Nepal ist eines der ärmsten Länder der Welt. Das sagt aber nichts über das Selbstbewusstsein der Nepalesen aus. 250 Jahre lang existiert das Land unabhängig und 2006 stürzten die Bewohnerinnen und Bewohner ihre Monarchie, beendeten den Bürgerkrieg und schufen sich ein neues Wappen, das Gleichheit der Geschlechter symbolisiert und den im Grunde säkularen Spruch trägt: „Die Mutter und das Mutterland sind größer als der Himmel.“
Bei der Berichterstattung über Nepal nach dem Erdbeben kommt diese Geschichte häufig nicht vor. Internationale Medien kritisieren die Regierung, verweisen auf die verpassten Chancen der vergangenen Jahre, sich auf eine solche Katastrophe vorzubereiten. Und machen die Regierung verantwortlich dafür, dass die Hilfe nicht schnell genug die Betroffenen erreicht. All diese Kritik hat ihre Berechtigung, stimmt aber bei genauerem Hinsehen nur halb. Denn die sozialen Probleme, die die im Zuge der Globalisierung ausgelösten Verstädterungsprozesse in Nepal wie in vielen anderen asiatischen Ländern einem ökonomischen Hurrikan gleich ausgelöst haben, machen eine kluge Erdbebenprävention fast unmöglich.
Der Großraum Kathmandu ist in den vergangen Jahrzehnten um das zehnfache gewachsen. Im Nachbarland Bangladesch hat die Zahl der Haupstadtbewohner in Dhaka ebenfalls in dieser Größenordnung zugenommen. In der Hilfsszene ist seit Jahren klar, dass ein Erdbeben in Dhaka eines der schlimmsten Horrorszenarien wäre und ähnlich verheerend sein könnte wie in Port-au-Prince in Haiti, 2010. Weder Internationale Hilfe noch lokale Strukturen sind in Wahrheit in der Lage, die durch globale ökonomische Zwänge ausgelösten Urbanisierungsprozesse zu steuern und für die Sicherheit der Menschen zu sorgen.
Standby-Narrativ: Die effektive Hilfe von außen
Insofern ist diese mediale Kritik wohlfeil. Ja schlimmer noch, sie gehört zu dem medialen Setting, in dem Hilfe von außen als die einzige Möglichkeit dargestellt wird, den notleidenden Menschen zu helfen. Der US-amerikanische Journalist Jonathan M. Katz nannte das vorgestern in der New York Times ein „altes Standby-Narrativ“, das in jeder Katastrophe wieder sozusagen per Fernbedingung angeschaltet wird. Jetzt also auch in Nepal. Diese Art der Katastrophenerzählung hat fatale Folgen.
In dem Maße wie lokale Strukturen medial entmachtet werden, gilt der Helfer von außen als Sinnbild wider die Ohnmacht. Wenn er nicht durchkommt wie jetzt in Nepal, wird über noch effizientere Hilfe von außen diskutiert, statt darüber zu sprechen, wie die lokalen Strukturen für die nächste Katastrophe ermächtigt werden können.
Die deutsche Hundestaffel kann nicht helfen
Als Zuschauerinnen und Zuschauer erfahren wir, dass die deutsche Hundestaffel nicht mehr helfen konnte. Wir erfahren nicht, dass es besser wäre, in einem Land wie Nepal Hundestaffeln vor Ort zu haben. Ja, wir erfahren nicht einmal, wie viele Menschen aus den Trümmern von möglicherweise existierenden einheimischen Hundestaffeln gerettet wurden.
Katz schreibt auch dazu aus seiner Haiti-Erfahrung in der Times: „Unser (der Medien) Fokus auf organisierte Hilfsmaßnahmen war falsch. Die andauernde Berichterstattung in den Medien und die gut finanzierten, spezialisierten Rettungsteams erweckten den Eindruck bei vielen Zuschauern, dass eine große Zahl von Menschen durch Helfer von außen gerettet wurde.“ Tatsächlich seien in Haiti 211 Personen durch diese Maßnahmen gerettet worden gegenüber hunderttausenden Verschütteten, die nicht überlebten.
Lernprozesse nach dem Versagen der Hilfe in Haiti
Die mediale Darstellung einer scheinbar sinnvollen, aber in Wahrheit doch oft fragwürdigen Hilfe hat langfristige Folgen. Denn eine sinnvolle Hilfe zur Stärkung lokaler Strukturen, die mit den vielen Spenden und öffentlichen Geldern aus der Katastrophe dazu befähigt werden könnten, den eigenen Katastrophenschutz zu verbessern, gerät ins Hintertreffen. Sowohl bei den Spenderinnen und Spendern als auch bei den Medien.
Aber ich vertraue auf die Lernprozesse. Haiti war ein Beispiel für das Versagen der Hilfe und der Medien. Und der Artikel von Katz verweist darauf, dass das auch in den Medien wahrgenommen wird. Während die eine deutsche Hundestaffel sinnloserweise nach Nepal aufbrach ist eine andere daheim geblieben. Nämlich die vom Deutschen Technischen Hilfswerk. Das THW verzichtete auf eine mediale Präsenz, die ihm sicher gewesen wäre, weil der Einsatz nicht sinnvoll erschien.
Hoffen wir, dass das nächste Mal auch die Leute in den Medien zu Wort kommen, die tatsächlich die erste Hilfe leisten: die lokalen Akteure. Und wenn der Leiter der nepalesischen Katastrophenschutzbehörde davor warnt, dass sein Land „zur Müllkippe für Hilfsgüter und Teams“ werden könnte, dann ist das auch ein Lernschritt. Denn auch die örtlichen Kräfte haben das Beispiel Haiti vor Augen, wo komplett an Institutionen und Regierung vorbei in Parallelstrukturen gehandelt wurde. Das wollen die Nepalesen offenkundig nicht mit sich machen lassen.
An der Seite lokaler Akteure machen Hilfe und Solidarität Sinn
Sie haben guten Grund sich zu wehren. Denn wenn sie ihre Stimme jetzt nicht erheben, könnten die politischen und sozialen Folgen der Katastrophe noch verheerender sein als die Katastrophe selbst. So könnten Zukunftsszenarien aussehen: Nepals Auslandsverschuldung wächst, weil die zerstörte Infrastruktur nur durch neue Kredite wieder aufbauen werden kann. Damit einher geht die bekannte internationale Einflussnahme, das zu vermarkten, was Nepal besitzt.
Die Wasserreserven zum Beispiel, um die es jetzt schon Streit gibt. Große Unternehmen, auch deutschen Firmen, könnten sich einen neuer Investitionsmarkt erschließen mit der Errichtung riesiger Staudämme, die die mächtige Regionalmacht Indien mit Strom versorgen. Der verarmten Bevölkerung von Nepal, von denen 84 Prozent keinen Strom haben, wird das nicht viel nutzen. Ihnen bliebe, wie schon jetzt, die Migration oder das Warten auf die nächste Verheerung, der sie weiterhin schutzlos ausgeliefert sind.
An der Seite lokaler Akteure aber machen Hilfe und Solidarität Sinn. Hilfe zur Selbsthilfe ist ein Anfang für eine Rettung, die jenseits von Hilfe in globalen solidarischen Strukturen liegen könnte.
P.S. Die Erfahrungen aus der Haiti-Hilfe haben wir gemeinsam mit unseren haitianischen Partnerinnen und Partnern in dem 30-minütigen Film „Haitianische Erschütterungen“ festgehalten. Auch das ein Dokument des Lernens über Hilfe im Katastrophenfall.