Wie ist die aktuelle Situation in Nepal?
Bernd Eichner: Selbst bei kleineren Nachbeben und Erschütterungen rennen die Menschen panisch auf die Straße. Die psychische Belastung ist extrem hoch. Auch in nicht betroffenen Gebieten wollen die Kinder häufig nicht in die Schule. Viele Menschen haben uns immer wieder erzählt, welche große Unsicherheit der Gedanke bei ihnen auslöst, dass sie von ihrem eigenen Haus erschlagen werden könnten. Man sieht viele Menschen, die deshalb immer noch im Freien schlafen. In den Kliniken unserer Partner in Kathmandu bevorzugen die Patienten lieber ein Bett auf dem überfüllten Flur im Erdgeschoss als in den leeren oberen Stockwerken
Welche Schäden sind sichtbar?
Dort, wo wir gewesen sind, haben wir zerstörte Häuser gesehen. Aber auch viele intakte Häuser. Betroffen sind offenkundig vor allen Dingen die Ärmeren und Ärmsten die sich Beton und ordentlichen Mörteln nicht leisten können. Große Befürchtungen verknüpfen die Menschen mit dem bevorstehenden Monsun. Dann wird es ununterbrochen regnen und die Plastikplanen, die überall zu sehen sind, werden dem nicht standhalten. Die Regierung plant ein Programm, nach dem betroffene Familien Wellblechdächer und rund 150 Euro bekommen sollen. Aber die Familien müssen ihre Bedürftigkeit nachweisen und Urkunden vorlegen. Viele haben die Papiere nicht oder sie sind im Erdbeben verloren gegangen. Die Landwirtschaft ist in den Regionen, in denen wir waren weniger betroffen. Es geht also vorwiegend um sichere Unterkünfte.
Wie sieht die medizinische Versorgung aus?
Es gibt eine sehr starke Selbsthilfe in Nepal. Nachbarn helfen sich sofort gegenseitig. Wir sind mit unserem lokalen Partner NEDS unterwegs gewesen, die in den Dörfern nahe des Epizentrums eine sehr gute Arbeit machen, und die Bevölkerung hat sich dort sehr deutlich über internationale Akteure beschwert, die zum Beispiel mit ausländischen Ärzteteams kamen. Als diese eintrafen hätten sie längst ihre Verwundeten versorgt und mit großer Mühe ins nächste Krankenhaus gebracht. Viele Menschen empfinden diese Form der internationalen Hilfe als Geldverschwendung.
Aber gibt es in Nepal nicht auch viel Kritik an der eigenen Regierung?
Wir hatten ein ausführliches Gespräch mit einem jungen Kollegen vom People's Health Movement. Er leitet eine Jugendorganisation, die sehr aktiv in den Dörfern tätig ist. Über die Regierung und alle Parteien äußerte er große Enttäuschung. Aus seiner Sicht würden sie alle nur noch ihre eigenen Interessen vertreten und hätten keine Vision für Nepal. Das Land sei aber auch vollkommen abhängig von ausländischen Zuweisungen und die Geber könnten die Agenda bestimmen. Der Gesundheitssektor oder Bildung würden deshalb vernachlässigt, da sie sich im Gegensatz zum Bau von Wasserkraftwerken, aus Sicht der Geldgeber nicht rentieren würden.
Schon jetzt lebten in den Dörfern kaum noch junge Männer. Diese arbeiteten unter miesen Bedingungen millionenfach in Indien oder den Golfstaaten. Nepal gehöre zu den Spitzenreitern in der Rücküberweisungsquote weltweit. Trotz seiner massiven Kritik war trotzdem für die sog. „One-Door-Policy“, d.h. die Regierung als einzige demokratische Instanz bestimmt den Wiederaufbauprozess – und nicht die UN oder gar internationale NGOs. Allerdings müsse die nepalische Zivilgesellschaft der Regierung dabei genau auf die Finger schauen und Druck ausüben damit alles transparent abläuft. Er hatte keinerlei Illusionen über die Möglichkeiten und den Willen der internationalen Hilfe. Sie seien viel zu sehr auf ihre eigenen Interessen bedacht und wollten aufgrund des Erdbebens möglichst viel Geld bekommen. Dafür würden UN und internationale Organisationen auch die Schäden und den Bedarf unnötig dramatisieren.
Was bedeutet das für die Zukunft?
Viele unserer Partnerinnen und Partner hier wollen so schnell wie möglich eine neue Verfassung als Vorrausetzung für die Durchführung von Kommunalwahlen, die seit 1997 nicht stattgefunden haben. Es gibt momentan keine legitime Interessensvertretung vor Ort und das macht auch eine nachhaltige Hilfe in den betroffenen Gebieten besonders schwer. Alle fürchten, dass die internationale Hilfe zur schnellen Abwicklung Parallelstrukturen schafft wie in Haiti. Das würden sie als großen Rückschlag im nationalen politischen Prozess empfinden. Am Ende würden die NGOs das Land geschwächt zurücklassen oder die Abhängigkeit auf ewig verlängern.
Auch für unsere weitere Arbeit wird es deshalb eine große Herausforderung sein, mit lokalen Partnern einen Wiederaufbau zu ermöglichen, der dem Wunsch nach Selbstbestimmung gerecht wird und allen Nepalis dient – nicht nur den privilegierten Kasten und Partikularinteressen.
Das Interview führte Katja Maurer.
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