Mitte Juni fand in Göttingen eine von medico unterstützte Konferenz gegen das Abschiebe- und Lagersystem in Deutschland statt. Wir haben mit Jibran Khalil gesprochen, der die Zusammenkunft mitorganisiert hat. Er ist aktiv bei We’ll Come United und bei Jugendliche ohne Grenzen.
medico: Mehr als 300 Menschen aus über 60 Städten haben sich zur „No Lager – Break Isolation“-Konferenz getroffen. Was war Motivation und Anlass sich zu treffen?
Jibran Khalil: Ziel der Konferenz war es, die lokalen Kämpfe von Geflüchteten und ihren Unterstützer:innen zu verbinden. Wir setzen uns in verschiedenen Orten Deutschlands gegen die menschenunwürdige Unterbringung in Lagern und gegen Abschiebungen ein. Die Erfahrung von Aktivist:innen aus verschiedenen deutschen Städten hat gezeigt, dass grundlegende Rechte von geflüchteten Menschen systematisch unterlaufen werden. Überall stehen wir vor lokal spezifischen, aber auch ähnlichen Problemen: Isolation von der Außenwelt, Unterbringung auf engstem Raum ohne Privatsphäre, übergriffiges Verhalten von Sicherheitspersonal und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, beispielsweise aufgrund von Hausregeln ohne jegliche Gesetzesgrundlage. Dies hat sich insbesondere durch die Covid-Pandemie extrem verschärft. Hinzu kommt die ständige Bedrohung durch Abschiebungen mitten in der Nacht und die Kämpfe dagegen.
Um unsere bundesweite Organisierung zu stärken, wollten wir uns endlich wieder in Präsenz sehen. Zuletzt konnten wir uns nur digital austauschen. Menschen, die gezwungen sind, in Lagern zu leben, hatten gar keine Möglichkeit, sich nach außen zu vernetzen. Wir wollten auch diejenigen, die in Erstaufnahmeeinrichtungen in verschiedenen Bundesländern untergebracht sind, erreichen und einen Raum des Austausches über ihre Schwierigkeiten und Probleme schaffen, sowie Möglichkeiten des kollektiven Widerstands dagegen. Göttingen hat sich wegen der zentralen Lage in Deutschland angeboten und ist seit längerem ein Vernetzungspunkt der antirassistischen Szene.
Wie hat die Pandemie in den letzten zwei Jahren die antirassistische Bewegung beeinflusst?
Der ungleiche und rassistische Umgang mit der Corona-Pandemie hat dazu geführt, dass sich gerade Lager mit Geflüchteten in Corona-Hotspots verwandelt haben – auch in Deutschland. Ausgangssperren wurden verhängt und Geflüchtete vom Rest der Bevölkerung isoliert. Gleichzeitig haben es die Bedingungen in den Unterkünften fast unmöglich gemacht, sich vor dem Virus zu schützen. Darum haben Geflüchtete an verschiedenen Orten immer wieder gegen die Zustände in den Lagern protestiert und es kam auch zu Hungerstreiks. Aber die Polizei hat die Proteste regelmäßig gewaltsam niedergeschlagen, wie beispielsweise in Suhl oder Halberstadt.
Wir hatten uns während der Pandemie immer wieder online getroffen und versucht zu vernetzen. Aber Geflüchtete, die in den Lagern leben, haben oft auch keine Möglichkeit, digital an Treffen teil zu und so Kontakt zur Außenwelt zu bekommen. Viele Geflüchtete konnten deshalb keine Kontakte zu bestehenden antirassistischen Netzwerken aufbauen und hatten durch die Aussetzung von Sprachkursen und die allgemeine Isolation auch keine Gelegenheit, anderweitig einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Wir haben auf der Konferenz richtig gemerkt, wie es den Menschen aus den Lagern emotional gut getan hat, sich endlich wieder in Präsenz zu treffen.
Welche Gruppen und Städte waren dabei und welche neuen Verbindungen wurden geknüpft?
Das besondere an der Konferenz war die Verbindung von Netzwerken, die seit langem in der antirassistischen Arbeit aktiv sind – von We’ll Come United, No Border Assemblies und Lagerwatch-Initiativen über Bürgerasyl, Netzwerk.medien.vielfalt! und Solidarity City bis zu Flüchtlingsräten – mit Menschen, die erst kürzlich nach Deutschland gekommen sind oder schon lange in Lagern leben, aber noch nicht viele Kontakte zur antirassistischen Szene hatten. Einige von ihnen sind auch von Abschiebungen bedroht oder haben bereits Abschiebungen erlebt. Es gab eine extra Vorbereitungsgruppe zur Mobilisierung in Lagern und insbesondere Aktion Bleiberecht Freiburg hat es geschafft, viele Menschen aus den Lagern und Unterkünften in Süddeutschland zu mobilisieren. Mir ist aufgefallen, dass besonders viele Menschen aus der Schwarzen Community vor Ort waren, von denen ich viele noch nicht kannte.
In euren Veröffentlichungen sprecht ihr von einem Lagersystem in Deutschland. Was meint ihr genau damit? Was ist das Problem an der Lagerunterbringung und warum muss dieses System überwunden werden?
Lager isolieren die Menschen voneinander und sperren sie in Industriehallen, Kasernen oder prekären Wohnblöcken auf engstem Raum ein. Wir sprechen von einem System, weil es sich bei dieser Entrechtung nicht um Einzelfälle handelt – sie ist systematisch in ganz Deutschland und darüber hinaus. Das Lagersystem ist nicht nur eine Form der Unterbringung. Lager dienten schon immer der Abschreckung, der schnelleren Abschiebungen und der Verhinderung von Rechtsschutz. Lager haben System, weil mit ihrem Betrieb bewusst politische Ziele verfolgt werden. Lager sind Ausdruck einer repressiven Migrationspolitik, ein menschenwürdiges Leben ist dort nicht möglich.
Teilweise leben auf 16 Quadratmetern drei Menschen. Ich habe Freunde, die dort untergebracht sind. Es gibt keine Privatsphäre und keine Ruhe, um sich entspannen zu können. Dies könnte auch ganz anders aussehen, wie es uns teilweise auch der bessere Umgang mit fliehenden Ukrainer:innen gezeigt hat. Wir müssen endlich verstehen, dass Deutschland eine post-migrantische Gesellschaft ist und es deshalb auch gleiche Rechte für alle braucht. Es braucht keine Lager! Wir fordern nicht nur die Abschaffung des Lagersystems, sondern auch, Mietspekulation und Gentrifizierung zu stoppen und den sozialen Wohnungsbau massiv zu steigern, damit kostengünstiger Wohnraum für alle Menschen, die hier leben, zur Verfügung steht. Wir wollen Kämpfe verbinden und fordern gleiche soziale Rechte für alle. Deutschland muss sich an die Menschenrechtskonvention halten und diese umsetzen. Deutschland ist eine der größten und reichsten Industrienationen und trotzdem fällt es hier so schwer, ausreichend bezahlbaren Wohnraum zu schaffen.
Mit dem Rückgang der Corona-Zahlen versuchte die Bundesregierung, wieder vermehrt Abschiebungen durchzuführen. Beispielsweise fanden bis direkt vor der Machtübernahme der Taliban Sammelabschiebungen nach Afghanistan statt. Wie geht die antirassistische Bewegung damit um?
Es war fatal, dass die vorherige Bundesregierung, mit Heiko Maaß als Außenminister, Afghanistan als sicher eingestuft und Menschen dorthin abgeschoben hat. Viele dieser Menschen sind nun schwer bedroht und es ist fast unmöglich, sie in das Evakuierungsprogramm der Bundesregierung aufzunehmen. Wir haben die Befürchtung, dass auch die neue Bundesregierung bald wieder mit Abschiebungen nach Afghanistan beginnen wird. In Deutschland leben 240.000 Menschen nur mit einer Duldung und die Ampel-Koalition spricht im Koalitionsvertrag von einer sogenannten „Rückführungsoffensive“. Darüber wird auf den Innenministerkonferenzen auch immer wieder diskutiert. Sogenannte „Gefährder“ sollen abgeschoben werden können. Dies ist ein absurdes Konstrukt, das aufgrund von Stereotypen und kleinsten Widersetzungen der Personen beispielsweise gegen rassistische Hausregelungen eine potentielle Straffälligkeit antizipiert.
Es gibt viele, die dachten, wenn die Grünen mit an der Regierung sind, wird alles gut. Aber in fast allen Bundesländern, in denen die Grünen (mit-)regieren, wurden Menschen nach Afghanistan abgeschoben. Wir haben die klare Forderung, dass es keine Abschiebungen nach Afghanistan oder sonstwohin geben darf und auch keinerlei Zusammenarbeit mit den Taliban. Im Gegenteil: Menschen, die noch in Afghanistan leben und gefährdet sind, müssen sofort nach Deutschland gebracht werden. Es gibt hier immer noch tausende Afghan:innen, die hier nur eine Duldung haben und in ständiger Angst vor Abschiebung leben müssen. Die Bundesregierung muss ihnen ein Bleiberecht geben. Im Juni haben wir dazu eine große bundesweite Aktion gemacht, es gibt eine Website „Afghanistan is not safe“. Auf der Konferenz gab es Workshops dazu, wie man Abschiebungen verhindern kann. Es gab eine Vernetzung von Aktivist:innen, die in verschiedenen Städten gegen Abschiebegefängnisse kämpfen, beispielsweise das Netzwerk Kirchenasyl, Bürgerasyl und Solidarity City.
Nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs wurden die Grenzen für Geflüchtete aus der Ukraine geöffnet. Auf der anderen Seite steht die Festung Europa für Menschen, die aus anderen Ländern vor Krieg und Verfolgung fliehen müssen, nach wie vor. Wie schätzt ihr diese Ungleichbehandlung ein? Womit hat das zu tun?
Auf der Konferenz wurde festgehalten, dass wir auf der Seite von allen Menschen stehen, die vor Krieg und Verfolgung und aus jeglichen anderen Gründen nach Deutschland fliehen müssen und wir uns nicht gegeneinander ausspielen lassen. Das Recht zu kommen, zu gehen und zu bleiben ist ein Menschenrecht. Wir haben aber auch diskutiert, dass die Ungleichbehandlung von weißen Geflüchteten mit ukrainischem Pass und BIPoC (Black, Indigenous, Persons of Coulour) aus der Region oder allen anderen Weltregionen mit dem offenen Rassismus hierzulande zu tun hat. Ich finde es natürlich gut, dass die Ukrainer:innen schnell die Rechte bekommen haben, die uns bis heute vorenthalten werden, aber dies zeigt, dass es auch möglich ist, uns diese Rechte zuzugestehen. Es geht hier letztlich um staatliche Interessen, welche Gruppen willkommen geheißen und welche abgeschoben werden.
Ein Schwerpunkt der Konferenz lag auf der Vernetzung und Selbstorganisation von Geflüchteten und Migrant:innen. Warum ist eine eigenständige Organisation so wichtig? Wie können verschiedene Menschen mit und ohne Fluchthintergrund oder Betroffenheit von Rassismus aber auch wirksam gemeinsam kämpfen?
Es ist wichtig, einen eigenen Schutzraum für Diskussionen und Erfahrungsaustausch zu haben. Wenn die Menschen hier ankommen und im Lager sind, brauchen sie natürlich Unterstützung. Und es ist immer gut, wenn es selbstorganisierte Gruppen von Betroffenen sind, die helfen, weil sie sich in die Lage der Menschen hineinversetzen können. Sie können das auch emotional, sprachlich und kulturell besser nachvollziehen. Bei Ramadan haben sich alle gegenseitig gratuliert, aber die meisten deutschen Unterstützer:innen wussten gar nichts damit anzufangen (lacht).
Auf unserer Konferenz waren viele Geflüchtete von der Schwarzen Community dabei. Ihre Motivation war es, sich darüber auszutauschen, wie man gemeinsam gegen Repression kämpfen kann. Es ist wichtig, dass es dafür Raum gibt. Zugleich ist es auch gut, wenn weiße Deutsche aktiv sind, sie haben einen gesicherten Aufenthaltsstatus, kennen die Strukturen und das Rechtssystem. Es ist wichtig, die Kämpfe zu verbinden. Und gleichzeitig wollen wir auch selber entscheiden, welche Kampagnen, welche Konferenzen wir durchführen.
Was für Pläne habt ihr in der Zukunft? Was sind eure Forderungen?
Wir haben auf der Konferenz beschlossen, dass wir für die bundesweite Demonstration zum Gedenken an das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen vor 30 Jahren mobilisieren und uns daran beteiligen. Außerdem wollen wir uns Anfang nächsten Jahres wieder treffen und analysieren, wie die Politik der Bundesregierung sich entwickelt hat. Wir wollen vor allem die von der Bundesregierung ausgerufene „Rückführungsoffensive“ beobachten und dagegen vorgehen. Den Kampf für ein bedingungsloses Bleiberecht aller Menschen setzen wir fort.
Das Interview führten Kerem Schamberger und Valeria Hänsel.