Die Bewohner:innen des kurdisch-alevitischen Bergdorfes in der Provinz Adıyaman haben die Erdbebennacht und die Folgen noch längst nicht verarbeitet. Aufgewühlt berichten sie uns von ihrem Alltag in dem auf fast 2.000 Höhenmetern gelegenen Dorf nach der Katastrophe: Die meisten Häuser des Dorfes wurden komplett zerstört, fünf Menschen sind in den Trümmern gestorben, weil sie nicht rechtzeitig geborgen werden konnten. Bei der Erinnerung an die Nacht des 6. Februars 2023 schießen den alten Frauen Tränen in die Augen. Damals war es bitterkalt. Die Tage und Nächte, die sie nach dem Erdbeben in zusammengezimmerten Unterkünften verbringen mussten, waren dramatisch. Es dauerte einige Tage, bis die ersten Freiwilligen das Dorf erreichten und Decken, Lebensmittel und Zelte brachten.
Ein Blick über das, was einmal das Dorf war, zeigt das Ausmaß der Katastrophe: Noch immer gleicht es einem Trümmerfeld. Die Häuser, die noch stehen, sind schwer beschädigt und Familien übernachten in provisorischen Anbauten. Dort haben sie Küchen und Lagerräume eingerichtet. Nur einmal waren staatliche Hilfsteams im Dorf, ein paar Container wurden geliefert, die im Sommer bei 45 Grad aber nicht bewohnbar sind. Auch die Schulcontainer sind ohne Klimaanlage nicht nutzbar. Die Frauen erzählen, dass ihnen angeboten wurde, vorläufig in ein Zelt- oder Containerlager in die Hauptstadt der Provinz zu ziehen. Das kommt für die Menschen, die seit Generationen in den Bergen leben und mit Land- und Viehwirtschaft ihre Existenz bestreiten, nicht infrage. So harren sie aus. Die versprochenen Aufräumarbeiten? Noch ist nichts geschehen. Wie es weitergehen soll, weiß niemand. Angst macht der Winter. In dieser Gegend ist er eisig kalt, Schnee liegt meist meterhoch. Die Frauen erzählen, dass sich allein die freiwilligen Helfer:innen kurdischer Organisationen gekümmert und Lebensmittelpakete geliefert haben.
Wiederaufbau? Dauert
Die Gespräche in dem Bergdorf in Adıyaman stehen exemplarisch für zahlreiche Begegnungen auf unserer Reise durch eine zerstörte Region. Es ist Ende Juli und das Erdbeben nun fast ein halbes Jahr her. Gemeinsam mit einer Partnerorganisation fahren wir in wenigen Tagen über 3.000 Kilometer mit dem Auto. Die Städte und teils abgelegenen Dörfer, durch die wir kommen, liegen in fünf der elf betroffenen Provinzen in der Südtürkei. In Hatay, Kahramanmaraş, Elbistan, Malatya und Diyarbakır sprechen wir mit Überlebenden und Obdachlosen, aber auch mit freiwilligen Helfer:innen und medico-Partner:innen.
Die Fläche in der syrisch-türkischen Grenzregion, die durch das Erdbeben verwüstet wurde, ist fast so groß wie Deutschland. Ganze Städte wurden dem Erdboden gleichgemacht, Zehntausende verloren ihr Leben, Millionen ihr Zuhause. Hilfe kam in vielen betroffenen Gebieten zu spät oder gar nicht an. Sechs Monate später ist die Situation immer noch extrem schwierig und angespannt. Über neun Millionen Menschen sind von den Folgen des Erdbebens betroffen, 5,2 Millionen sind laut UN hilfsbedürftig. Mehr als zwei Millionen Menschen haben ihre Heimatstädte verlassen. So lauten zumindest die Schätzungen, ganz genau weiß es niemand.
Container, Lager, extreme Hitze
Schon zur Mittagszeit klettert das Thermometer auf über 40 Grad. Für Hunderttausende Menschen, die seit fast sechs Monaten in Containern und Zelten leben, ist das eine extreme, zusätzliche Belastung. Auch die Südtürkei hat eine außergewöhnliche Hitzewelle erfasst. Antakya, wo bis zum 6. Februar rund 200.000 Menschen lebten, ist fast unbewohnbar geworden. Über der Stadt hängt durch die Abrissarbeiten eine trockene Staubwolke. Ganze Häuserblocks sind bereits abgetragen worden. Wo in der geschichtsträchtigen Altstadt einmal dichtes Leben herrschte, klafft nun eine riesige Lücke. In anderen Städten der Provinz Hatay sieht es ähnlich aus, nur sind hier viel weniger Bagger oder Abrissgeräte unterwegs. Die Arbeiten kommen nur schleppend voran. Über Wiederaufbau redet noch niemand. Allen ist klar, dass es Jahre bis Jahrzehnte dauern wird.
Wer keine private Alternative hat, muss in Zelt- und Containerlagern über die Runden kommen. Vielköpfige Familien müssen sich 17 Quadratmeter große Provisorien teilen, nicht immer haben die Container eine Klimaanlage, die hygienische Situation ist schlecht. Mit Unterstützung von medico will die Frauenorganisation ROSA in Adıyaman rechtliche und psychosoziale Beratung anbieten. Die Aktivistin Dilar – sie kommt aus Adıyaman und hat das Erdbeben vor Ort miterlebt – erzählt, dass es meist die Frauen sind, die den familiären Alltag organisieren, obwohl viele gleichzeitig mit dem Verlust von Familienangehörigen klarkommen müssen. Viele ihrer Freundinnen lebten nun in den Containern. Weil es zu Übergriffen gekommen ist, vermeiden manche, diese alleine zu verlassen.
Auch in anderen größeren Städten treffen wir auf lokale Helfer:innen. Sie tun ihr Bestes und kümmern sich um diejenigen, die nicht ausreichend Hilfe bekommen oder von staatlichen Stellen benachteiligt werden. Die absoluten Verlierer:innen sind die etwa 1,7 Millionen Geflüchteten aus Syrien. Die meisten von ihnen hatten schon vor dem Beben kaum eine Perspektive. Gleichzeitig sind sie seit geraumer Zeit Zielscheibe rassistischer Ausgrenzung. Im Wahlkampf haben die Parteien die Stimmung gegen sie nochmals angeheizt. Nach dem Erdbeben wurden sie erst beschuldigt zu plündern und dann in die am schlechtesten ausgestatteten Zeltlager gebracht. Das erzählt uns ein syrischer Mann, den wir am Zaun eines solchen Lagers ansprechen. Er klingt verzweifelt. Nicht einmal Zugang zu Wasser und Nahrung sei gewährleistet gewesen. Zwar waren kurzzeitig die Grenzen nach Syrien geöffnet. Doch um diesen Menschen eine Perspektive zu bieten, müssten andere Grenzen geöffnet werden. Es braucht eine europäische Antwort.
Hilfe von unten, von Anfang an
Lokale, zivilgesellschaftliche Organisationen haben sich inzwischen als „Solidaritätsverein“ in Diyarbakır zusammengetan. Ihr Ziel ist es, Bedarfe zu ermitteln und die Hilfe über die Regionen hinweg zu koordinieren. Das berichtet uns ihr neuer Vorsitzender Muzaffer im Büro in Diyarbakır. Schon den ersten Tag nach dem Beben hatte es umfangreiche zivilgesellschaftlich organisierte Hilfe gegeben. In den betroffenen Provinzen waren Krisenstäbe entstanden, wurden Hilfstransporte gepackt und Lieferungen dort verteilt, wo staatliche Hilfe nicht ankam. Beteiligt waren Gewerkschaften, Ärzteverbände, Frauen- und Kinderorganisationen, alevitische Vereine, kurdische Organisationen, Anwält:innen und Journalist:innen. Trotz der großen Not wurde diese Hilfe von unten immer wieder von Polizei sowie Militär blockiert und kriminalisiert. Selbstorganisation war vom Staat nicht gewollt. Der Solidaritätsverein will die durch medico-Spenden unterstützte solidarische Hilfe dennoch ausweiten und längerfristig fortsetzen. Das ist auch deshalb notwendig, weil staatliche Unterstützung weiterhin politisch instrumentalisiert wird: Bis heute wird sie vielen kurdischen Orten, alevitischen Gemeinden oder Dörfern anderer ethnischer bzw. religiöser Minderheiten, die der Regierung nicht nahestehen, vorenthalten. Oft trifft es Communities, die schon zuvor unter Verfolgung und Diskriminierung gelitten haben.
Das Regime profitiert
Infolge des Erbebens droht sich die strukturelle Benachteiligung der kurdischen Bevölkerung und anderer Minderheiten zu verstärken. Mehr noch: Der Staat scheint die Gelegenheit zu nutzen, die „oppositionellen“ Gebiete zu schwächen. Eben das fürchtet auch Muzaffer vom Solidaritätsverein. Behörden würden versuchen, Bewohner:innen alter, traditioneller kurdischer Dörfer zu einem Umzug in Städte zu bewegen. Die türkische AKP-Regierung macht also Katastrophen-Politik. Und sie scheint ihre Macht sogar durch das Erdbeben gerettet zu haben. Die Versprechen, die Erdoğan vor der Türkeiwahl im Mai gegeben hat – schneller Wiederaufbau, Entschädigungszahlungen und direkte Hilfe –, haben zu seinem Wahlsieg beigetragen. Das Staatsversagen bei der Koordinierung der Bergung von Verschütteten, die Skandale in der Baubranche und der Missbrauch der Erdbebensteuer – all das schien vergessen. Sogar im Erdbebengebiet stimmte eine Mehrheit für Erdoğan, auf den Trümmern wurde sein Sieg gefeiert. Die Verantwortung, die die Regierung für die verheerenden Folgen des Bebens trägt, und das Missmanagement bei der Nothilfe: In der noch einmal deutlich nach rechts gerückten Regierungskonstellation wird nichts davon aufgearbeitet werden. Mit den Folgen wird die Gesellschaft auch deshalb noch lange zu kämpfen haben.
Vielen Widerständen zum Trotz leisten lokale Partner:innen von medico seit Monaten Nothilfe, auch und gerade dort, wo internationale Hilfe kaum hinkommt. Sie planen außerdem nachhaltige Unterstützungen in der Region: psychosoziale Hilfe, medizinische Versorgung und Perspektiven für den Wiederaufbau. Daneben geht es um politische Solidarität: zur Durchsetzung des Rechts auf Hilfe aller; und zur Schaffung von Perspektiven für Menschen, die alles verloren haben – sei es vor Ort, sei es hier.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2023. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!