Von Bernd Eichner
Nicht das Erdbeben tötet die Menschen, die Häuser tun es. Und der Zustand der Häuser sagt viel über die soziale Lage ihrer Bewohner. So hat das Erdbeben binnen weniger Minuten die tiefer liegenden gesellschaftlichen Probleme in Nepal zu Tage gefördert: Die Ursachen für die fast 9.000 Toten sind Armut und soziale Ungleichheit.
In der Hauptstadt Kathmandu sind die wahren Verheerungen des Bebens nur auf den zweiten Blick sichtbar. Mehr als neun von zehn Gebäuden sind nicht eingestürzt, was den Bildern widerspricht, die die mediale Darstellung vermittelt haben. Inmitten intakter Straßenzüge sollen sich die ausländischen TV-Teams in den vereinzelten Ruinenlücken gegenseitig auf die Füße getreten sein, spottet man vor Ort. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich das allumfassende Desaster in Kathmandu vor allem als Katastrophe der ärmeren Bevölkerungsschichten.
Anders als in ähnlichen Großstädten leben diese hier nicht in Wellblechhütten, sondern in maroden Mietshäusern. Nicht selten teilen sich mehrere Familien eine Wohnung von 40 Quadratmetern. Am stärksten betroffen von den Erschütterungen Ende April und Anfang Mai 2015 waren daher vor allem diejenigen, deren Leben auch ohne Naturgewalten vom Kampf ums Überleben geprägt ist. Mehr als 1.000 Menschen in der Landeshauptstadt haben die Profitgier von Vermietern und betrügerischen Bauunternehmern, die Zement mit Sand streckten, mit dem Leben bezahlt. Die Regierung hat reagiert und neue Bauvorschriften angekündigt. Gefälligkeitsgutachten und zu dichte Bebauung sollen der Vergangenheit angehören.
Das Dilemma der Arbeitsmigration
Aus Angst vor Seuchen und Nachbeben hatte ein großer Teil der Bewohner die Millionenstadt Kathmandu zwischenzeitlich verlassen. Doch relativ schnell ist das Leben in die Stadt zurückgekehrt. Strom, Wasser, Telefon und Internet funktionieren. Die Märkte und Touristenattraktionen sind geöffnet. Was bleibt, sind 50.000 beschädigte Gebäude und eine riesige psychologische Verunsicherung, die mit jedem Nachbeben neu befeuert wird. Noch immer leben Tausende, die ihr Zuhause verloren haben, in Zelten.
Dass der Wiederaufbau nur langsam in Gang kommt, liegt auch daran, dass nur 400 der rund 16.000 nepalesischen Ingenieure im Land leben. Wie viele Landsleute aus anderen Branchen arbeiten sie in Indien oder den Golfstaaten und halten mit Rücküberweisungen ihre Familien über Wasser. Knebelverträge verhindern, dass sie nach Hause fliegen können. In der aktuellen Situation zeigt sich die strukturelle Problematik der Arbeitsmigration: Kommen die Migranten zurück, fehlt das Geld für Wiederaufbau und Entwicklung. Bleiben sie in den Golfstaaten, mangelt es vor Ort an Wissen und Tatkraft.
Angesichts der Nachbeben ziehen die meisten Patientinnen und Patienten auch in den Hospitälern des medico-Partners Public Health Concern Trust (PHECT) noch immer ein Bett im überfüllten Flur des Erdgeschosses einem in den oberen Stockwerken vor. Dr. Ganesh Dangal erzählt, wie er gerade im Operationssaal stand, als die Erde wieder zu beben begann. „Alles schwankte. Doch was sollten wir tun? Unsere Patientin war betäubt und die OP in vollem Gange. Also entschieden wir uns zu bleiben. Am Ende ging alles gut.“ Die Erleichterung und auch ein bisschen Stolz sind Dr. Dangal anzusehen.
Seinen guten Ruf verdankt PHECT auch historisch dem Mut seiner Ärzte und Krankenpfleger. Als Teil der Demokratiebewegung der 1990er Jahre versorgten sie damals eine Vielzahl von verletzten Demonstranten unter schwierigen Bedingungen. Nach dem Erdbeben kümmerte sich PHECT um fast 1.000 Verletzte. medico hatte umgehend Mittel für die Einrichtung eines weiteren Operationssaals bereitgestellt. In den Kliniken wird nun die Nachsorge sichergestellt und Patienten werden versorgt, die zunächst nur mit Notoperationen behandelt werden konnten.
Ende des politischen Stillstandes?
Während sich in der Hauptstadt die Lage entspannt, steht in den ländlichen Regionen rund um das Epizentrum die größte Herausforderung noch bevor: der Monsun mit starkem Regen und Erdrutschen. In den Distrikten um Gorkha und Sindhupalchowk finden sich die meisten der 500.000 Gebäude, die landesweit zerstört wurden.
Betroffen sind auch hier in erster Linie diejenigen, die sich stabile Fundamente und Materialien wie Zement oder Stahlbeton nicht leisten konnten, zumeist arme Bauern. Zwar reicht die Landwirtschaft zum Überleben, die Häuser aber bestehen oft nur aus aufgestapelten, notdürftig mit Lehm verputzten Steinmauern. Den Naturgewalten haben diese Unterkünfte nur wenig entgegenzusetzen. Alles eine Frage der Mittel. In der kleinen Stadt Mucchok thronen gegenüber den zahlreichen Ruinen gänzlich unversehrte Gebäude mit reichverzierten Fassaden sowie die große Polizeistation.
„Wir versuchen aktuell so viel Wellblech wie möglich in die abgelegenen Dörfer zu bringen, solange sie noch erreichbar sind“, erklärt Dinesh Neupane, vom medico-Partner Nepal Development Society (NEDS). Mit dem reichlich vorhandenen Bambus können sich die Menschen daraus provisorische Unterkünfte und Schulen bauen, um die Wochen des Monsuns zu überbrücken.
Die Organisation wurde 2013 als Netzwerk von Studierenden aus dem Gesundheitswesen gegründet. Sie wollen ihre im Ausland erlernten Fähigkeiten im eigenen Land einsetzen und sind bisher hauptsächlich durch ihre kritische Forschung und Veröffentlichungen bekannt geworden, z.B. über die Gefährdung der Bauern durch großflächigen Pestizideinsatz. Schon kurz nach dem ersten Beben startete die Organisation mit Sitz in Pokhara Nothilfeaktionen in den betroffenen Regionen, als Eigeninitiative mit privatem Geld der Vorstandsmitglieder und vielen Freiwilligen.
Durch die Unterstützung von medico konnten sie diese ausweiten und mehr als 1.000 Plastikplanen, Hunderte Decken und rund 30 Tonnen Reis in abgelegene Gebiete bringen. Die größte Herausforderung war der Transport, erklärt Dinesh: „Die Wege sind extrem schlecht und Lastwagen waren nicht zu bekommen.“ NEDS improvisierte und behalf sich mit Lasteseln und gemieteten Bussen.
Politisch liegt das größte Problem in dem Mangel an demokratisch legitimierten Strukturen jenseits der Hauptstadt. Seit dem Ende des maoistischen Aufstandes und der Abschaffung der Hindumonarchie steckt der Prozess zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung fest, seit nunmehr sieben Jahren. Zwar gibt es eine gewählte Regierung und eine als Notparlament fungierende verfassunggebende Versammlung. Doch so lange es keine Verfassung gibt, können keine Kommunalwahlen durchgeführt werden. Dadurch werden die Verteilung von Hilfsgütern oder Entscheidungen über den Wiederaufbau von ernannten Bürokraten oder im Parteiengeklüngel verantwortet. Marginalisierte, wie Angehörige der nur formal abgeschafften unberührbaren Kasten, sind ausgeschlossen und beim Zugang zu Hilfe benachteiligt.
Starke Selbsthilfe
Jedoch hat die Kritik am staatlichen Krisenmanagement neue Bewegung erzeugt. Unter dem Druck der Bevölkerung und rechtzeitig vor einer internationalen Geberkonferenz setzten die vier größten Parteien ein Symbol der Handlungsfähigkeit und schlossen ein Abkommen über die Grundlinien der neuen föderalen Ordnung. Vieles aber bleibt ungeklärt.
NEDS versucht daher pragmatische Lösungen zu finden. Die Mitglieder kooperieren auf lokaler Ebene mit Regierungsinstitutionen, nutzen aber auch die Kontakte ihres Netzwerkes und selbstorganisierte Strukturen wie Müttergruppen und freiwillige Gesundheitsarbeiterinnen, die es in jedem Dorf gibt. Auch engagierte Einzelpersonen, oftmals Lehrer, sind wichtige Ansprechpersonen.
„Wir müssen im kleinen Maßstab verteilen, damit am Ende tatsächlich alle aus einem Dorf etwas bekommen“, sagt Dinesh. Bei der örtlichen Verwaltung stehe oft die höherkastige Verwandtschaft oben auf der Liste, so dass die Bedürftigen allzuoft leer ausgingen.
Die komplexen Sozial- und Machtstrukturen in Nepal sind Außenstehenden oft nicht geläufig. Das hat mitunter dazu geführt, dass gutgemeinte Verteilungen von Initiativen aus dem Ausland in Schlägereien endeten. Auch in Mucchok äußern Nepalesen Kritik an der internationalen Helferszene. Wegen der fehlenden Abstimmung mit den lokalen Behörden seien zunächst keine ausländischen Helfer und dann zu spät zu viele gleichzeitig vor Ort gewesen. Viele Nepalesen hat auch die Verwunderung der Internationalen gekränkt, dass bei deren Eintreffen die Toten längst begraben und die Verletzten mit Fahrzeugen aller Art ins Krankenhaus von Gorkha geschafft worden sind. „Was denken sie sich denn, dass wir nur herumsitzen und abwarten?“, sagt einer. Statt der vielen an- und abreisenden internationalen Ärzteteams hätte sich die Dorfgemeinschaft lieber einen in der Gemeinde stationierten Krankenwagen gewünscht.
Während in der deutschen Presse NGOs ausführlich über ihre Probleme am „Nadelöhr“ des Flughafens in Kathmandu berichten, werden hier Geschichten erzählt, die ein anderes Bild zeichnen: Dass die großen Maschinen der ausländischen Hilfsorganisationen und Militärs die Landebahn des zentralen Flughafens beschädigt haben, dass tonnenweise Bibeln aus den USA geliefert wurden oder Dosen mit zu Lammfleisch umetikettiertem Rindfleisch – ein Affront in einem überwiegend hinduistischen Land. Ein Elektronikkonzern ist bei dem Versuch, seine Waren als Hilfslieferung durchzuschleusen und dadurch Steuern zu sparen, an dem in den internationalen Medien gescholtenen Zoll gescheitert. Das standardisierte Vorgehen der globalen Hilfsmaschinerie stieß etwa auch dann auf Unverständnis, als in den bergigen Gebieten mit vielen Quellen Wasserflaschen verteilt wurden.
Angesichts solch technokratischer Ignoranz forderte die profilierte Frauenrechtlerin und Ernährungsexpertin Dr. Aruna Uprety, lokale Nahrungsmittel zu verteilen statt Fertignahrung zu importieren: „Es gibt genügend gesundes Essen in Nepal. Hilfsorganisationen könnten bei Bauern in vielen Landesteilen Kartoffeln, Linsen und Reis kaufen. Stattdessen müssen viele Überlebende immer noch Fertignudeln und Kekse essen. So landen wir in letzter Konsequenz noch in der Nahrungsabhängigkeit – wie im Sudan oder Haiti.“
Das Versagen der humanitären Hilfe
Bei allen Diskussionen über die Zukunft Nepals wird irgendwann Haiti erwähnt – als Schreckgespenst dafür, wie internationale Hilfe Abhängigkeiten verstärken und intakte lokale Strukturen zerstören kann. „Wir wollen nicht das nächste Haiti werden“, heißt es immer wieder.
Aufgrund der dortigen Erfahrung, bei der die Hilfsindustrie lokale Institutionen und die Regierung weitgehend umgangen haben, sind sich alle medico-Partner in Nepal einig: Keinesfalls sollten die UN und internationale NGOs Parallelstrukturen aufbauen. „Natürlich gibt es gute Gründe, auf die Regierung oder ihre Schwäche zu schimpfen. Aber wir leben hier nicht in einer Diktatur und wir haben starke Medien“, betont Aruna Uprety. Sie plädiert daher für eine „kritische Zusammenarbeit“ mit der Regierung.
Die in der internationalen NGO-Szene skeptisch betrachtete „One-Door-Policy“ wird daher in Nepal selbst eher verteidigt. Mit dieser will die Regierung erreichen, dass alle Hilfen, die ins Land kommen oder z.B. die Standorte neu gebauter Schulen, mit den zuständigen Behörden abgesprochen werden.
Eine Forderung an die eigene Regierung vertreten die medico-Partner jedoch vehement: Der Wiederaufbauprozess müsse transparent ablaufen und die Verantwortlichen müssten für Verfehlungen zur Rechenschaft gezogen werden können. Voraussetzung hierfür ist eine starke Zivilgesellschaft. Mehr Demokratie und Mitsprache von unten werde im System der humanitären Hilfe allerdings immer noch oft als lästiger Hemmschuh angesehen, kritisiert der Gesundheitsaktivist Tara Ballav. Als Programmkoordinator des medico-Partners Association of Youth Organizations Nepal (AYON) nimmt er regelmäßig an den Koordinierungstreffen der UN teil. „Die nepalesische Regierung hat zwar formal die Führung inne. Sie hat aber weit weniger Geld als die UN und auch keine Armada gut bezahlter Experten. Die großen internationalen NGOs vertreten meist ihre Eigeninteressen. Ohne ein großes Millionenprojekt interessiert sich keine von ihnen für deine Arbeit“, berichtet er frustriert.
Solidarische Nachbarschaftshilfen, die zahllosen Initiativen von nepalesischen Organisationen oder die #act4quake-Kampagne, mit der AYON massenhaft freiwillige Helfer über das Internet mobilisierte, würden nicht beachtet und schon gar nicht gehört. Auch die Vorstellungen der Betroffenen spielten keine große Rolle, berichtet ein anderer NGO-Arbeiter. Auf einem Koordinierungstreffen habe eine Organisation fertige Baupläne für neue Häuser vorgestellt. „Leider haben sie vorher mit keinem einzigen Nepalesen über ihre extravagante Konstruktion gesprochen. Sonst wüssten sie, dass Häuser wie diese vielleicht für einen Designpreis gut sind, aber niemand darin wohnen möchte – aus Angst, von den Nachbarn ausgelacht zu werden.“
medico international fördert seine lokalen Partnerorganisationen bei der Errichtung von Unterkünften zum Schutz in der Regenzeit und der Rehabilitation von Gemeinschaftseinrichtungen wie Schulen und Gesundheitsstationen. Mit Workshops zu Öffentlichkeits- und Kampagnenarbeit werden die Überlebenden des Erdbebens darin unterstützt, die Rechenschaftspflicht lokaler Eliten, Behörden und sonstiger am Wiederaufbau beteiligter Organisationen einzufordern.
Dieser Artikel erschien zuerst im Rundschreiben 2/2015. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. <link material rundschreiben internal-link internal link in current>Jetzt bestellen!