Gewaltsam vertrieben

Mexikos Herbst der Migration

24.10.2018   Lesezeit: 8 min

Der Exodus aus Honduras wird angetrieben von einer Gewalt, die die Ausmaße eines Krieges angenommen hat. Eine weitere Karawane ist unterwegs.

Die jüngste Karawane mittelamerikanischer Migrant*innen, la #CaravanaMigrante, die sich ihren Weg auf mexikanisches Territorium erkämpft haben, sorgt seit Tagen international für Schlagzeilen.

Unzählige sind es gewesen die vergangene Woche vor der Grenze zu Mexiko ausharrten, um diese dann zu durchbrechen. Durch Guatemala gehetzt, haben sie zu tausenden ihre Heimat Honduras verlassen. Viele Guatemaltek*innen haben sich ihnen angeschlossen. Es sind wie immer viele junge Menschen die fliehen, aber auch ganze Familien, Kleinkinder. Vereinzelt sind Personen in Rollstühlen zu sehen. Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen teilte mit, dass vom 19. bis 20. Oktober 7.233 Personen registriert wurden, die nach der mexikanischen Grenzbrücke Rodolfo Robles über den Fluss Suchiate eine Regierungsstelle für Erstversorgung für Migrant*innen aufsuchten. Zwischen ihnen sollen sich zwischen zwei- und dreitausend Kinder und Jugendliche befinden.

Es ist nicht das erste Mal, dass die Karawane, noch dazu im gleichen Zeitraum, marschiert. Doch die Jahre davor war es stets eine Menge zwischen 120-200 Personen. Die Karawane zog am 13. Oktober von San Pedro Sula, Honduras, mit knapp anderthalb tausend Menschen los. Am 15. Oktober passierten sie die Grenze zu Guatemala, angewachsen auf über 3.500. Am 19. Oktober waren es noch mehr, die es bis zur mexikanischen Grenze schafften, von denen über siebentausend diese hinter sich ließen. Nun heißt es, am vergangenen Wochenende soll sich aus Honduras eine weitere, zweitausend Personen starke Gruppe auf den Weg gemacht haben.

Wer als organisatorische Kraft dahinter steckt ist ungewiss. Zuweilen heißt es, es soll über Mund-zu-Mund Propaganda erfolgt sein oder über die sozialen Medien wie Facebook und WhatsApp. Die honduranische Regierung hegt derweil einen Verdacht und leitete die Tage ein Verfahren gegen den honduranischen Journalisten und sozialen Aktivisten Bartolo Fuentes ein, der ebenso hinter den Mobilisierungen der letzten Jahre stecken soll. Zuvor wurde Fuentes in Guatemala festgenommen und an das Nachbarland ausgeliefert. Er selbst wiederum bestreitet dafür verantwortlich zu sein.

Gewaltsam vertrieben

Mexikanische Organisationen wie Ustedes somos nosotros, die sich seit Jahren für die Belange von Migrant*innen einsetzen, schreiben, dass es für sie „etwas noch nie Dagewesenes“ ist, dass „tausende Personen verzweifelt versuchen, Mexiko zu betreten um Schutz zu suchen.“ Sie sehen die Gründe der Migration im gewalttätigen Kontext, dem die honduranische, salvadorianische und guatemaltekische Bevölkerung ausgesetzt ist. Was hier passiert, sei eine gewaltsame Vertreibung. Sie fliehen vor der Gewalt, deren Ausmaße schon lange nicht mehr einem Ausdruck in Zahlen gerecht werden. Das so genannte Triángulo Norte, das Länderdreieck zwischen Guatemala, Honduras und El Salvador, ist seit Langem die Region, die weltweit die höchsten Mordraten aufweist unter den Ländern, die sich nicht im Krieg befinden. Es sind Mordraten, die zehnmal über dem Niveau liegen, das die Weltgesundheitsorganisation (WHO) als „epidemisch“ bezeichnet.

Es ist eine Gewalt, die von den vielen organisierten kriminellen Strukturen ausgeht, die sich im Zuge massiver Abschiebungen aus den USA in den 1990ern und 2000ern derart haben verfestigen können. Eine Gewalt, die durch den Putsch in Honduras im Jahr 2009 weiter angefacht wurde. Die Menschen fliehen aber auch angesichts der Hoffnungslosigkeit keine Zukunft, keinen Platz in diesem Land, in dieser Geschichte, in ihren Leben zu haben. In Guatemala lebt fast 60, in Honduras über 60 Prozent der Bevölkerung in Armut. Seit einer kleinen Ewigkeit entspringt die Haupteinnahmequelle aller drei Länder nicht einer nationalen Industrie oder einem kaufkräftigen Binnenmarkt, sondern setzt sich aus den Rücküberweisungen der Migrant*innen in den USA zusammen.

Zwischen Schnappatmung und Solidarität

Zu Tausenden sind sie an die Grenze gekommen, hinter ihnen der honduranische Abgrund, vor ihnen die mexikanische Hölle. Denn auch Mexiko befindet sich seit Ende 2006 in einem Alptraum, als von Regierungsseite mehrere Militäroffensiven gegen das organisierte Verbrechen gestartet wurden und dadurch Land und Gesellschaft in ein Chaos gestürzt wurden – über 250.000 Morde und fast 40.000 Vermisste ist die offizielle Bilanz der direkten Opfer. Die Zahl der Migrant*innen, die durch Mexiko reisten und nie wieder auftauchen, übersteigt die 100.000, wahrscheinlich sind es deutlich mehr. „Mit dem Krieg gegen die Drogenkartelle ist die Migration dem organisierten Verbrechen übergeben worden“, teilte uns im Frühjahr 2017 die mexikanische medico-Partnerin Marta Sánchez Soler vom Netzwerk Movimiento Migrante Mesoamericano (M3) mit. Das M3 begleitet die derzeitige Karawane auf mexikanischem Territorium und ruft die Bevölkerung zu Sachspenden und solidarischer Unterstützung auf.

Trump explodierte, forderte die Grenze dicht zu machen, oder er, der eitle Präsident, werde die US-mexikanische Grenze schließen, die über zweitausend Kilometer entfernt ist. Mexikanische Bundespolizist*innen rückten daraufhin an, verstärkten die geschlossene Grenze. Die mexikanische Polizei sagte, dass die Menschen plötzlich anfingen die Zäune einzureißen, die Tore zu öffnen. In den vordersten Reihen auch schwangere Frauen und Kleinkinder, von organisierten Strukturen angeordnet. Wer schießt schon Tränengas auf Kinder? Passiert ist es dennoch.

Es ist eine Blamage für die mexikanischen Behörden und Politiker*innen, dass sie derart reagieren. Sie stehen aber auch mit dem Rücken an der Wand - "so fern von Gott, so nah an den USA", sagte schon der Diktator Porfirio Díaz vor mehr als einem Jahrhundert. Am Montagmorgen, den 22. Oktober, kündigte Twitter-Teufel Trump an, dass er seine Auslandshilfe für Guatemala, Honduras und El Salvador „substanziell kürzen“ werde. In einem weiteren Tweet rief er einen „nationalen Notfall“ aus, da die mexikanischen Sicherheitskräfte ebenfalls „unfähig“ seien, die Karawane zu stoppen, bei der „Kriminelle und unbekannte Mittlere Östler“, so sein abfälliger Neologismus, mitlaufen würden. Würde er den Schießbefehl erteilen, sollte die Karawane es bis gen Norden schaffen?

Und während sich in den mexikanischen Socialmedia-Netzwerken eine Unzahl von Usern ablehnend gegenüber den Migrant*innen zeigt, nicht selten in einer allseits bekannten rassistischen Manier, zeigt die Realität auf der Straße Gegenteiliges. Auf ihrem Weg durch das Dorf Metapa de Domínguez erwartete die Geflüchteten die lokale Blaskapelle mit musikalischer Unterstützung. In der chiapanekischen Ortschaft Ciudad Hidalgo, nur fünf Kilometer vom Grenzfluss Suchiate entfernt und erste urbane Anlaufstelle der vielen Ankommenden, erteilten manche der Bewohner*innen eine einfache Lehrstunde in Menschlichkeit und folgten dem Beispiel, das bereits die guatemaltekischen Nachbar*innen an den Tag legten. In Servietten eingewickelte Brötchen, die geläufig als tortas durchgehen, und in Plastikbeuteln abgefülltes Wasser, das mit dem Blütenextrakt der Jamaica-Pflanze angereichert wird, werden an die Durstigen und Hungrigen kostenlos ausgeteilt. Diese und weitere Gesten der Solidarität könnten beeindruckender kaum sein. Denn diese Menschen geben nicht das ab, was sie zu viel haben; sie geben etwas ab, obwohl es ihnen danach an etwas mangeln wird. Eine Haltung, die Bescheidenheit ausdrückt. Eine Haltung, die in Zeiten wie dieser eine politische Sprengkraft verkörpert.

Es ist keineswegs lediglich eine Solidarität von einer Gruppe gegenüber einer anderen, sondern diese stellt sich auch untereinander ein: diejenigen, die die Grenze zuerst überquert hatten und in Ciudad Hidalgo unterkamen, trafen ein Abkommen mit denen, die noch auf der guatemaltekischen Seite ausharrten. Sie würden auf die anderen warten, um die weitere Reise gemeinsam zu gehen. Niemand sucht hier das eigene individuelle Glück. Es ist eine gewaltsame Vertreibung, die nur kollektiv überlebt und gemeistert werden kann. Wer hat das Recht, ihre Entscheidung zu Gehen anzuprangern? Wer muss für welche Handlung um Verzeihung bitten und wer darf verzeihen?

Genau deswegen sollte - müsste - diesen Menschen der Status als Kriegsflüchtlinge zuerkannt werden. Dafür müsste sich jedoch auch darüber ausgetauscht werden, welche Formen Krieg im 21. Jahrhundert annehmen kann. Die mittelamerikanische als auch mexikanische kriegerische Gewalt zeichnet sich schon längst durch ein undurchschaubares diffuses Etwas aus, was diese Gesellschaften steuert und sie langsam aber stetig zersetzt.

Das, was kommt.

Die Aufmerksamkeit für Trump verdrängt die aktive Rolle, die Mexiko selbst in der Bekämpfung der Migration spielt. Seit zwei Jahren werden mehr Menschen von Mexiko nach Zentralamerika abgeschoben als aus den USA. Zurückzuführen ist diese Entwicklung auf das 2014 in Kraft getretene, von den USA mit angeschobene Programm „Frontera Sur“. Grenzkontrollen werden ins mexikanische Inland verlagert, um die Migrant*innen effektiver aufzugreifen und weit vor der US-mexikanischen Grenze aufzuhalten. Die USA hat damit die Grenze in Richtung Süden verschoben – eine Strategie, die aus Europa hinlänglich bekannt ist.

Die neue mexikanische Regierung, die ab dem 1.12.2018 antreten wird, wird den „Plan Frontera Sur“ intensivieren, ausbauen, verfeinern. Die jüngsten Ereignisse haben dem Nachdruck verliehen. Aus der mittelamerikanischen Erfahrung in Mexiko weiß man aber auch: es werden stets neue Wege gewählt und gefunden, gefährlichere Wege, Wege die noch abgelegener, vom Blick der Zivilgesellschaft noch unbekannter, gegenüber dem Zugriff der organisierten Kriminalität noch exponierter sind. „Dadurch werden sie noch unsichtbarer“, schlussfolgert Marta Sánchez vom M3.

Zurzeit organisieren die medico-Partner die seit 14 Jahren in Mexiko stattfindende Karawane der Mütter verschwundener Migrant*innen, die ihren Abschluss auf dem diesjährigen Weltsozialforum für Migration in Mexiko-Stadt vom 2.-4. November halten wird. Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass am Mittwoch, den 23. Oktober, die Mütter aus Mittelamerika, die ihre Kinder in den mexikanischen Abgründen suchen, sich an ihre jüngst geflohenen Landsleute wenden. „Wir Migranten sind keine Kriminelle, wir sind internationale Arbeiter“, ruft eine von ihnen einer applaudierenden Menge entgegen.

Die Bilder dieser Tage ähneln denen aus Europa, als die Grenzen hier dicht gemacht wurden und die Menschen, in all ihrer Verzweiflung, dagegen vorgingen. Deren Marsch erinnert an den March of Hope im Sommer vor drei Jahren, dem europäischen Sommer der Migration. Vor wenigen Tagen, am 19. Oktober 2018, begann Mexikos Herbst der Migration.

Timo Dorsch (Foto: medico)

Timo Dorsch ist medico-Pressereferent und für die Öffentlichkeitsarbeit zu Südamerika zuständig. 

Twitter: @TiD00r


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