Ukraine/Deutschland

Vom Krieg ans Band?

22.09.2022   Lesezeit: 6 min

Migration und Arbeit in der heutigen Bundesrepublik. Von Peter Birke.

Im Frühjahr 2022 fährt ein Team eines der größten Hersteller von Fleischprodukten in Europa an die polnische-ukrainische Grenze. Die Rekruiter:innen der Firma Tönnies wollen soeben vor dem Krieg geflüchtete Frauen für das Fließband ihrer Fabrik in Rheda (Ostwestfalen) anwerben. Das Versprechen: Unterkunft, Arbeitsplatz, ein dauerhaft gesicherter Aufenthalt. Klingt nicht schlecht, doch die Firma Tönnies ist berüchtigt. In der Pandemie war die deutsche Fleischindustrie in die Schlagzeilen geraten. Überall war es angesichts der Arbeitsbedingungen zu Masseninfektionen gekommen, und auch in Rheda hatten sich über 1.500 von rund 6.000 Beschäftigten mit dem COVID-19-Virus angesteckt. Die meisten davon waren Arbeiter:innen mit osteuropäischen Pässen, die Verträge mit diversen Subunternehmen hatten. Wer sich auf die Arbeit in der Fleischindustrie einlässt, hat zumeist einen prekären Aufenthalt und / oder eingeschränkten Zugang zu Lohnersatzleistungen. Zugleich ist Grundlage dessen, dass die Fleischindustrie mehr als zwei Jahrzehnte boomt, das Vorhandensein von Arbeitskräften, die zu – im Vergleich zu unseren europäischen Nachbarländern – konkurrenzlos billigen Löhnen ausgebeutet werden.

Corona-Skandal

Im März 2020 – Mitten im Lockdown – hatte diese Entwicklung einen Scheitelpunkt erreicht. Nie war der Umsatz in Schlachtung, Zerlegung und Verarbeitung von Fleisch in Deutschland höher gewesen. Und während anderswo Erwerbslosigkeit und Kurzarbeit angesagt war, schufteten die Menschen an der Schlacht- und Zerlegekette in einem unerhörten Tempo, in harten, physischer und psychisch belastender Arbeit, und bei angesichts der notwendigen Kühlung der Tiere unmittelbar nach ihrer Tötung, bei Wintertemperaturen. Die Masseninfektionen lösten eine öffentlichen Debatte über die Bedingungen dieser Art von Produktion aus. Man könnte diese Debatte als paradigmatisch bezeichnen. In vielen Sektoren der bundesdeutschen Ökonomie werden Migrantinnen und Migranten zu ähnlichen Bedingungen wie in der Fleischindustrie eingesetzt. Man denke an den Versandhandel, an Warenlager, an die Gebäude- und Industriereinigung, an Paketdienste oder die 24-Stunden-Pflege. Nach den Erfahrungen des Frühjahrs und Sommers 2020 wurden zum 1.1.2021 Werkverträge in den Kernbereichen der Fleischindustrie durch das Arbeitsschutzkontrollgesetz verboten – in anderen Bereichen nicht. So mag die durch das Verbot hervorgerufene Einschränkung der Nutzung von Arbeitskräften ein Grund für jenen Versuch von Tönnies gewesen sein, den Krieg gegen die Ukraine zur Anwerbung von neuen Arbeitskräften zu nutzen.
Die Geschichte hat allerdings noch eine andere, tiefere Dimension, die eine Bedeutung für alle hat, die sich für Menschenrechte und Antirassismus engagieren: In der Bundesrepublik hat sich das Migrationsregime seit Mitte der 2010er Jahre grundlegend verändert. Kurz zusammengefasst, kam es zu zwei Bewegungen. Erstens zu einer – übrigens auch im europäischen Vergleich weitegehenden – Öffnung des Arbeitsmarktes für Menschen, die mit Pässen aus Drittstaaten einreisen.

Selektive Zuwanderungspolitik

Vom „Integrationsgesetz“ (2016) bis zum „Fachkräftezuwanderungsgesetz“ (März 2020) wurde der Zusammenhang zwischen der Erlangung eines dauerhaften Aufenthalts und erweiterter sozialer Rechte zunehmend von der Bewährung der Zugewanderten auf dem Arbeitsmarkt abhängig gemacht. Anders als der Begriff des „Fachkräftemangels“ es nahelegt, geht es dabei jedoch weder ausschließlich noch in erster Linie um die Suche nach hochqualifizierten Arbeiter:innen. Es geht vielmehr darum, überhaupt Arbeitskräfte dort zu gewinnen, wo sie seit einigen Jahren stark nachgefragt sind, also gerade auch für Tätigkeiten, die als niedrig qualifiziert bewertet und schlecht bezahlt sind. Schon der Umstand, dass im Gesetzespaket von 2016 u.a. der Forderung der Arbeitgeberverbände nach einer Öffnung des Zugangs von Asylbewerber:innen zu Leiharbeit nachgekommen wurde, illustriert dies. Die danach erfolgte Erweiterung von Kontingenten (u.a. sogenannte „Westbalkanregelung“), für die Landwirtschaft, den Bau und andere Sektoren, ist ein weiteres Indiz. Ebenso wie die Tatsache, dass aktuell über Punktesysteme wie in Canada nachgedacht wird, innerhalb derer Zuwanderung noch enger an ein Regime des welfare-to-work bzw. der residence-to-work angebunden wird. Damit ist auch die zweite bemerkenswerte Veränderung des Migrationsregimes verbunden: Rein quantitativ wird seit Mitte der 2010 – in einem gewissen Gegensatz zum Bild in der Öffentlichkeit – europäische Binnenmigration immer wichtiger.

Arbeit als Kampffeld

Arbeit (im weiten Sinne), Erwerbsarbeit und Qualifikation sind insofern heute Felder, die auch migrationspolitisch umkämpft sind. Wie wer zu welchen Bedingungen arbeitet, wer überhaupt Zugang zu Arbeit, Beschäftigung und sozialen Rechten hat, wird zunehmend auch bereits an den Außengrenzen der EU entschieden. Grenzregime, Aufenthaltsrecht und Arbeitsrecht werden eine „Infrastruktur“, innerhalb der die Zusammensetzung der sozialen Klassen in unserer Gesellschaft mit ausgehandelt wird. Menschenrechte, humanitäre Kriterien, die Tatsache, ob jemand in Russland den Kriegsdienst verweigert hat oder in Mali politisch verfolgt wird – all dies wird mehr und mehr zur Nebensache: Hauptsache, die Leute können arbeiten! In der Konsequenz reicht für die antirassistische Bewegung es aktuell nicht mehr aus, auf den Verfall humanitärer Kriterien im Aufenthaltsrecht zu verweisen. Vielmehr wäre es wichtig, die zunehmende Segmentierung von Arbeitsmärkten und Erwerbsarbeit als wichtigen Gegenstand zu verstehen, in denen Ausgrenzung und Rassismus neu definiert werden.

Exemplarische Auseinandersetzung

Auch in dieser Hinsicht ist das Beispiel von der polnisch-ukrainischen Grenze paradigmatisch. Die Massenzustromrichtlinie der EU, die visumfreie Einreise nach Deutschland, der Aufenthalt nach §24 Aufenthaltsgesetz, der fast unmittelbar formal mögliche Zugang der Ukrainer:innen zum Arbeitsmarkt – all dies legt in der Tat deren Rekrutierung durch Leute von Tönnies et al. nahe. Hinzu kommt, dass auch schon vor dem Angriff Russlands Menschen mit ukrainischen Pässen in Deutschland Arbeit in Bereichen gefunden haben, in denen die Beschäftigungsverhältnisse prekär sind. Ein bekanntes Beispiel ist die 24-Stunden-Pflege. Aktuell wird zwar in Studien bspw. des Sachverständigenrats für Migration konstatiert, dass ein sehr hoher Anteil der aus der Ukraine geflüchteten formal hoch qualifiziert sei. Fast 50 Prozent der Erwachsenen, fast ausschließlich weiblichen, Zugewanderten, haben einen Hochschulzugang erworben. Das hat jedoch auch schon im Falle der Mitte der 2010er Zugewanderten keineswegs schnell in gesicherte und gut bezahlte Arbeit geführt. Auf der Grundlage dieser Erfahrung warnen etwa Gewerkschaften heute vor einem „Abrutschen“ der vor dem russischen Angriffskrieg geflüchteten Menschen in den Niedriglohnsektor. Selbst Wissenschaftler:innen, die sonst eher zum Mainstream gehören, verbinden mit der neuen Migration mittlerweile nicht mehr zuerst eine „Lösung des Facharbeiterproblems“. So äußert beispielsweise das IAB der Bundesanstalt für Arbeit die empirisch gesättigte Befürchtung, dass „zunächst“ für das Gros der Neuankommenden prekäre Beschäftigung vorherrschen wird. Dass die Zuwanderung aus der Ukraine in quantitativer Hinsicht massiv ist, und dass sie, bei einer zu erwartenden längeren Dauer des Krieges, auch nicht kurzfristig durch Re-Migration abgelöst wird, ist klar: In vielen Landkreisen und Städten sind mittlerweile konstant etwa die Hälfe der registrierten Migrant:innen aus der Ukraine.
Die Erwartung, dass für diese Menschen Arbeit per se zur gesellschaftlichen „Integration“ beitragen würde, teilt in der Migrationsdebatte nunmehr kaum noch irgendwer. Im Frühjahr, an der polnisch-ukrainischen Grenze haben frühere Erfahrungen mit Arbeitsausbeutung in der Fleischindustrie dazu geführt, dass Unterstützer:innen die Rekruiter:innen der Firma Tönnies verjagten. Die Forderung nach existenzsichernder Arbeit, mit der man die eigene Gesundheit nicht auf’s Spiel setzt, muss aber auch jenseits der Außengrenzen der EU erhoben und gehört werden, auch, sagen wir, in Frankfurt am Main.

 

Peter Birke hat zuletzt beim Mandelbaum-Verlag in Wien die Studie „Grenzen aus Glas. Arbeit, Migration und Rassismus in Deutschland“ veröffentlicht, in der Beschäftigungsverhältnisse und Arbeitskämpfe im Online-Versandhandel und in der Fleischindustrie untersucht werden.


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