Eigentlich waren wir am Dienstagvormittag (25. April) für ein Online-Meeting verabredet, um mit Aktiven* in der Erdbeben-Nothilfe in Diyarbakir über Pläne für einen möglichen Wiederaufbau in der Region und die konkrete Projektplanung zu sprechen. Dabei wäre es um Perspektiven für diejenigen Betroffenen der Erdstöße vom Februar gegangen, die bis heute kaum staatliche Unterstützung erhalten haben. Sie gehören den ethnischen Minderheiten an, die im türkischen Erdbebengebiet strukturell benachteiligt werden: Kurd:innen, Alewit:innen und Armenier:innen.
Dank der vielen Spenden, die uns in den letzten Wochen erreicht haben und weiter erreichen, wäre es uns nun nach der unmittelbaren Nothilfe möglich, in die nachhaltige Planung des Wiederaufbaus von Dörfern einzusteigen und die psychologische Unterstützung Tausender Betroffener zu fördern. Immer noch ein kleiner Beitrag angesichts des immensen Bedarfs nach der Jahrhundertkatastrophe, aber doch relevant.
Größte Verhaftungswelle seit Jahren
Doch anstatt die Wiederaufbaupläne konkretisieren und die Organisation und Umsetzung gemeinsam mit den Partner:innen diskutieren zu können, erreicht uns am Dienstagmorgen eine kurze, schnell getippte Nachricht: „NGO-Mitarbeiter:innen, Juristen und Anwälte wurden verhaftet. Auch Mitarbeiterinnen von uns. Wir müssen uns jetzt darum kümmern. Können wir unser Treffen verschieben…?“
Nur drei Wochen vor der Parlaments- und Präsidentschaftswahl am 14. Mai, bei der – so lassen es zumindest die Umfragen leise hoffen – ein Ende des autoritären AKP-Regimes erstmals realistisch scheint – erlebt der Südosten der Türkei die größte Verhaftungswelle seit Jahren. Betroffen von dem Einsatz sind oppositionelle und pro-kurdische zivilgesellschaftliche Akteure. Über 200 Personen in 21 Städten wurden inzwischen in Polizeigewahrsam genommen. Stand heute wurden 31 Personen unter Aufsicht wieder freigelassen und 28 Menschen in Untersuchungshaft verlegt – wegen angeblicher Unterstützung oder Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation. Ein bereits bekannter Generalvorwurf, wegen dem seit Jahren Tausende in türkischen Gefängnissen ausharren.
Viele der verhafteten Jurist:innen, Journalist:innen, Künstler:innen und HDP-Mitglieder – darunter auch Kandidat:innen für die anstehende Wahl – waren in den Wochen zuvor in der Erdbebenhilfe aktiv. Sie haben kritisch berichtet, Betroffene anwaltlich vertreten oder ehrenamtlich in einem der zivilgesellschaftlichen Krisenstäbe mit angepackt. Viele Künstler:innen haben in kleinen Projekten mit traumatisierten Kindern gearbeitet. Nun fehlen sie.
Signal an die Zivilgesellschaft
Eine Verhaftungswelle solchen Ausmaßes kurz vor den anstehenden Wahlen ist ein deutliches Signal in Richtung der linken und kurdischen Opposition. Vor den Wahlen soll Angst geschürt werden, eine Warnung davor, sich an Wahlkampagnen oder anderen Veranstaltungen zu beteiligen. Gleichzeitig gehen lokale Aktivist:innen davon aus, dass das AKP-Regime für den Fall einer Wahlniederlage noch möglichst vielen Oppositionellen schaden wird. Dass die Zivilgesellschaft kurz vor den Wahlen so kriminalisiert wird, macht einmal mehr deutlich, wie antidemokratisch die aktuelle türkische Regierung vorgeht. Offensichtlich geht es besonders darum, die kritische Öffentlichkeit und aktive Zivilgesellschaft einzuschränken. Doch genau das braucht es insbesondere in den Tagen und Wochen vor den Wahlen.
Seit dem Erdbeben wurde die wichtige zivilgesellschaftliche Nothilfe immer wieder von den Behörden behindert. Insofern sind die Verhaftungen nicht nur ein politischer Skandal und individuell schwerwiegend, sie verhindern zudem konkrete Hilfe in einer der dramatischsten Notsituation seit Jahrzehnten in der Region.
Neben den oben erwähnten Kolleg:innen sind auch bei einer anderen Organisation, mit der wir über die Wiederaufbauhilfe in Kontakt sind, Kollegen von der Verhaftungswelle betroffen. Ob und wann wir unter diesen Bedingungen gemeinsam mit unseren Partner:innen den Wiederaufbau von unten beginnen können, lässt sich aktuell nicht abschätzen. Es ist nicht auszuschließen, dass die Repressionswelle weiter geht, offenbar gibt es noch mehr Haftbefehle. Warten wir die Wahlen ab. Sollten diese aber nichts ändern an den politischen Gegebenheiten in der Türkei, muss es endlich ein Umdenken geben bei der Bundesregierung, bei internationalen Gebern und der internationalen Hilfsgemeinschaft bezüglich der Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen in der Türkei.
Wir stehen weiter an der Seite unserer Partnerorganisationen in der Türkei und unterstützen sie – ob beim Wiederaufbau der Dörfer besonders marginalisierter Bevölkerungsgruppen oder im Umgang mit der Repression. In den letzten Jahren wurden immer wieder medico-Partnerorganisationen verboten, Büros gestürmt, Mitarbeiter:innen verhafteten oder sie mussten fliehen, um der Verhaftung zu entgehen.
Dass die Menschen in der Region dennoch immer neue Wege und Möglichkeiten gefunden haben, weiter zu machen, liegt in der generationenübergreifenden Erfahrung einer Unterdrückung begründet und im Festhalten am Kampf um eine andere, demokratische Türkei, in der alle Menschen auf ihrem Territorium einen Platz haben. Wir bitten weiterhin um die solidarische Unterstützung in diesen schwierigen Zeiten.
*Aus Sicherheitsgründen nennen wir keine Namen unserer Partnerorganisationen und ihrer Mitarbeiter:innen. Alle Organisationen, mit denen wir vor Ort in Kontakt stehen, sind Teil einer kritischen Zivilgesellschaft, viele – aber nicht alle – haben einen kurdischen Hintergrund. Seit dem Erdbeben sind sie in unterschiedlichen Bereichen der Nothilfe aktiv. In einem logischen nächsten Schritt der Zusammenarbeit haben sie sich an uns gewandt, um nach der unmittelbaren Nothilfe in eine nächste Phase überzugehen, die einen nachhaltigen Wiederaufbau und psychosoziale Hilfe einschließt. Sie und wir wissen, dass die sozialen, psychischen, ökonomischen und politischen Folgen des Erdbebens die Region noch über Jahre prägen werden.