität und Illegalität ihrer „Dienstmädchen“. Hinzu kommt eine Kriminalisierung der Frauen durch die libanesische Politik. Wer etwa politisch aktiv wird, verliert die Aufenthaltsgenehmigung. Der Staat führt immer wieder Abschiebungen durch, oftmals nach monatelanger Haft in überfüllten Gefängnissen.

2011 formierte sich das Anti-Racism Movement (ARM), das sich durch öffentliche Proteste für eine Verbesserung der Situation von Kafala-Migrantinnen und illegalisierten Arbeiterinnen im Libanon einsetzt. Die feministische Organisation mit mehr als 500 Mitgliedern organisiert weiterhin Demos und andere öffentliche Aktionen, um auf die miserable Situation von Migrantinnen aufmerksam zu machen. Daneben hat das ARM insgesamt vier „Migrant Community Center“ (MCC) gegründet, davon zwei in Beirut. Die Zentren bieten sichere Räume, stellen aber vor allem eine Infrastruktur dar, in der Migrantinnen ihre Selbstorganisierung und politische Stimme stärken können. „Migrant voices first“: Sie sind Akteurinnen und nicht bloß Empfängerinnen von Hilfe und Almosen, so die Prinzipien des Projekts.

Dachgärten im Flüchtlingslager

Mittendrin im libanesischen Handgemenge befinden sich die palästinensischen Flüchtlinge. Auch nach 70 Jahren im Land haben sie keine wirkliche Perspektive, Zugang zu weiten Teilen der Wirtschaft, das Wahlrecht und die libanesische Staatsbürgerschaft bleiben ihnen verwehrt. Viele leben bereits in der zweiten oder dritten Generation im Land. Flüchtlinge sind sie lediglich durch ihren rechtlichen Status und ihre Lebensverhältnisse. Exemplarisch für diese Situation steht Ein El Hilweh, das größte palästinensische Flüchtlingslager im Libanon. Eine von der Armee errichtete und mit US-Entwicklungsgeldern finanzierte Mauer umgibt das Camp, während im Lager insgesamt 14 palästinensische Fraktionen um Kontrolle und Einfluss konkurrieren. Angesichts der angespannten Lage hat sich bereits vor 15 Jahren Nashet gegründet. Dem von Gewalt und Perspektivlosigkeit bestimmten Alltag setzt die Organisation eine engagierte Jugend-, Mädchen- und Frauenarbeit entgegen. Seit 2018 unterstützt medico über Nashet auch eine Frauenkooperative bei der Einrichtung von Dachgärten im Camp. Die Kooperative stellt Lebensmittel her und betreibt eine Großküche samt Cateringservice, allesamt Aktivitäten, die die Selbstermächtigung der Frauen fördern.

Das verwirrende Leben im Libanon wird seit Oktober 2019 überlagert von einem – man kann es nicht anders sagen als mit diesem alten Wort – Volksaufstand. Die grassierende Armut, die Korruption der politischen und religiösen Eliten, das soziale Chaos und die Unterdrückung von Migrant*innen und Frauen haben aus einer kaum verstehbaren Lage eine neue Klarheit geschaffen, vielleicht nicht über das, was ist, aber über das, was sich verändern muss. „Alle heißt alle“, lautet die Parole, die ausdrückt, dass die politischen und religiösen Eliten verschwinden sollen. Doch zunächst einmal hat sich die Lage weiter zugespitzt, das Finanzsystem steht vor dem Kollaps, die Währung kollabiert und das Chaos ist gewachsen. So bleibt der Gang der Erkenntnis ein paradoxer Gang: Je mehr man über den Libanon weiß, desto weniger versteht man. Und umso mehr lernt man über die Welt.

Mario Neumann

Mario Neumann ist verantwortlicher Redakteur des medico-Rundschreibens und vertritt medico im politischen Berlin.

Twitter: @neumann_aktuell


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