Als wir die polnisch-ukrainische Grenze überqueren, macht sich schon bald die Dunkelheit bemerkbar, die sich nach Sonnenuntergang viel stärker als in Deutschland oder Polen über die Ukraine legt. Seit die russische Armee gezielt die ukrainische Infrastruktur der Heizungs- und Stromversorgung angreift, bleiben viele Ortschaften dunkel. Die Ukraine muss Strom sparen.
Am Morgen hatte Sergej Čubukov von unserer Partnerorganisation Mirnoe Nebo uns, meine Kollegin Katja Maurer und mich, unweit von Berlin eingesammelt, um gemeinsam durch Polen und danach quer durch die Ukraine bis nach Charkow/Charkiw zu fahren, in die zweitgrößte Stadt der Ukraine, die nur rund 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt liegt und regelmäßig beschossen wird. Die Erstsprache der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit dort ist Russisch. Sie nennt ihre Stadt weiterhin bei ihrem russischen Namen: Charkow. Allerdings ist der Druck merklich gewachsen, die Ablehnung des Krieges auch mit einem demonstrativen Bekenntnis zur ukrainischen Sprache zu beweisen. Das gilt insbesondere für Reisen der Menschen in die stärker gemischt- oder mehrheitlich ukrainisch-sprachigen Landesteile. Bereits 2019 hatte Präsident Selenskyjs Vorgänger im Amt, Petro Poroschenko, ein Sprachengesetz eingebracht, das im Januar 2020 in Kraft trat und Ukrainisch als Sprache für die Verwaltung und den öffentlichen Sektor sowie für die Medien festschreibt. Zwar wurden Publikationen in anderen Sprachen nicht verboten, sie müssen seither aber von einer in Inhalt und Umfang gleichwertigen ukrainischen Übersetzung begleitet werden. Mindestens die Hälfte der Zeitschriften und Zeitungen, die in Kiosken und Läden verkauft werden, muss in ukrainischer Sprache sein, unabhängig davon, welche die Hauptverkehrssprache in der jeweiligen Stadt oder Region ist.
Friedlicher Himmel über Charkow
Sergej ist einer von drei Direktoren der medico-Partnerorganisation Mirnoe Nebo (dt. Friedlicher Himmel), die in der Oblast Charkow und in der gleichnamigen Stadt seit den ersten Tagen des Krieges Menschen mit warmen Mahlzeiten oder Paketen mit Grundnahrungsmitteln versorgt. Ihre Zahl ist mittlerweile auf über 20.000 angewachsen. Allein die täglich ausgegebenen warmen Mahlzeiten erreichten zu Spitzenzeiten 21.000 Portionen. Derzeit sind es rund 18.000. Die Menge hängt jedoch nicht nur vom Bedarf ab, sondern vor allem von den verfügbaren Mitteln. Die kleine Gruppe Freiwilliger, die Mirnoe Nebo in den ersten Kriegstagen gründete, war angesichts der Not der Bevölkerung gezwungen, sich eine professionellere Struktur zu geben. Eine wesentliche Rolle spielten dafür aber auch Anforderungen aus dem Ausland, um als Partner international agierender Hilfsorganisationen in Frage zu kommen. Aus einer Kerngruppe von ehemals etwa 10 Personen, die sich aus Vorkriegszeiten kannten, ist so eine gemeinnützige Stiftung mit dem Namen „Friedlicher Himmel über Charkow“ geworden, bei der inzwischen 230 Menschen arbeiten.
Auf unserer Fahrt wechselt sich Sergej mit seinem Kollegen Jevgenij ab. Sie kannten sich schon vor dem Krieg in Charkow, wo ihre Kinder teilweise dieselbe Schule besuchten. Beide konnten über Weihnachten ihre Frauen und ihre jeweils zwei Kinder besuchen, die seit bald einem Jahr bei Krefeld Zuflucht gefunden haben. Für Sergej und Jevgenij, die ihre Familien seit Beginn des russischen Angriffskrieges nur noch selten sehen, ist es tröstlich, dass diese in der Fremde zumindest nur fußläufig voneinander entfernt wohnen und die Kinder auch hier zum Teil dieselbe Schule besuchen.
Am Grenzübergang in die Ukraine haben wir Glück: Spät abends gibt es keine lange Warteschlange, und die Abfertigung durch die ukrainische Grenzbeamtin dauert nicht lange. Wie schon auf den letzten Kilometern vor der Grenze fällt uns die Dunkelheit auf, selbst in der Nähe von Städten. Gegen 2:30 Uhr erreichen wir ein Hotel nördlich von Lviv. Bis wir einschlafen ist es zwischen 3 und 4 Uhr. Nur wenige Stunden später treffen wir uns zum Frühstück. „Wie hast du geschlafen, Riad?“ fragt mich Sergej. „Ganz gut, etwas kurz. Und Du?“ – „Ich hab‘ mich beim Schlafen sehr beeilt“, witzelt er.
Sergej kündigt uns bei der Abfahrt an, dass die Temperatur immer weiter sinken werde: von -4° Celsius in der West-Ukraine auf -12° im Osten des Landes. Das war zwar auch schon vor der Reise klar und wir hatten entsprechend warme Kleidung eingepackt, doch in den folgenden Tagen wird die Vorstellung schmerzhaft konkret, was es bedeutet, bei diesen Temperaturen ohne Heizung auskommen zu müssen.
Entlang der Autobahn in Richtung Osten macht sich der Krieg vor allem durch wiederholte Kontrollpunkte von Militär und Polizei bemerkbar, in der Nähe von Kyiv dann auch durch zerstörte Lagerhallen und andere beschädigte Gebäude entlang der Straße. Die Autobahn führt durch die ukrainische Hauptstadt. Wir erreichen sie in der Dämmerung und durchqueren sie bei Einbruch der Dunkelheit. „Normalerweise ist hier alles hell erleuchtet, auch da drüben, auf der anderen Seite des Dnjepr“, sagt Jevgenij. Wir können zwar Gebäude erkennen, auch die Straßenbeleuchtung funktioniert entlang größerer Straßen, wie uns scheint, aber in mehrgeschossigen Wohnblocks am Ostufer des Flusses brennt nur hier und da Licht. Mancherorts lassen sich Gebäudeansammlungen in einzelnen Vierteln mehr erahnen denn wirklich sehen. Für eine europäische Hauptstadt ist es einfach dunkel.
Explosionen in der Ferne
Die relative Finsternis Kyivs bereitet uns dennoch nicht auf die Ankunft in Charkow vor. Als wir die Stadt nach mehreren weiteren Kontrollpunkten gegen 23 Uhr erreichen, fällt es uns zunächst schwer zu verstehen, dass wir uns schon in der Stadt befinden. Die zweitgrößte Metropole der Ukraine liegt in Schwarz, Schwarzgrau, Schwarzblau vor uns. Charkow hüllt uns in ihr Dunkel. Über weite Strecken erhellen nur die Schweinwerfer unseres Wagens oder die seltenen Lichter entgegenkommender Fahrzeuge die Straßen, schwach scheinen kurzzeitig Lichter von Gebäudefassaden, Toreinfahrten oder aus Schaufenstern. Kaum zu glauben, dass hier vor dem Krieg 1,5 Millionen Menschen gelebt haben. In den ersten Monaten des Krieges war die Zahl der Menschen in der Stadt auf rund ein Zehntel der Vorkriegsbevölkerung zurückgegangen. Russische Truppen hatten die Stadt schwer beschossen, waren auf sie vorgerückt und hatten es geschafft, in äußere Stadtviertel vorzurücken, bevor sie zurückgeschlagen wurden. An unserem Ankunftsabend ist es noch schwerer zu glauben, dass ein großer Teil der Bevölkerung zurückgekehrt sein soll und nun wieder geschätzt eine Million Menschen in der Stadt leben sollen.
Kurz nach unserer Ankunft im Hotel heulen spät abends noch die Sirenen und warnen vor einem möglichen Beschuss – ein Signal, das uns die nächsten Tage begleiten wird. Dabei bedeutet nicht jeder Luftalarm auch notwendigerweise darauf folgende Einschläge. Die Luftabwehr warnt die Bevölkerung, sobald verdächtige Bewegungen am Himmel gesichtet werden. An jenem Abend hören wir tatsächlich Lärm in der Ferne, der für unsere Ohren nach Detonationen klingt. Ein junger Mann aus Saporischschja, den wir beim Rauchen treffen, meint dagegen, es sei nur Feuerwerk gewesen. Am nächsten Tag erfahren wir: Tatsächlich wurde eine Halle getroffen, in der unter anderem Feuerwerk lagerte. Unweit des Hauses, in dem eine Kollegin von Mirnoe Nebo wohnt. Was wir hörten, waren die kleinen Folgeexplosionen, die je nach Ausmaß durchaus gefährlich werden können. In diesem Fall ging anscheinend alles nochmal glimpflich aus.
medico unterstützt in der Ukraine unter anderem die Lebensmittelhilfe von Mirnoe Nebo in der Region Charkow, die Unterstützung von Binnenflüchtlingen durch die Landwirtschaftskooperative Longo Maï im Westen des Landes und Hilfslieferungen mit dem Nötigsten in Zufluchtsorte nahe der umkämpften Gebiete im Osten des Landes.