Interview

Solidarität muss kritisch bleiben

29.03.2022   Lesezeit: 6 min

Nicaragua ist zur Diktatur geworden. Was bleibt von der Revolution von einst? Ein Gespräch mit dem scheidenden medico-Kollegen Dieter Müller.

medico: In einem Text von dir aus dem Jahr 2009 zum 30. Jahrestag der Sandinistischen Revolution zitierst du die ehemalige Guerilla-Kämpferin Dora María Téllez: „Ich glaube nicht, dass die Revolution verloren ging. Sie war erfolgreich. Je mehr Zeit vergeht, desto überzeugter bin ich davon. In den Köpfen der Nicaraguaner wurde verankert, dass sie Rechte haben: Menschenrechte, politische und soziale Rechte.“ Würdest du das heute noch so unterschreiben?

Dieter Müller: Absolut. Viele Menschen, die ich über die medico-Projekte in Nicaragua wie das Dorf-Projekt El Tanque kennengelernt habe, hatten genau diese Grundhaltung: Sie hatten in der Revolution Selbstwertgefühl, Stärke und Unabhängigkeit entwickelt, die bleiben. Angesichts des Versagens der sandinistischen Partei aber frage ich mich, wer künftig noch Erinnerung an eine Revolution in dem positiven Sinne haben wird, wie sie Dora María beschreibt. Von der Verherrlichung Ortegas haben die nachfolgenden Generationen zunehmend die Nase voll. Heute verbindet man mit der Revolution eine Riesenbühne voller Blumen und Honoratioren. Das ist nicht das Bild, das Dora María gezeichnet hat. Das ist das Bild einer arroganten Elite, die nichts mehr gemein hat mit den Revolutionär:innen von einst.

Gehen wir einige Jahrzehnte zurück. Als medico sein Engagement in Nicaragua anfing, stand noch das Konzept „Befreiungshilfe“ im Vordergrund. Was bedeutete das?

Die Erfolge der antikolonialen Befreiungsbewegungen auf dem afrikanischen Kontinent hatten eine Aufbruchsstimmung ausgelöst, die auch für medio lange sehr prägend war. Im Schulterschluss mit den neuen Regierungen ging es darum, das gemeinsame Ziel des Rechts auf Gesundheit, die Bedeutung von primärer Gesundheitsversorgung in die Praxis umzusetzen. Als 1979 die Revolution in Nicaragua gesiegt und sich das Land von einer brutalen Diktatur befreit hatte, war klar, dass auch hier der Gesundheitsbereich ein zentraler Faktor beim Aufbau eines neuen Staatswesens sein würde. Das nicaraguanische Gesundheitsministerium bat medico um Unterstützung. Weil im Norden des Landes relativ schnell der Krieg gegen die Contras begann, sollte medico helfen, im Süden in der Provinz Río San Juan das Prinzip der Gesundheit für Alle konkret zu verwirklichen. Es ging um Gesundheitsposten in Dörfern, Gesundheitszentren und um ein Kreiskrankenhaus in der Provinzhauptstadt. Zudem sollte eine Krankenschwesternschule in San Carlos für die Ausbildung lokalen Personals entstehen. All das ist tatsächlich verwirklicht worden – auch dank der massiven weltweiten Solidarität.

1990 kam ein Umbruch: Die FSLN verlor die Wahlen gegen ein von den USA unterstütztes antisandinistische Wahlbündnis.

Ja, und es passierte, was wir befürchtet hatten: Das Modell einer basisorientierten, auf den Menschen zentrierten Gesundheitsvorsorge und -versorgung hatte keine Priorität mehr. Wir konnten unser bisheriges Engagement an der Seite des Staates nicht fortsetzen, schließlich wollten wir kein Feigenblatt sein. Also sind wir dazu übergegangen, diejenigen zu unterstützen, die sich unter den neuen Bedingungen weiter für soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und Menschenrechte einsetzten. Ein ganz wichtiger Bereich war die Frauengesundheit. Denn die vormalige sandinistische Regierung hatte die sexuellen und reproduktiven Rechte der Frauen nicht verbindlich verankert. Schon damals hatten Teile der sandinistischen Frauenbewegung begonnen, sich unabhängig von der Partei mit ihren patriarchalen Strukturen zu organisieren und zu artikulieren. Dabei entstanden Organisationen, mit denen wir zum Teil sehr lange kooperiert haben. Die Themen reichten von Geburtshilfe bis zu psychologischen Beratungsangeboten, die auch innerfamiliäre und sexualisierte Gewalt thematisierten.

Ein weiterer Einschnitt war 1998 Hurrikan Mitch, der riesige Zerstörungen anrichtete.

Vor Ort wussten die Leute um unsere Erfahrung mit integrierten Ansätzen: dass es in einer Katastrophe also nicht nur darum geht, Essenspakete zu verteilen und Notunterkünfte zu errichten. Als wir von Überlebenden gefragt wurden, ob wir sie unterstützen würden, Land zu besetzen und neu anzufangen, haben wir sofort zugesagt. Die Menschen brauchten eine neue Lebenswelt: Wohnraum, sauberes Wasser, Gesundheit, Bildung, Psychosoziales – es ging ums Ganze. Hieraus ist das Dorf El Tanque entstanden. Auch seine Genossenschaft gibt es bis heute. Trotz allen Drucks verkaufen die Menschen ihr Land nicht an die Zuckerrohr- und Erdnussindustrie. Sie sehen, dass es ihnen und ihren Kindern eine andere Zukunft ermöglicht.

Die FSLN kehrte 2007 an die Macht zurück. Verfolgte die Regierung damals noch ein Projekt gesellschaftlicher Veränderung? Oder hatte sie schon längst den autoritären Pfad eingeschlagen?

Schon Mitte der 1990er-Jahre war es in der FSLN zu internen Brüchen gekommen. Die Abwendung der Basis von der Partei vollzog sich aber langsamer und schleichend. Bei der Wiederwahl verkörperte die FSLN bereits vollends eine Mischung aus paternalistischem, karitativem und kapitalistischem Ansatz, bei Beibehaltung einer revolutionären Rhetorik. Man muss allerdings sehen, dass die Regierung vor allem dank der Unterstützung aus Venezuela großzügige Sozialprogramme auflegen konnte. Die Kritik, dass solche Programme rein karitativ sind und nichts an den Strukturen ändern, wurde damals vor allem von den intellektuellen und politischen Kadern und auch international geäußert. Viele Menschen aber haben Zinkbleche oder Lebensmittelrationen dankend angenommen – und sind der Partei treu geblieben. Damals haben diejenigen, die heute die orteguistische Elite bilden, dafür gesorgt, dass sich eine Wahlniederlage wie 1990 nicht wiederholt. Weder die politische Macht noch der Zugriff auf die ökonomischen Ressourcen sollte noch einmal verloren gehen. Zum Beispiel wurde die Hilfe aus Venezuela nicht mehr über den Staat, sondern über private Konstrukte verwaltet – eine Einladung zur Korruption.

2018 eskalierte die Situation: Die Regierung ließ die breite Protestbewegung, die sich im ganzen Land erhoben hatte, brutal niederschlagen. Warst du von dem Ausmaß der staatlichen Gewalt überrascht?

Als vor einigen Jahren die Proteste der Frauenbewegung massiv angegangen wurden und Polizei und Militär kurz darauf auch gegen die Bäuerinnen und Bauern vorgingen, die gegen die Planungen für einen interozeanischen Kanal protestierten, waren das Belege für eine zunehmende Repression. Die Gewalt fand auch nicht isoliert statt, sondern wurde an verschiedenen Orten eingesetzt. Aus meiner Sicht war es trotzdem kaum absehbar, dass 2018 in Managua Straßenkämpfe stattfinden und Polizisten auf Studierende schießen würden.

Aus Demokratie und Aufbruch ist das Gegenteil geworden: ein erstarrtes System, in dem jede Form der Opposition unterdrückt wird. Die eingangs zitierte Dora María Téllez ist von einer politischen Justiz wegen Verschwörung verurteilt worden. Welche Fehler oder Versäumnisse der internationalen Linken haben zu dieser Entwicklung beigetragen?

Wir müssen uns intensiver damit auseinandersetzen, was kritische Solidarität aus linker Perspektive konkret bedeutet. Falsch verstandene Rücksichtnahme gegenüber real oder vermeintlich linken Regierungen halte ich für einen Fehler. Schon im Nicaragua der 1980er-Jahre hätte die internationale Linke zum Beispiel in Fragen der Frauenrechte, der Partizipation und auch der Rechte ethnischer Minderheiten deutlicher werden müssen. Es ist auch immer wichtig, dass es Akteur:innen gibt, die solidarisch, aber kritisch begleiten, was Linke in der Regierung machen. Es braucht eine kritische Masse und Kraft außerhalb. Aber die Hauptkritik müssen wir als internationale Linke an uns selber richten. Wir haben viel zu oft die Augen zugemacht. Angesichts unserer eigenen Unfähigkeit, bei uns im Globalen Norden etwas zu verändern, haben wir vieles auf andere Länder projiziert: „Möge dort die Befreiung stattfinden. Wir unterstützen sie.“ Insofern kann die Frage, was die Sandinist:innen für Fehler gemacht haben, nur zusammen gehen mit der Frage danach, was wir falsch gemacht haben.

Interview: Moritz Krawinkel, Transkription: Anna Pagel

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2022. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!


Jetzt spenden!