Migration

"Wir überschreiten einen Kipppunkt"

13.09.2024   Lesezeit: 8 min

Fragen zur Debatte um Abschiebungen, Grenzkontrollen, Schnellverfahren an den Rechts- und Politikwissenschaftler Maximilian Pichl

medico: Seit Wochen erleben wir eine hitzige Debatte um Abschiebungen, Zurückweisungen und Schnellverfahren an den Grenzen. Als Auslöser wird immer wieder der Anschlag von Solingen herangezogen. Kann eine Einschränkung von Grundrechten und eine Verschärfung der Migrationspolitik überhaupt dazu beitragen, das Risiko islamistischer Gewalt zu senken?

Max Pichl: Nach dem schrecklichen Anschlag von Solingen wäre es geboten gewesen, dass Politik und Öffentlichkeit zunächst einmal innehalten, den Opfern gedenken und dann besonnen darüber nachdenken, wie sich islamistische Gewalt eindämmen lässt. Stattdessen ging schon einen Tag danach ein politischer Überbietungswettbewerb über Abschiebungen und Zurückweisungen los, der der Komplexität der aktuellen Situation nicht gerecht wird. Wenn wir auf die aktuellen Maßnahmen blicken, die die Ampel-Fraktion und die Union einbringen, muss man feststellen: Der Anschlag hätte sich auch mit diesen Maßnahmen wahrscheinlich nicht verhindern lassen. Zumal die Gefahr von sogenanntem „Homegrown“-Terrorismus hinlänglich bekannt ist. Und der lässt sich nicht abschieben.

Was fehlt, ist eine Debatte, die deutlich mehr von der Gesellschaft verlangt: Was sind die tieferliegenden Ursachen für die Anziehungskraft islamistischer Ideologien? Wie bekommt man Zugänge zu Personen, die sich potenziell radikalisieren? Wie lassen sich in den sozialen Netzwerken aufklärerische Gegenöffentlichkeiten schaffen? Wie können effektive und nachhaltig aufgestellte Präventionsstrukturen aufgebaut werden?

Die CDU/CSU drängt darauf, einen nationalen Notstand zu verhängen und beruft sich dabei auf Artikel 72 der Europäischen Verträge. Dieser Paragraph erlaubt es, Europäisches Recht außer Kraft zu setzen, wenn die nationale Sicherheit und Ordnung bedroht ist. Würde das gegen Europarecht und das Non-Refoulement-Gebot der Genfer Flüchtlingskonvention verstoßen?

Mit der Rede von einem angeblichen Notstand bewegen wir uns gefährlich nahe im Bereich der Carl Schmittschen Ausnahmezustandskonzeption. Der Notstandsparagraph ermöglicht unter Umständen – aber das ist eher theoretischer Natur – ein Abweichen vom Europarecht im Bereich der Sicherheits- und Migrationspolitik. Ein Mitgliedstaat kann demnach eigene Maßnahmen für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit durchführen. Das sind unbestimmte Rechtsbegriffe, die natürlich Einfallstore für polizeiliche Praktiken eröffnen.

Aber - und das geht in der Debatte derzeit unter - der Notstandsparagraph hebelt nicht die europäischen Grundrechte aus. Artikel 4 der Grundrechtecharta enthält ein Verbot der unmenschlichen Behandlung, Artikel 18 garantiert das Asylrecht und Artikel 19 schützt vor einer Kollektivausweisung. An diesen Maßstäben muss sich die Politik weiterhin messen lassen.

Der EuGH hat die Ausrufung eines Notstands schon bei Staaten wie Ungarn abgelehnt. Was würde es bedeuten, wenn Deutschland qua Notstandsverordnung das Gemeinsame Europäische Asylsystem außer Kraft setzen würde? Und was hätte das für Auswirkungen auf die Zukunft der Europäischen Asylpolitik und des Schengener Abkommens?

Der Europäische Gerichtshof hat, zuletzt mit einer Entscheidung aus dem Jahr 2022, ein Berufen auf diesen Paragraphen quasi für unmöglich erklärt. Die Hürden, um eine Notlage zu erklären sind hoch und lassen sich angesichts sinkender Asylantragszahlen denkbar schlecht begründen. Der Gerichtshof will nicht, dass die europäische Rechtsordnung auseinanderfällt. Wenn ein Staat wie Deutschland einseitig, das heißt ohne europäische Absprache, eine solche Notlage erklären könnte, wären weitere nationale Alleingänge die Folge. Da geht es also ganz grundsätzlich um die Einheit des europäischen Projekts.

Die Ampel-Koalition lässt sich gegenwärtig von AfD und Union vor sich hertreiben. Nancy Faeser hat flächendeckende Grenzkontrollen an den deutschen Grenzen angeordnet. Außerdem sind Schnellverfahren an der deutschen Außengrenze im Gespräch. Der Vorschlag erinnert stark an die „Transitzonen“, die 2018 von Horst Seehofer ins Gespräch gebracht wurden – und die damals selbst von der CDU abgelehnt wurden. Ist die Ampel inzwischen weiter nach rechts gerückt als die CSU von 2018?

Tatsächlich werden unter der Ampel Projekte in der Flüchtlingspolitik durchgesetzt, an denen der ehemalige Innenminister Horst Seehofer noch aufgrund des gesellschaftlichen Widerstands und der Blockade von CDU und SPD gescheitert ist. Im Parlament gibt es aktuell eine riesige Repräsentationslücke für Menschen, die eine menschenrechtsorientierte Flüchtlingspolitik haben wollen. Um diese „besorgten Bürger:innen“ kümmert sich niemand, außer der erheblich geschrumpften Linken.

Ganz unabhängig von den flüchtlingspolitischen Implikationen, hat dieser Rechtsruck auch Folgen für den Umgang mit der AfD: In der Bundestagsdebatte vom 12. September haben AfD-Abgeordnete in ihren Reden erklärt, dass ihre Partei ja schon immer für Zurückweisungen an den Grenzen gewesen ist. In den Sozialen Medien finden wir viele Beiträge von rechten Influencern, die sagen, man könne ja jetzt sehen, dass man all die Jahre „betrogen“ wurde. Durch die aktuellen flüchtlingspolitischen Debatten fühlen sich viele Rechte bestätigt. Aus politikwissenschaftlicher Forschung wissen wir, dass sich dadurch der Resonanzboden für extrem rechte Politik vergrößert. Und Studien zeigen deutlich, dass extrem rechte Parteien aus Überzeugung gewählt werden und nicht nur, um anderen Parteien einen Denkzettel zu verpassen.

Wie sollen die Verfahren praktisch funktionieren, die die Ampel vorschlägt? Würden Menschen an deutschen Grenzen in Haft genommen? Wo sollen die Haftplätze herkommen? Und würde es etwas daran ändern, dass Drittstaaten den Dublin-Überstellungen häufig nicht zustimmen?

Die Ampel hat bei der Vorstellung ihrer Pläne sehr stark darauf beharrt, dass man im Gegensatz zur Union eine europarechtskonforme Lösung gefunden hätte. Aber bei den Maßnahmen gibt es erhebliche europarechtliche Fallstricke:

Um solche Verfahren in Grenznähe durchzuführen, braucht es zunächst Binnengrenzkontrollen, die Innenministerin Nancy Faeser bereits an allen deutschen Landgrenzen angeordnet hat. Von der Ampel hört man, die Kontrollen sollen bis zum Inkrafttreten des neuen GEAS anhalten. Das wären ganze zwei Jahre. Die europapolitischen Kollateralschäden eines solchen Vorgehens sind unabsehbar. Zumal solche Kontrollen nach dem Schengener Grenzkodex nur ausnahmsweise und gut begründet stattfinden dürfen, um die Freizügigkeit der Unionsbürger:innen nicht zu gefährden.

Bei den angedachten Verfahren geht es im Prinzip um beschleunigte Dublin-Verfahren. Wer in einem anderen Mitgliedstaat registriert wurde, soll ein grenznahes Verfahren durchlaufen – und ja, hier plant die Ampel auch ein Festsitzen oder eine de-facto Inhaftierung. Nach der Dublin-Verordnung dürfen Asylsuchende aber nur bei einer begründeten Fluchtgefahr inhaftiert werden und das muss im Einzelfall gerichtlich und mit anwaltlicher Vertretung geprüft werden. Pauschale Inhaftierungen wären in jedem Fall europarechtswidrig. Was die Haftplätze angeht: Hier sollen erhebliche neue Kapazitäten aufgebaut werden. Das kostet natürlich Geld, das gerade nicht in eine menschenwürdige Aufnahme mit nachhaltiger Integrationsperspektive gesteckt wird.

Schließlich löst sich die Krise des Dublin-Systems nicht, nur weil die Ampel Verfahren schneller durchführen will. In Europa gibt es immer noch keine einheitlichen, menschenwürdigen Aufnahmebedingungen für Asylsuchende. In Staaten wie Bulgarien oder Italien fallen Asylsuchende komplett aus dem sozialrechtlichen Raster, sind mit Obdachlosigkeit und Hunger konfrontiert. Regierungen wie in Ungarn verfolgen bereits eine „Zero Refugees“-Policy und nehmen faktisch am Europäischen Asylsystem kaum noch teil. Diese Zustände haben einerseits mit einem autoritären Schwenk in Europa zu tun, sind andererseits aber auch nicht neu: Das Dublin-System steckt seit seinem Inkrafttreten in der Krise und litt schon immer an fehlender Solidarität unter den Mitgliedstaaten.

Die Anträge sollen anstelle vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) direkt von der Bundespolizei geprüft werden. Ist das überhaupt praktikabel und stünde es im Einklang mit europäischen Gesetzen?

Dublin ist kein 5-Minuten-Verfahren. Nicht immer ist der Staat der ersten Einreise zuständig. Das BAMF prüft beispielsweise, ob die betroffene Person Familienangehörige in einem Mitgliedstaat hat. Ich vermute die Bundespolizei wird nicht erfreut sein, die Anhörungen durchzuführen. Die Beamt:innen sind dafür schlicht nicht geschult.

Was ich zudem bedenklich finde: Durch das neue Sicherheitspaket der Ampel sollen anlasslose Kontrollen und die Schleierfahndung intensiviert werden. Dank einer kürzlich erschienen Studie der Polizeiakademie Niedersachsen, die engmaschig den Alltag von Polizist:innen begleitete, gibt es die empirische Evidenz, dass solche Kontrollpraktiken institutionellen Rassismus fördern können. Das „Sicherheitspaket“ der Ampel führt in der Konsequenz zu mehr Unsicherheit für marginalisierte Menschen.

Wie schätzt du die gegenwärtige Debatte insgesamt ein? Welche Bedeutung hat sie für die politische Situation in Deutschland und Europa?

Ich habe mich gefragt, ob die aktuelle Debatte zumindest teilweise dem üblichen Wahlkampfgetöse zwischen den ostdeutschen Landtagswahlen geschuldet ist. Folgt man dieser Annahme, könnte sich die Situation nach der brandenburgischen Landtagswahl zunächst beruhigen – wobei dann aber schon die Weichen für den Bundestagswahlkampf gestellt werden. Aber je länger die Debatte andauert, desto mehr gehe ich von einem gesellschaftlichen Kipppunkt aus, der gerade überschritten wird.

Rechtsstaatliche Prinzipien, die Gewaltenteilung und das europäische Recht werden grundlegend zur Disposition gestellt, nicht nur von den üblichen Verdächtigen. Mir macht Sorge, welche Langzeitfolgen diese Diskussionen haben. Die hohen Zustimmungswerte der AfD bei jungen Menschen zeigen, wie tiefgreifend derzeit schon eine autoritäre Sozialisation am Werk ist.

Die Europäische Union steckt angesichts des Rechtsrucks in vielen Mitgliedstaaten ohnehin in einer Strukturkrise. Und wir können sehen, dass die Angriffe nicht bei der Migrationsfrage stehenbleiben. Schon jetzt werden klimapolitische Initiativen der EU blockiert. Für die Bearbeitung der planetaren Klimakrise verheißt das nichts Gutes.

Gibt es Handlungsmöglichkeiten?

Die großen Demonstrationen gegen die AfD Anfang des Jahres haben gezeigt, dass es durchaus Widerstandspotenziale gegen diese Entwicklungen gibt. Die Frage wird sein, ob sich daraus eine politische Repräsentation ergibt – in einer Multitude sozialer Bewegungen, Parteien oder ganz neuen politischen Kollaborationen. Und wichtig ist es, dass nicht nur die Strukturen einer offenen Gesellschaft verteidigt, sondern zukunftsgerichtete Alternativen ausgearbeitet werden.

Das Interview führte Valeria Hänsel.


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