Jerusalem

Leben am Siedepunkt

02.08.2017   Lesezeit: 12 min

Die Eskalation um Metalldetektoren am Felsendom erklärt sich nur aus der Geschichte der Auseinandersetzung um Jerusalem.

Seit drei junge palästinensische Staatsbürger Israels in der Jerusalemer Altstadt zwei israelische Polizisten, die ebenso jung waren wie sie, töteten, hielten die Auseinandersetzungen um den für Jüdinnen und Muslime gleichermaßen bedeutsamen Hügel im Herzen Jerusalems an. Und sie  könnten jederzeit in eine weitere dramatische Eskalation führen. Die Ermordung zweier Polizisten und die sich anschließende Verfolgungsjagd mit Schusswechsel im Hof des Felsendoms und der Al-Aqsa-Moschee führten zu einer hochbrisanten Auseinandersetzung genau an dem Ort, an dem, wie jeden Freitag, auch am 14. Juli Tausende muslimischer Gläubiger beten wollten.

Viel Lärm um ein paar Detektoren?

Die Attentäter waren vom Haram al-Sharif/Tempelberg gekommen. Das Gelände wurde sofort geräumt und anschließend gesperrt. Weshalb sind die Reaktionen von palästinensischer Seite überhaupt so scharf, wenn die israelische Polizei nach einem Anschlag Metalldetektoren aufstellt?

Es erklärt sich nur aus der Geschichte der Auseinandersetzung um Jerusalem. Wer die Kontrolle besitzt, schreibt die Geschichte neu in einer Stadt, deren Status hoch umstritten ist. Laut UN-Teilungsplan von 1947 hätte sie als Corpus Separatum international verwaltet und Hauptstadt beider Staaten werden sollen. 1948 wurde ihr Westteil dem israelischen Staat einverleibt, dessen Status je nach Lesart eigentlich immer noch nicht wirklich geklärt ist. Der Ostteil wurde 1967 erobert und annektiert. Im palästinensischen Osten erinnert man sich noch sehr wohl daran, dass nur eine Gasse an der Klagemauer vorbeiführte und dass der Platz davor erst unmittelbar nach dem Krieg von 1967 geschaffen wurde. Damals wurde ohne langes Federlesen das gesamte Mughrabi-Viertel abgerissen und seine Bewohner_innen vertrieben, um jüdischen Besucher_innen und Gläubigen vor der Klagemauer Platz zu machen

In einer Stadt, in der die Behörden arabischen Einwohner_innen immer wieder das Residenzrecht aberkennen und wo der städtische Haushalt klar diskriminierend verteilt wird, bildet der große Vorplatz vor der Al Aqsa-Moschee und dem Felsendom eine Insel, deren Inneres zumindest nicht permanent von israelischen Sicherheitskräften kontrolliert wird. Hier begegnen sich Menschen und führen Gespräche. Sie kommen nicht nur zum Beten. Außerdem ist der Haram al-Sharif für Palästinenser_innen ein Nationalsymbol. Alles, was darauf hindeutet, dass Israel den Zugang dazu weiter einschränken könnte, mobilisiert überkonfessionellen gesamtpalästinensischen Protest, nicht nur muslimischen.

Seit 1967 wird eine fragile Konstellation aufrechterhalten, in der Juden und Jüdinnen das Gebet auf dem Tempelberg nicht gestattet ist und die Verwaltung des abgegrenzten Areals dem jordanischen Waqf übertragen ist, einer islamischen Stiftung.

An dieser Stätte wäre eine extrem sensible Reaktion – selbst auf einen Anschlag – wichtig gewesen, um nicht noch mehr Gewalt zu erzeugen. Netanjahu war 1996 Premierminister, als die Ausweitung und Eröffnung der Tunnel von der Klagemauer unter den Haram al-Sharif und bis weit unter das muslimische Viertel der Altstadt zu Ausschreitungen und Protesten führten, die mit über 70 Toten und mehr als 1.000 Verletzten endeten. Die katastrophalen Folgen von Ariel Sharons Besuch dort am 28. September 2000 wirken bis heute nach. Die besondere emotionale und politische Sprengkraft, die seit Jahrzehnten jede Auseinandersetzung um diesen Ort kennzeichnet, findet ihren Ausdruck nicht nur in der verabscheuungswürdigen Bluttat von Halamish, wo ein junger Palästinenser drei Menschen in einer Westbank-Siedlung ermordet hat, sondern auch in der Reaktion des israelischen Ministers für regionale Zusammenarbeit Tzachi Hanegbi darauf. Er gilt als enger Vertrauter Netanjahus und mahnte die Palästinenser_innen, sich der Jahre 1948 und 1967 zu erinnern: „So beginnt eine Nakba. Genau so. […] Wenn ihr es alles beenden wollt, wird es schon vorüber sein. Das wird schon nach der dritten Nakba sein. […] Ihr seid gewarnt worden!“

Netanyahu, der Getriebene

In den ersten 24 Stunden nach dem Anschlag schienen sich Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas und der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu darum zu bemühen, die Lage nicht weiter eskalieren zu lassen. Abbas rief in Israel an und verurteilte den Anschlag. Netanjahu schien die Reaktion auf das Attentat abstimmen zu wollen. Die Angreifer waren tot, die akute Bedrohung beseitigt.

Was dann geschah, zeigt einmal mehr, dass der weitere Verlauf nach solchen einschneidenden Ereignissen nicht nur von Sicherheitserwägungen geprägt ist, sondern – übrigens nicht nur in Israel – von innenpolitischen Dynamiken. Im Fall der rechtsgerichteten israelischen Regierung heißt dies, von der längst klar zutage getretenen Rivalität unter Koalitionspartnern (und von dem Druck, unter dem Netanjahu auf Grund gleich mehrerer Ermittlungen wegen Korruptionsverdacht steht). Einer der Hauptgründe für die weitere Eskalation war der rasche Richtungswechsel Netanjahus in seiner Reaktion auf den Anschlag.

Sicherheitsexperten von Armee und Inlandsgeheimdienst warnten, dass die Installation von Metalldetektoren an den Eingängen zum vielleicht neuralgischsten Punkt des israelisch-palästinensischen Konflikts als Veränderung des Status quo auf dem Haram al-Sharif/Tempelberg gewertet würde und zu massiven Unruhen führen könnte. Der Zugewinn an Sicherheit durch die Detektoren sei im Vergleich zu der zu erwartenden Gewalt und daraus resultierenden Unsicherheit nichtig, weshalb die Experten davon abrieten, auf die Maßnahme zu bestehen. Das stieß im Sicherheitskabinett auf taube Ohren. Netanjahu, der sich anfangs noch um Abstimmung mit Abbas bemüht hatte, schwenkte auf die Linie der Rechtsextremen in seiner Koalition ein und zeigte damit, dass er ihnen in der Bereitschaft, die „notwendige“ Härte zu zeigen, in nichts nachstünde.

Und wieder die Politik der harten Hand

Polizei- und Armeeeinheiten gingen gegen eine der größten Aktionen zivilen Ungehorsams der letzten Jahre mit der befürchteten Härte vor. Vier palästinensische Demonstranten starben. Es ist fraglich, ob je geklärt werden wird, ob diese Tötungen ebenfalls Morde (wie beispielsweise die in Beitunya am 15. Mai 2014) bzw. extralegale Hinrichtungen waren oder ob die Schützen angesichts von Gefahr oder Not verhältnismäßig reagierten. Hunderte erlitten Verletzungen, und die Polizei zerrte sogar Verletzte aus der Notaufnahme des arabischen Al Makassed-Krankenhauses.

Einem dreifachen Mord in der Westbank-Siedlung Halamish fielen ein Vater und seine zwei erwachsenen Kinder zum Opfer. Die Mutter überlebte verletzt. Der Täter kam aus dem benachbarten palästinensischen Dorf Kobar. Er hatte auf Facebook als Grund für seinen wahnsinnigen Entschluss die Geschehnisse in Jerusalem angegeben und dass er für die Al Aqsa-Moschee sterben werde.

Dabei ist das Eskalationsmuster immer das gleiche. Gegen die Gewalt von Einzelnen steht die Gewalt des Apparates – einschließlich der üblichen Kollektivstrafen wie der tagelangen Abriegelung ganzer Viertel und Ortschaften und dem Abriss der Häuser der Familien der oft sowieso schon getöteten Attentäter_innen.

Mehr als das, die Angehörigen von Attentäter_innen und ihr Umfeld sind in den meisten Fällen über deren Taten so fassungslos wie der Sicherheitsapparat überrascht ist, der nicht vorhersehen kann, welcher Mensch eines Tages mit einem Messer losgeht oder sein Auto in eine Personengruppe steuert, um andere zu töten. Denn zumeist sind die Attentäter zuvor nie auffällig geworden, gehörten keiner extremistischen Gruppe an oder äußerten sich im Internet nicht entsprechend. Den meisten fehlt der terroristische Hintergrund in der Vorgeschichte.

Freunde und Familien betrauern die Attentäter_innen. Die israelischen Kollektivstrafen gegen sie verhindern zugleich Empathie mit den Opfern des Anschlags, sondern säen weiteren Hass und mehr Verzweiflung. Für die Betroffenen ist der Hass vielleicht auch eine unmittelbar wirksame bittere Medizin gegen das Gefühl, dass man nicht hat kommen sehen, was der Mensch vorhatte, dem man sich so nahe glaubte.

Suizid als Akt des politischen Widerstands?

Das Problem geht jedoch tiefer: In der palästinensischen Gesellschaft werden fast ausnahmslos alle, die durch israelische Sicherheitskräfte getötet wurden, als Märtyrer_innen glorifiziert – und zwar unabhängig von ihren eigentlichen Motiven. Das heißt, jeder Tod wird im öffentlichen Raum in den Dienst des Widerstandes gegen die Besatzung gestellt. Es wird geflissentlich ausgeblendet, dass der Gang zum Checkpoint mit einem Messer oder einer Schere für Palästinenser_innen zu einer relativ zuverlässigen Methode geworden ist, sich das Leben zu nehmen, weil alle wissen, dass selbst vermeintliche Angreifer oft erschossen werden, auch in Fällen, in denen Sicherheitsgründe dies nicht unbedingt diktieren.

Der Fall von Siham Ratib Nimr, einer 49jährigen Palästinenserin aus Ost-Jerusalem, mag das illustrieren. Sie wurde am 29. März 2017 erschossen, nachdem sie, mit einer Schere bewaffnet, Sicherheitskräfte am Damaskustor angegriffen hatte. Ihr Sohn Mustafa war im November 2016 erschossen worden, als die Polizei das Feuer auf das Auto seines Cousins eröffnete, weil sie einen Anschlag vermutete: Der war mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren. Siham Ratib Nimrs Sohn wurde als Beifahrer von zwei Kugeln getroffen und starb. In den Wochen darauf wurden auch ihr Mann und ihre Tochter vorübergehend in Gewahrsam genommen und verhört. Aus ihrem Umfeld hieß es laut Medienberichten, sie sei depressiv gewesen. Das ist nur ein Fall, in dem in Frage gestellt werden muss, dass ihr Angriff ein Akt politischen Widerstands war. Zwar hat die Besatzung mit ihrer Tragödie zu tun, aber wer die Zeitungsartikel über diesen Fall gelesen hat, muss sich fragen, ob da nicht eher eine trauernde Mutter und seelisch zerrüttete Frau ihrem Leben ein Ende setzen wollte.

Instrumentalisierung der Opfer und politische Führungslosigkeit

Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die bei (vermeintlichen) Angriffen dasselbe Schicksal erlitten haben, werden in palästinensischen Medien und von Politiker_innen gleichermaßen als Heldinnen und Helden glorifiziert, aber auch von ihrem Umfeld, Verwandten, Freunden, der Gemeinschaft. In einer Gesellschaft, in der Suizid nach wie vor mit einem Tabu belegt ist und in der es genügend soziale, religiöse und finanzielle Probleme gibt, die Menschen in den Tod treiben können und die nicht oder nicht vollständig der israelischen Besatzung anzulasten sind, bietet der Selbstmord mithilfe der Besatzungstruppen einen verstörenden Ausweg: Der Suizid in dieser Form – selbst wenn er aus rein persönlichen Gründen geschieht – wird nicht nur sozial akzeptabel, sondern garantiert posthum einen vorübergehenden Ruhm, während ein gewöhnlicher Selbstmörder im Gegensatz eher noch das Ansehen der Familie befleckt hätte. Der Diskurs des Todes als ehrenhaft, wenn er nur durch israelische bewaffnete Kräfte verursacht wurde, zu dem auch das Verschweigen oder Ignorieren anderer Ursachen gehört, belegt keinen Todeskult, sondern zeigt, in welcher Sackgasse sich die palästinensische Gesellschaft befindet. Weiter deutet er auf die politische Führungslosigkeit des tatsächlich notwendigen Widerstands gegen die Besatzung hin.

Mahmoud Abbas, der aus guten Gründen immer weniger Rückhalt in der eigenen Bevölkerung genießt, hat versucht, sich die jüngste Eskalation zunutze zu machen. Für Freitag, den 27. Juli, hatte die Palästinensische Autonomiebehörde angekündigt, auch Protestmärsche auf Checkpoints zuzulassen – etwas, das die palästinensische Polizei ansonsten gewalttätig verhindert. Scheinbar war also auch die ansonsten reibungslos funktionierende Koordination zwischen palästinensischen und israelischen Sicherheitskräften vorübergehend eingeschränkt worden. Das war aber, bevor Israel den Status quo auf dem Haram al-Sharif wiederhergestellt hat.

Abbas stört sich sonst nicht daran, wenn sein Apparat gegen protestierende Palästinenser_innen vorgeht und kritische Stimmen unterdrückt. In der Auseinandersetzung mit politischen Gegnern schrecken seine Dienste vor willkürlichen Verhaftungen und Folter nicht zurück. Im Machtkampf mit der Hamas hat Abbas jüngst knapp 2 Mio. Menschen im Gazastreifen zu seinem Spielball reduziert, indem er sich der Verantwortung für sie ebenso entzieht, wie es Israel als Besatzungsmacht tut – vom Desinteresse der Hamas, sich um die eigene Bevölkerung zu kümmern, ganz zu schweigen. Das überzeugt die palästinensische Straße weder von Abbas und seiner Fatah noch von Ismail Haniyah und der Hamas.

Sterile Ringe

Ein Kollege des medico-Partners Palestinian Medical Relief Society (PMRS) lebt in der Nähe des Löwentores, im Auge des jüngsten Sturms. Er erzählte, wie israelische Sicherheitskräfte Ringe um die Altstadt gelegt hatten, um die großen Gruppen Protestierender in kleinere zu zersplittern. Zwischen den Ringen, in denen die Palästinenser_innen festgesetzt waren, gab es „sterile Ringe“, in denen nur Sicherheitskräfte standen. Er erzählte von Bewohner_innen der Altstadt, die zwar Checkpoints nach draußen passieren durften, dann aber nicht mehr in die Altstadt zurück gelassen wurden, obwohl sie da wohnen. Sie mussten sich anders behelfen, indem sie bei Verwandten und Freunden unterkamen.

Als dieser Kollege den Müll raustragen wollte, fand er sich von vier Polizisten umringt, die ihn mit Sturmgewehren bedrohten und ihm verbieten wollten, überhaupt das Haus zu verlassen, obwohl es offiziell keine Ausgangssperre gab. Als er auf seine vier Plastiktüten voll Müll zeigte, eskortierten sie ihn zur 10 Meter entfernten Mülltonne und wieder zurück zur Haustür. Die letzten Tage waren für ihn und seine Familie schwer zu ertragen, obwohl er viel gesehen und ausgehalten hat, die erste und zweite Intifada, in jüngerer Zeit die Unruhen im Sommer 2014 nach der Ermordung Mohammed Abu Khdeirs und während des Gaza-Krieges sowie die monatelange Verschärfung der Sicherheitslage ab Herbst 2015. Jetzt hofft er auf die Rückkehr zur Routine der Besatzung, zum gewohnten „Normalmaß der Schikane“.

Die Schwesterorganisation der PMRS, die Medical Relief Society Jerusalem, ebenfalls ein medico-Partner, bildet seit Jahren Ersthelfer_innen aus, auch im Ostteil Jerusalems und seiner Peripherie. Ihre Freiwilligen versorgten auch bei diesen Protesten Verletzte. Sie berichteten von Übergriffen gegen Journalist_innen und medizinisches Personal, das klar als solches kenntlich war.

Lichtblick?

Schließlich entschied die israelische Regierung, die Metalldetektoren an den Zugängen zum großen Platz des Felsendoms und der Al Aqsa-Moschee wieder abzubauen und lässt  auch vom Plan ab, Kameras mit Software zur Gesichtserkennung zu installieren. Von israelischer Seite war das als Kompromiss statt der Detektoren präsentiert worden, von palästinensischer Seite wegen der möglichen stärkeren sicherheitsdienstlichen Überwachung und Erfassung von Daten als noch schlimmer empfunden worden.

Immerhin hat sich das israelische Sicherheitskabinett doch noch zu einem deeskalierenden Schritt durchgerungen – allerdings wurden die Fehlentscheidungen erst dann revidiert, als schon von beiden Seiten ein hoher Blutzoll entrichtet worden war.

Die erste positive Lehre aus den Ereignissen in Ost-Jerusalem ist, dass sich Palästinenser_innen auch 50 Jahre nach 1967 und fast 70 Jahre nach der Staatsgründung Israels für ihre Rechte erheben werden, wenn das mobilisierende und einende Moment stark genug ist. Dann funktioniert auch die Organisation und gegenseitige Unterstützung. Die zweite wichtige Lektion ist, dass sie dies auch bei Massenprotesten mehrheitlich friedlich und erfolgreich tun können.

Riad Othman

Riad Othman arbeitet seit 2016 als Nahostreferent für medico international von Berlin aus. Davor war er medico-Büroleiter für Israel und Palästina.

Twitter: @othman_riad


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