medico: Ihr setzt euch mit der völkerrechtswidrigen Ausbeutung natürlicher Ressourcen der besetzten Westsahara durch europäische Konzerne auseinander. Um welche Ressourcen geht es und wer ist für ihre Ausbeutung verantwortlich?
Die Ressourcen der Westsahara spielen eine entscheidende Rolle im Konflikt um die völkerrechtswidrige Besatzung, deren brutale Aufrechterhaltung erst durch die Exporteinnahmen finanzierbar ist. Im klassischen Sinn und auch historisch wichtig sind hier zunächst die Fischbestände, die zu den reichsten weltweit zählen. Sie werden unter anderem von der EU ausgebeutet, in Absprache mit der Besatzungsmacht Marokko. Das Bremer Unternehmen KMP war 2019 der größte EU-Importeur von Fischmehl aus der Westsahara.
Außerdem ist das für konventionelle Landwirtschaft unabdingbare Phosphat zu nennen, das unter maßgeblicher Beteiligung deutscher Konzerne wie ThyssenKrupp, Siemens und früher auch Continental abgebaut und weltweit verschifft wird, auch von deutschen Redereien wie Oldendorf Carriers. Unser Netzwerk beschäftigt sich aber auch mit anderen Formen wirtschaftlicher Aktivitäten, wie etwa dem Anbau von Tomaten und Melonen, die unter marokkanischen Labeln auf dem EU-Markt landen.
Sehr bedeutend ist der Infrastrukturausbau im Rahmen der Siedlungspolitik der Besatzung, die maßgeblich mit Beton von Heidelberg Materials (früher: HeidelbergCement) vorangetrieben wird. Dazu zählt auch der Ausbau erneuerbarer Energien wie der Windenergie, wofür die Westsahara ein weltweit einzigartiges Potential hat. Siemens Energy ist dort einer der Hauptpfeiler der marokkanischen Strategie, Energie aus seiner Kolonie zu gewinnen, Greenwashing seiner Besatzung zu betreiben und gleichzeitig die privaten Taschen des marokkanischen Königs zu füllen.
Letztlich geht es um jegliche Formen der internationalen wirtschaftlichen Beteiligung, die alle etwas Entscheidendes gemeinsam haben: Sie werden ohne Zustimmung der Sahrauis durchgeführt und sie stabilisieren und legitimieren die Besatzung.
Es werden nicht nur die natürlichen Ressourcen der Westsahara ausgebeutet – auch wissenschaftliche Forschung wird ohne Zustimmung der Sahrauis betrieben. Erst kürzlich gab es ein großes, von Deutschland finanziertes Forschungsprojekt vor den Küsten der Westsahara. Was hat es damit auf sich?
In den Tagen kurz vor Weihnachten des letzten Jahres haben mehrere deutsche Forschungsinstitutionen unter der Leitung der Universität Kiel eine Forschungsexpedition durchgeführt. Das Forschungsschiff Maria S. Merian, das dem Land Mecklenburg-Vorpommern gehört und dessen Betrieb von DFG und BMBF finanziert wird, kreuzte dabei auch in den Gewässern vor der besetzten Westsahara und erhob meeresgeologische Daten.
Nach eigenen Angaben ging es bei der Expedition darum, Sedimentwellen auf dem Meeresboden zu erforschen. Was auf den ersten Blick nicht besonders umstritten erscheint, birgt allerdings eine Reihe problematischer Punkte. So wurde das Forschungsgebiet der Expedition sowohl in den Berichten der Universität Hamburg als auch in jenen der Universität Kiel als in „marokkanischen Gewässern“ oder der „marokkanischen Ausschließlichen Wirtschaftszone“ (AWZ) gekennzeichnet. Nach Angaben der Institutionen erfolgte die Kennzeichnung entsprechend eines Leitfadens des Auswärtigen Amtes, der explizit anweist, die Westsahara in diplomatischen Antragsformularen als „marokkanisch“ zu behandeln. Die Gewässer vor der besetzten Westsahara sind aber keineswegs „marokkanisch“ oder Teil der „marokkanischen AWZ“, sondern gliedern sich an ein völkerrechtswidrig und brutal von Marokko besetztes Gebiet an. Wir wissen nicht, ob und wie die Daten veröffentlicht werden, aber öffentlich zugänglich könnten sie von Marokko und von an der Besatzung beteiligten Akteuren genutzt werden, um die Ressourcenausbeutung und Siedlungsprojekte weiter voranzutreiben. Nicht selten werden Meeresbodendaten für wirtschaftliche Zwecke wie beispielsweise Unterseekabel verwendet.
Inwiefern hängt die Besatzung mit der Entstehung eines vermeintlich grünen Kapitalismus in Europa zusammen?
Wie schon zuvor erwähnt rücken erneuerbare Energie-Projekte immer weiter in den Fokus. Mit Siemens Energy als einem der Hauptakteure ist ein deutsches Unternehmen in die Aufrechterhaltung der brutalen Militärbesatzung verstrickt, egal wie sehr das Unternehmen jegliche Verantwortung von sich zu weisen versucht. Die Windenergieprojekte versorgen auch industrielle Endverbraucher. Der Foum el Oued-Windpark liefert zum Beispiel Strom für das Phosphatförderband und erweitert so die Ausbeutung von nicht-erneuerbaren Ressourcen der besetzten Westsahara um eine weitere Dimension.
Energieinfrastruktur auf besetztem Gebiet ist fundamental, um sogenannte „facts on the ground“ zu schaffen und ist im Grunde eine stillschweigende Anerkennung von Marokkos Anspruch auf das Gebiet. Außerdem sind solche Großprojekte Grundlage für die Argumentation von Unternehmen wie Siemens Energy, dass ihre Präsenz und Projekte der „lokalen Bevölkerung“ zu Gute kämen. Bei näherer Betrachtung ist diese Logik jedoch fadenscheinig, denn dabei wird völlig missachtet, dass die lokale Bevölkerung mittlerweile mehrheitlich marokkanische Siedler:innen sind.
Erneuerbare Energieprojekte befördern die Siedlungspolitik Marokkos, die laut Wissenschaftlichem Dienst des Bundestages Kriegsverbrechen begründet. Sie erhöhen die Abhängigkeit Marokkos von der Westsahara und erschweren damit eine Lösung des Konflikts. Und nicht zu letzt bieten erneuerbare Energieprojekte in der besetzten Westsahara das Bühnenbild, vor dem sich Marokko und insbesondere König Mohammed VI als Vorreiter der grünen Energiewende inszenieren können. Das politische und diplomatische Kapital, welches Marokko daraus schlagen kann, wird bezüglich des Versprechens von billigem grünem Wasserstoff für Europa besonders augenscheinlich. Geht es um Fragen nach globaler Klimagerechtigkeit, einer gerechten globalen Energiewende und grünen Kolonialismus, ist die völkerrechtswidrige Besatzung der Westsahara also relevanter und aktueller denn je.
Obwohl ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes noch aussteht, bereitet die EU-Kommission die Weiterführung des Fischfangs vor. Wie kann es sein, dass Völkerrecht und EU-Gerichte einfach ignoriert werden können?
Es ist tatsächlich kaum zu glauben, was die EU da seit Jahren abzieht. Der Europäische Gerichtshof hat in mehreren Urteilen eindeutig festgestellt, dass aus dem völkerrechtlich gesicherten Selbstbestimmungsrecht der Sahrauis folgt, dass sie zu Wirtschaftsabkommen, welche die Westsahara betreffen, ihre explizite Zustimmung geben müssen, und das über ihre von den Vereinten Nationen anerkannte Vertretung, die Frente Polisario. Ist das nicht der Fall – so wie in bisher allen EU-Marokko-Abkommen – sind diese rechtswidrig.
Die EU-Kommission hat wiederholt neue Abkommen ausgehandelt, die diesen Grundsatz auf das Gröbste verletzen und scheut dabei auch nicht vor glasklaren Lügen zurück. Bisher scheint sich daran nicht viel zu ändern. EU-Rat und Kommission sind in Berufung zum letzten Urteil gegangen und die Kommission plant schon Neuauflagen der Abkommen zu Fischerei und Handel. Vermutungen, dass dieses allen ethischen und rechtlichen Grundsätzen widersprechende Vorgehen auf direkten Einfluss Marokkos und auch der Empfänglichkeit von EU-Vertreter:innen zurückzuführen ist, wurden im Rahmen des aktuellen Korruptionsskandals bestätigt.
Seit Dezember 2023 wird die Europäische Union von einem neuen Korruptionsskandal erschüttert. EU-Abgeordnete sollen von Katar und Marokko bestochen worden sein, um Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen. Zu Beginn wurde viel über die Einflussnahme Katars geschrieben, doch Marokko scheint noch viel mehr involviert. Könnt ihr etwas zu den Hintergründen sagen?
Der Korruptionsskandal, dessen Tragweite die Berichterstattung nicht annährend gerecht wird, stellt die Glaubhaftigkeit einer funktionierenden Demokratie in Europa grundlegend in Frage. Jeden Tag kommen neue Fakten ans Licht, die beweisen, in welchem Umfang und in welch unverfroren offensiver Art Einfluss auf die politische Entscheidungsfindung im Parlament genommen wird.
Ausgehend von Bestechungsfällen durch Katar sieht es nun so aus als hätten diese nur auf bereits bestehende Strukturen zurückgriffen, die von marokkanischen (auch diplomatischen) Vertreter:innen und dem Geheimdienst über Jahre hinweg geschaffen und durch Schmiergelder für Einflussnahme genutzt wurden. Auffallend ist dabei, dass zurzeit ausschließlich Abgeordnete der Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten und deren Mitarbeitende ins Visier der Justiz geraten sind bzw. sich teilweise bereits in Haft befinden. Also die Fraktion, der auch die Partei des spanischen Ministerpräsidenten Pedro Sánchez angehört, der nach Medienberichten von Marokko mit der Pegasus-Software ausspioniert wurde und der vor ungefähr einem Jahr auf einen pro-marokkanischen Kurs in der Westsaharafrage eingeschwenkt ist. Bei der Einflussnahme geht es in der Regel immer um die EU-Position zur Besatzung der Westsahara. Marokko macht dabei keinen Hehl aus seinen Zielen. Der König sagte unlängst: „Die Sahara-Frage ist das Prisma, durch das Marokko seine internationale Umgebung sieht.“
Auch die deutsche Ampel-Koalition nähert sich dem marokkanischen Regime immer weiter an – so hat zum Beispiel das Auswärtige Amt seine Basisinformationen zu Marokko verändert und insbesondere die Position zum Konflikt mit der Westsahara „aktualisiert“. Dabei schwenkte man auf die marokkanischen Pläne ein und hofiert den so genannten „Autonomie-Plan“ als „wichtigen Beitrag“. Dieser wurde von Marokko 2007 eingebracht und soll die Souveränität des Königreiches über die Westsahara festigen – gegen etliche UN-Resolutionen und das Völkerrecht. Wie verträgt sich das mit einer von Außenministerin Baerbock proklamierten wertegeleiteten Außenpolitik? Um was geht es dabei wirklich?
Über die wahren Hintergründe der Außenpolitik der Bundesregierung wollen wir hier nicht spekulieren. Es ist aber festzustellen, dass die von dir genannten Maßnahmen nach dem Regierungswechsel eine Positionsänderung darstellen, auch wenn die Bundesregierung das bestreitet. Einseitig den uralten Autonomieplan Marokkos zu loben, der ganz eindeutig nicht mit dem Selbstbestimmungsrecht der Sahrauis vereinbar ist, und ganz bewusst den Plan der Polisario nicht zu erwähnen, wurde von Marokko ja auch als Schritt in Richtung Akzeptanz der Besatzung gewertet. Sonst wären die diplomatischen Beziehungen, die zuvor von Marokko gerade mit Bezug auf die Haltung der Bundesregierung in Bezug auf die Besatzung der Westsahara ausgesetzt worden waren, nicht wieder aufgenommen worden.
Auch Pläne für zukünftige, vorgeblich „grüne“ Energie aus Nordafrika mögen eine Rolle spielen. Es ist außerdem kein Geheimnis, dass die EU-Staaten sehr empfänglich für Marokkos Instrumentalisierung der Migration sind. Die Kontrollen der Grenzen, insbesondere der direkten Landgrenzen zur EU in den spanischen Enklaven Ceuta und Melilla, werden von Marokko situativ mehr oder weniger stark kontrolliert oder bewusst geöffnet, um Druck auf die EU auszuüben.
Im Januar wurde im EU-Parlament das erste Mal seit 25 Jahren eine Resolution zur Situation der Menschenrechte in Marokko verabschiedet. Ist das auch ein Erfolg eurer Arbeit?
Diese Resolution war ein wichtiges Zeichen dafür, dass in der EU immerhin ein zaghafter Prozess in Gang gekommen ist. Aber auch wenn die wirtschaftlichen Aktivitäten in der Westsahara ein sehr guter Hebel sind, um Missstände der Politik offenzulegen, liegt der Fokus unserer Arbeit eindeutig auf der Recherche, Dokumentation und Kritik der Beteiligung internationaler Unternehmen. Und da hat sich in der letzten Jahren Einiges getan: Beispielsweise zog sich 2018 das bis dato größte Importunternehmen sahrauischen Phosphats, Nutrien, auf Druck von Investor:innen aus dem Handel zurück, woraufhin der Export in den Folgejahren auf die Hälfte der ursprünglichen Menge einbrach. Die Continental AG verlängerte 2021 einen Vertrag nicht, der die Wartung des 100 Kilometer langen Phosphatförderbands in der Westsahara betraf und Siemens Energy landete wegen völkerrechtlicher Bedenken bezüglich des Westsaharageschäfts auf der Sperrliste der größten Vermögensverwaltung Norwegens.
Unser Beitrag besteht aber vor allem auch darin, das Wissen über diese Aktivitäten überhaupt erst zu generieren. Andere Akteure, wie beispielsweise die EU selbst, beziehen sich darauf und ordnen sie ein. Wenn Investor:innen auf Hauptversammlungen Gegenanträge stellen, wie Wespath 2021 bei Heidelberg Materials, oder Aktivist:innen sich unserer langjährigen Kritik anschließen, wie gerade Luisa Neubauer an Siemens Energy wegen der Unterstützung der Besatzung, sind das auch kleine Erfolge für uns.
Das Interview führte Kerem Schamberger.
Das Netzwerk „Western Sahara Resource Watch (WSRW)“ setzt sich mit der Rohstoffausbeutung der marokkanischen Besatzungsmacht in der Westsahara auseinander und macht so mit medico-Unterstützung auf die nach wie vor dem Völkerrecht widersprechende Besatzung aufmerksam.