Nicaragua

Staatenlos im eigenen Land

31.03.2023   Lesezeit: 4 min

Das Ortega/Murillo-Regime hat über 300 Menschen die Staatsbürgerschaft entzogen, darunter die 84-jährige Menschenrechtsaktivistin Vilma Núñez.

Von Erika Harzer

So etwas hat es in der modernen Geschichte des Völkerrechts bisher nicht gegeben: Am 9. Februar hat das Regime in Nicaragua 222 Menschen die Staatsbürgerschaft entzogen und sie direkt aus ihren Gefängniszellen in die USA abgeschoben. Als politische Gefangene waren sie zum Teil über Jahre in Isolationshaft, ohne Kontakt oder Ablenkung, unzureichend medizinisch versorgt und unterernährt. Und jetzt die Ausbürgerung. Um Oppositionelle loszuwerden, schreckt die Familiendiktatur Ortega/Murillo vor nichts zurück.

Nicht einmal eine Woche später, am 15. Februar, erhielten weitere 94 Menschen den Ausbürgerungsbescheid. Sie hätten gegen die „nationale Integrität“ verstoßen und zur Destabilisierung des Landes aufgestachelt. Damit will das Ortega/Murillo-Regime innerhalb des Landes auch den letzten verbliebenen, kaum noch sichtbaren Raum für regierungskritische Äußerungen oder Aktionen schließen.

Den nunmehr staatenlosen Menschen – unter ihnen auch die frühere Guerillera und medico-Partnerin Dora María Téllez – wird nicht nur der Pass entzogen. Der nicaraguanische Staat beschlagnahmt als Bestrafung für „die begangenen Verbrechen“ auch Immobilien, Unternehmen und sonstige Güter, die ihnen persönlich gehören oder an denen sie als juristische Person oder Gesellschafter beteiligt sind. Darüber hinaus wurden all ihre Daten in den Ämtern gelöscht, wie beispielsweise auch die Geburtsurkunden. Ihre Geschichte ist damit gestrichen, ebenso ihre Krankenversicherung und bei den älteren Menschen auch ihre Pensionsansprüche.

Von den 94 Ausgebürgerten des 15. Februar leben 92 bereits im Exil. Doch zwei halten sich nach wie vor in Nicaragua auf und wollen das Land auch nicht verlassen.

Bischof Rolando Álvarez stand seit August letzten Jahres wegen öffentlich geäußerter Kritik am Ortega/Murillo-Regime unter Hausarrest. Er sollte mit der Gruppe der politischen Gefangenen in die USA abgeschoben werden, weigerte sich jedoch, das entsprechende Dokument zu unterschreiben. Unmittelbar nach seiner Weigerung wurde er in einem Schnellverfahren zu 26 Jahren und vier Monaten Haft verurteilt und ins Gefängnis verbracht. Die Anklagepunkte: Ungehorsam, Untergrabung der nationalen Integrität und weitere Delikte.

Die zweite Person ist die 84-jährige Vilma Núñez de Escorcia, eine international anerkannte Menschenrechtsaktivistin und Präsidentin des unabhängigen Nicaraguanischen Zentrums für Menschenrechte (CENIDH). Im Jahr 2019 hatte die Organisation, mit der auch medico zusammengearbeitet hat, den Internationalen Bremer Friedenspreis der Stiftung die schwelle für ihr Engagement für Menschenrechte in Nicaragua erhalten.

Ein Leben für die Menschenrechte

Ein Blick in die Geschichte von Vilma Núñez zeigt neben ihrem Engagement für Menschenrechte auch eine enge Verbindung zur früheren revolutionären FSLN, der sandinistischen Befreiungsfront. Mitte der 1970er Jahre hatte sich Núñez als Jura-Studentin der FSLN angeschlossen und gründete 1978, noch vor dem Triumpf über das diktatorische Somoza-Regime, eine erste Regionalgruppe der Permanenten Kommission der Menschenrechte in Nicaragua. Sie selbst war wegen der Teilnahme an Protesten verhaftet und in Somozas Kerkern gefoltert worden. Nach dem erfolgreichen Befreiungskampf 1979 wollte auch sie ein freies und gerechtes Nicaragua mit aufbauen. Dafür arbeitete sie bis 1987 als stellvertretende Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs, danach übernahm sie die Leitung der Nationalen Menschenrechtskommission.

Nach der Wahlniederlage der Sandinisten 1990 gründete Vilma Núñez die unabhängige Menschenrechtsorganisation CENIDH, die sich zunehmend vom Sandinismus distanzierte und nach der Wiederwahl der FSLN Mitte der 2000er Jahre schließlich in Opposition zur einstigen Revolutionspartei stand.

Im Zuge der Niederschlagung des breiten, zivilen Aufstands des Jahres 2018 entzog das Ortega/Murillo-Regime im Dezember jenen Jahres zivilgesellschaftlichen Initiativen, darunter die medico-Partnerorganisation Popol Na und das CENIDH, die juristische Person und verbot die Organisationen. Bis heute wurden über 3300 Nichtregierungsorganisationen in Nicaragua verboten. Das Bürohaus des CENIDH wurde enteignet und Sicherheitskräfte konfiszierten in einer nächtlichen Überfallaktion die komplette Ausstattung der Organisation, darunter Fahrzeuge und Dokumente. Die meisten Mitarbeiter:innen flüchteten nach Costa Rica und arbeiten von dort in einer neu gegründeten Menschenrechtsorganisation weiter.

Vilma Núñez blieb trotz aller Repressalien in Managua will dort ihre Menschenrechtsarbeit fortführen. Sie könne doch die Menschen nicht im Stich lassen, beantwortet sie seither wiederholt Fragen zu ihrer persönlichen Sicherheit in Nicaragua. Im Sommer 2022 sagte sie dem internetmedium infobae.com, sie wolle nicht sterben, ohne das Ende der Diktatur gesehen zu haben.

Nun ist Vilma Núñez direkt von der Diktatur angegriffen. Sie ist staatenlos in einem Staat, der die Menschenrechte missachtet, in dem Willkür herrscht, in dem Menschen misshandelt, gefoltert und ihrer Rechte beraubt werden.

Die Sorge um die 84-jährige Menschenrechtsaktivistin ist groß bei all den Menschen, mit denen sie in den vergangenen Jahrzehnten über alle Grenzen hinweg zusammengearbeitet hat. Was wird das Regime mit ihr machen? Ein Regime, das in den vergangenen Jahren wiederholt gezeigt hat, wie weit es im Umgang mit kritischen Bürger:innen seines Landes zu gehen bereit ist.

Erika Harzer ist ist Autorin für Radiofeature, Dokumentarfilm und Printreportagen. 


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