Riad Othman zieht Bilanz

Nichts ist besser

01.12.2015   Lesezeit: 6 min

Nach drei Jahren in Israel und Palästina wird Riad Othman medico-Nahostreferent in Berlin. Dieter Müller übernimmt das medico-Büro in Ramallah.

Die vergangenen drei Jahre zählten zu den intensivsten Erfahrungen in meinem bisherigen Berufsleben. Zwei Wochen nach meiner Ankunft im November 2012 begannen die achttägigen Angriffe auf den Gaza-Streifen. Meine Familie war zu meiner Erleichterung noch in Dänemark . Die Partner aber waren unter Beschuss. Nur im Sommer 2014, während des letzten Krieges, fühlte ich mich noch hilfloser. Dieses Mal waren unsere Partner nicht nur unter Beschuss. Sie verloren Familienmitglieder, Arbeitskollegen und Freunde.

Mir fällt nichts ein, was in drei Jahren besser geworden wäre. Bevor ich hier ankam, war die Rede davon, dass nicht mehr viel Zeit bliebe, um die Zweistaatenlösung zu retten. Während ich hier arbeitete, hieß es, die Zweistaatenlösung werde immer unrealistischer. Selbst während der Friedensgespräche unter Vermittlung des US-Außenministers John Kerry schrieb die israelische Regierung binnen neun Monaten 13.851 Wohneinheiten in Siedlungen auf der Westbank und in Ost-Jerusalem zur Planung und zum Bau aus: durchschnittlich 50 pro Tag, 1.540 pro Monat. Wer sich veranschaulichen möchte, was das für die Realisierbarkeit eines Friedensabkommens bedeutet, dem natürlich eine territoriale Einigung zugrunde liegen müsste, kann sich die Karten der Vereinten Nationen ansehen. Die Reaktionen aus der internationalen Politik waren die üblichen: Besorgnis. Nichts weiter.

Die Konfrontation rückt näher

Unterdessen ist die Konfrontation ein Stück näher gerückt. Zum ersten Mal finden im Oktober 2015 selbst am Checkpoint Beit El, direkt neben dem Hauptquartier der israelischen Besatzungsverwaltung für die Westbank und unterhalb der gleichnamigen Siedlung, tagelange Zusammenstöße zwischen der Armee und Palästinenserinnen und Palästinensern statt.

Als ich die Ausschreitungen beobachtete, tauchte eines Tages wie aus dem Nichts plötzlich ein Knirps auf. Unbegleitet. Höchstens 10 Jahre alt. Er wollte ebenfalls Steine gegen die Armee werfen, die dort schon seit Tagen auch scharfe Munition gegen Protestierende einsetzte, nicht mehr nur Tränengas und gummiummantelte Stahlgeschosse. Nur die vereinten Überredungskünste eines Sanitäters, eines Journalisten und eines Steinewerfers konnten ihn dazu bewegen, wieder abzuziehen. Der Junge war den Tränen nahe und weigerte sich bis zuletzt preiszugeben, woher er überhaupt gekommen war und wer seine Familie sei. Kinder tun oft das, was sie bei Älteren sehen. Ich will deshalb gar kein fürchterliches Ausnahmeschicksal in die Geschichte des Jungen hineininterpretieren. Dieses Kind ist kein Einzelfall. Seine Anwesenheit an sich, genauso wie die Abwesenheit seiner Eltern oder älteren Geschwister, sagt schon viel über den Zustand der Gesellschaft in den besetzten Gebieten aus. Über Hoffnungslosigkeit und Wut, die sich in gewaltsamen Protesten und Straßenschlachten mit israelischen Armeebericht und Polizeieinheiten Bahn brechen, aber leider auch in Anschlägen auf israelische Zivilisten.

Bilder von brennenden Reifen und Tränengasschwaden sind nicht neu. Die Orte, von denen sie stammen, indessen schon, zumindest wenn man nur die letzten Jahre der bleiernen Ruhe berücksichtigt. Es ist neu, wenn man in einem Viertel der Mittel- und Oberschicht in Ramallah einen jungen Mann mit einem Eimer faustgroße Steine sammeln sieht, kilometerweit vom nächsten Checkpoint entfernt.

Niemand lässt es kalt

Die Ereignisse der letzten Wochen lassen niemanden in meinem Umfeld kalt: nicht der Mord an dem Siedlerehepaar Henkin in der Nähe von Nablus, dessen vier Kinder im Alter von vier Monaten bis neun Jahren ebenfalls im Auto saßen, als die Eltern erschossen wurden. Nicht die Welle palästinensischer Anschläge auf Israelis, die in den vergangenen Wochen völlig eskaliert ist. Nicht die generelle anti-arabische Stimmung und mancherorts offen vorgetragene rassistische Haltung gegenüber Palästinensern in Israel. Und sicher nicht die Reaktion der israelischen Politik auf diese jüngste Eskalation, die Rhetorik von Abgeordneten und Amtsträgern, die Sicherheitskräfte öffentlich dazu ermuntern, „Terroristen“ zu töten. Diese Stimmung zeigt Wirkung: In zwei der jüngsten Fälle von getöteten Verdächtigen, die durch Videos dokumentiert sind, drängt sich der Eindruck von außergerichtlichen Hinrichtungen auf. Personen, die ohne Not hätten verhaftet werden können, wurden einfach erschossen. Dagegen wurde kein einziger jüdischer Verdächtiger während seiner Verhaftung durch Schüsse verletzt.

Man kann die gegenseitigen Angriffe und Proteste nicht verstehen, wenn sie aus ihrem politischen und historischen Zusammenhang herausgelöst werden. Ihr Kontext besteht fort und die fast seit 50 Jahren andauernde Besatzung hat weiterhin massive und handfeste wirtschaftliche, soziale, psychologische und andere Folgen in der Regel leider verheerende für beide Gesellschaften. Der vorherrschende Diskurs in Israel, der „palästinensisch“ oft mit „gefährlich“ gleichsetzt, der erschossene Palästinenser lediglich als Terroristen oder Sicherheitsrisiken darstellt, die „neutralisiert“ werden mussten, dient politisch und gesellschaftlich vor allem einem Zweck: eine ernsthafte Diskussion darüber im Keim zu ersticken, welches die eigentlichen Ursachen der Gewalt sind.

Gaza: Niedergeschlagenheit und Wut

Dann ist da noch die offene Wunde Gaza. In dem Küstenstreifen erlebe ich die Niedergeschlagenheit und Desillusionierung so stark , wie ich sie in drei Jahren nicht gesehen habe. Selbst unmittelbar nach dem letzten Krieg 2014 bestand mehr Hoffnung auf Verbesserung. Schon jetzt sind 95% des Leitungswassers nicht für den menschlichen Verzehr bzw. Gebrauch überhaupt geeignet. 2016 soll der Küstenaquifer, die Hautquelle für Wasser in Gaza unbenutzbar sein. Für 2020 werden die Schäden am Aquifer als irreversibel vorhergesagt. Wie dann Menschen leben sollen, die sich kein teures Wasser aus Tanklastern leisten können, das weiß hier niemand. Und dies ist nur eines von vielen gravierenden Beispielen für die Katastrophe, auf die hier 1,8 Millionen Menschen zusteuern. Mittlerweile herrscht nur noch Enttäuschung und Ausweglosigkeit: über die andauernde Abriegelung, über das Versagen der internationalen Gemeinschaft. Über die Unfähigkeit der eigenen politischen Eliten, die Interessen der Bevölkerung endlich in den Blick zu nehmen anstatt die jeweils eigenen Privilegien. Auch darüber herrscht Wut. Die Wunde hat sich längst entzündet.

Wir nähern uns dem 50. Jahrestag der Besetzung der Westbank , des Gaza-Streifens und Ost-Jerusalems. Wie ihre Vorgängerregierungen lässt das derzeitige israelische Kabinett keine Anzeichen dafür erkennen, dass es willens ist, die Besatzung aufzugeben und seinen Griff zu lockern. Im Gegenteil, die jüngste Veröffentlichung von EU-Richtlinien zur Kennzeichnung von Siedlungsprodukten hat in Israel für Unverständnis und Wut gesorgt. Die Regierung Netanjahu setzt auf Konfrontation statt auf Kompromissbereitschaft und hat bereits Treffen und Dialogforen abgesagt. Sie hat auch darauf aufmerksam gemacht, dass unter der Kennzeichnung primär Palästinenser zu leiden haben würden, wenn sie ihre Arbeit in Siedlungen verlören.

Nach drei Jahren beende ich meine Arbeit in Ramallah. Als Nahost-Referent für medico werde ich dem Thema, nun von Deutschland aus, treu bleiben, und mich einsetzen für ein Ende der Besatzung und für Menschen- und Bürgerrechte für alle.

Israel/Palästina zählt zu den größten Projektregionen von medico. 2015 wurden 18 Projekte mit insgesamt 1,9 Mio. Euro gefördert. Die medico-Projektpartner auf beiden Seiten leisten täglich Hilfe und setzen sich für eine friedliche Regelung des Konflikts ein, die nicht ohne ein Ende der israelischen Besatzung zustandekommen wird. Die Arbeitsfelder reichen u.a. von Gesundheitsfürsorge über Menschenrechtsarbeit bis zu Flüchtlingshilfe und Schutz der von Vertreibung bedrohten palästinensischen und beduinischen Bevölkerung.

Spendenstichwort: Israel/Palästina

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 04/2015. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Riad Othman

Riad Othman arbeitet seit 2016 als Nahostreferent für medico international von Berlin aus. Davor war er medico-Büroleiter für Israel und Palästina.

Twitter: @othman_riad


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