Liebe Freundinnen und Freunde,
Danke, dass ihr heute hier seid. Danke auch an alle, die in den nächsten Tagen in vielen anderen Städten Gedenkaktionen organisieren.
Am nächsten Mittwoch liegen die rassistischen Morde von Hanau genau 60 Monate zurück.
261 Wochen ohne Ferhat Unvar, ohne Hamza Kurtović, ohne Said Nesar Hashemi.
1827 Tage ohne Vili-Viorel Păun, ohne Mercedes Kierpacz, ohne Kaloyan Velkov.
43.848 Sekunden ohne Fatih Saraçoğlu, ohne Sedat Gürbüz, ohne Gökhan Gültekin.
Wir vermissen Euch so sehr und wir werden Euch niemals vergessen.
Wir gedenken heute unserer Liebsten und wir wollen und müssen uns aber auch fragen, was wir in diesen fünf Jahren erreicht haben – und was nicht. Ich möchte den heutigen Abend nutzen, um dazu etwas zu sagen.
Beginnen wir mit dem Negativen.
Die AfD hat am 19. Februar 2020 mitgeschossen. Der Täter war von den Rassisten der AfD beeinflusst und aufgehetzt. Das haben wir nach dem Anschlag immer wieder und wieder betont. 2021 stand die AfD auf Bundesebene bei circa zehn Prozent. Keine vier Jahre später, jetzt am 23. Februar 2025, wird diese rechtsextreme Partei aller Wahrscheinlichkeit nach mit über 20 Prozent in den Bundestag einziehen. Wie kann das sein?
Und noch schlimmer: CDU und FDP haben die AfD am 29. Januar 2025 auf neuer Ebene hoffähig gemacht. Wenige Stunden nachdem im Bundestag der Opfer von Auschwitz gedacht wurde, inszeniert CDU-Kanzlerkandidat Merz eine beschämende, rassistische Wahlkampf-Show und stimmt gemeinsam mit den Neonazis für noch härtere Maßnahmen gegen Geflüchtete und Zuwanderer. Fünf Jahre nach Hanau sind Rechtsextreme und Rassisten nicht nur in den USA, in Italien oder Ungarn, sondern auch in Deutschland weiter auf dem Vormarsch. Ich frage mich, wie ist das möglich? Was haben wir falsch gemacht? Und können wir das Ruder überhaupt noch rumreißen?
Kommen wir auf die Länderebene. Bereits im Februar 2021, also zum ersten Jahrestag, haben wir die Kette des Versagens von Behörden und Polizei in Hessen skandalisiert. In den Monaten und Jahren danach haben wir weiter ermittelt und mit Hilfe von Rechtsanwälten und Rechtsanwältinnen zahlreiche Strafanzeigen gestellt. Mit den Rekonstruktionen von Forensic Architecture, mit unseren Aussagen im Untersuchungsausschuss, mit all unserer Kraft haben wir wirklich alles versucht, damit Hanau zumindest einige wenige politische, juristische und personelle Konsequenzen hat. Doch nichts, gar nichts konnten wir auf diesen Ebenen erreichen. Alle Strafverfahren wurden von den Staatsanwaltschaften in kürzester Zeit eingestellt. Innenminister Beuth hat alle Kritik ausgesessen und die Schlimmsten Hanau-Versager bei der Polizei – Roland Ullmann und Jürgen Fehler – wurden für ihre krassen Fehler sowie ihre Vertuschungsversuche auch noch belohnt und im Apparat befördert. Das ist eigentlich nicht zum Aushalten und ich frage mich, wie kann das sein? Was hätten wir anders machen müssen?
Ja, unsere Stimmen waren und sind laut und das über viele Jahre, in denen die Verantwortlichen darauf gesetzt haben, dass wir endlich müde werden. Wir schweigen auch heute nicht, doch ich frage mich, wie können wir wirklich etwas verändern?
Kommen wir zum Positiven. Denn wir bereuen nichts und wir glauben und hoffen, dass wir auf anderen Ebenen Einiges erreichen konnten.
Say their Names – wir haben diesen Slogan von Black Lives Matter übernommen und die Namen unserer Liebsten mit all Euren Stimmen immer wieder gemeinsam ausgerufen. Wir haben den Täter rechts liegen lassen und mit Euch die Opfer in den Mittelpunkt gerückt.
Wir haben einen Raum – unsere 140 Quadratmeter gegen das Vergessen – geschaffen und wurden dort von so vielen besucht und niemals allein gelassen.
Wir haben zur Unterstützung aufgerufen und haben diese – von psychologischen Begleitungen bis hin zu Geldspenden – von so vielen Seiten erhalten.
Wir haben Kundgebungen und Demonstrationen organisiert und wir wurden getragen von den Vielen, die gekommen sind und mitgewirkt haben.
Wir haben unzählige Veranstaltungen in Hanau vorbereitet und sind immer wieder in viele andere Städte eingeladen worden.
Wir haben andere Betroffene ermutigt, lauter zu werden, und wir wurden von anderen Betroffenen ermutigt, niemals wieder leise zu sein.
Wir haben selbst ermittelt und recherchiert und wurden nachhaltig von denjenigen unterstützt, die das juristisch und forensisch viel besser können.
Wir haben gelernt, mit den Medien zu reden und sind dabei auf viele kritische und empathische Journalisten und Journalistinnen getroffen.
Wir haben unsere Erfahrungen und unsere Schmerzen geteilt und kreative Freundinnen und Freunde haben daraus Lieder, Theaterstücke und Filme produziert.
Wir haben selbst erste Bücher geschrieben und viele sind zu unseren Lesungen gekommen.
Wir haben unermüdlich für Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung und Konsequenzen gekämpft und wir haben dafür von verschieden Organisationen anerkennende Preise bekommen.
Wir haben unsere Kraft gegeben, und wir haben ganz viel Kraft zurückbekommen.
Gegenseitige Unterstützung, gemeinsame Kämpfe – das heißt für uns: GELEBTE SOLIDARITÄT! Und diese werden wir weiter brauchen.
Denn wir wissen alle: die nächsten Jahre werden schwer. Rassistische Hetze erscheint mehr denn je als Normalität. Wenn wir die fünf Jahre zurückblicken, müssen wir ehrlich sagen: wir haben es gesamtgesellschaftlich nicht geschafft, Rassismus und Rechtsruck zurückzudrängen.
Doch wir haben starke Momente geschaffen, die ausstrahlen.
Wir haben gemeinsame Erfahrungen gemacht, die uns tragen.
Wir kämpfen für die Gesellschaft der Vielen und das bleibt unsere Perspektive.
Wir können nicht aufgeben.
Wir wollen nicht aufgeben.
Wir werden nicht aufgeben.
Vielen Dank für Eure Aufmerksamkeit.
Çetin Gültekin hielt diese Rede auf der Gedenkveranstaltung am 15. Februar in Hanau.