In Palästina wird mir dieser Tage oft zur viel beschworenen Willkommenskultur in Deutschland gratuliert. Die palästinensischen Kolleginnen und Freunde bekommen aus der Ferne von der Verunglimpfung der Flüchtlinge in Europa scheinbar nichts mit, ich dagegen schon. Dabei kommen neue Flüchtlinge nicht nur in Deutschland an, und sie kommen auch nicht nur aus Syrien.
In Gaza spricht niemand davon, dass die, die dorthin kamen, "keine richtigen Flüchtlinge" seien und sich dort "nur auf Kosten anderer ein schönes Leben machen" wollten. Dafür ist es auch zu schwierig, die Menschen leben in Armut. Wer würde da schon hin fliehen? Doch selbst in Gaza gibt es mittlerweile 442 neue Flüchtlingsfamilien, die neben Syrien (50%) größtenteils aus Libyen (43%), zum geringen Teil auch dem Jemen (7%) geflohen sind. Die meisten der 1.810 Menschen sind zwischen Ende 2012 und Sommer 2013 irregulär in den Gazastreifen eingereist, d. h. in der Regel durch die Schmugglertunnels aus Ägypten. Neue Familien kommen so gut wie gar nicht mehr dazu, seit das ägyptische Militär 2013 nach dem Putsch gegen Präsident Mursi die Tunnels größtenteils zerstört hat.
Verzweiflung
Andere Familien "wählten" zur Flucht das offene Meer, diese 442 Familien Gaza. Es sagt schon viel über die Situation in den Herkunftsländern der Flüchtlinge aus, wenn sie sich selbst in Gaza besser aufgehoben fühlen, wo mit relativer Regelmäßigkeit die Gewalt zwischen bewaffneten Palästinensergruppen und Israel eskaliert, zuletzt im Sommer 2014, also nach der Ankunft der meisten dieser Menschen. Menschen flüchten nicht in eine Enklave, in der 20-30% der Wasser- und Abwassernetze zerstört sind und 95% des Leitungswassers für menschlichen Verzehr bzw. Gebrauch überhaupt ungeeignet.
Die Mär von der bloßen Suche nach dem besseren Leben wird in Gaza ad absurdum geführt. Bei einer Umfrage unter Bewohnern gaben neulich etwa 50% an, sie würden den Küstenstreifen verlassen, wenn sie könnten. Allein im September 2014 ertranken über 500 PalästinenserInnen beim Versuch den Gazastreifen über das Mittelmeer zu verlassen. Bei einer durchschnittlichen Erwerbslosigkeit von 44% kommt scheinbar auch nicht die Angst auf, die neuen Flüchtlinge könnten einem die Arbeit wegnehmen, denn die gibt es sowieso nicht. Die 56%, die in irgendeiner Form Erwerbsarbeit haben, verdienen nicht genug, um sich zu ernähren. So erklärt sich auch, dass 72% aller Haushalte - also nicht nur Flüchtlinge - von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen sind. Der Krieg 2014 und seine Folgen haben den letzten Rest der Mittelschicht in Gaza in die Armut gebracht.
medico-Flüchtlingshilfe im Gazastreifen
Der medico-Partner Palestinian Medical Relief Society (PMRS) hat in der Vergangenheit die Flüchtlinge in Gaza immer wieder durch Gesundheitsversorgung unterstützt. Diese Hilfe wurde mit dem selbstorganisierten Komitee der Flüchtlinge koordiniert bzw. von diesem angefordert. Anfangs hatte jede Gruppe nach Herkunftsland eigene Vertreter, mittlerweile gibt es ein Komitee für alle Flüchtlinge, egal ob sie aus Syrien, Libyen oder dem Jemen stammen. Die meisten von ihnen sind Nachfahren palästinensischer Flüchtlinge des Krieges von 1948, die in ihren jetzigen Herkunftsländern geboren worden waren, aber Flüchtlingsstatus hatten.
medico plant unter anderem mit Mitteln des Auswärtigen Amtes, die Unterstützung für diese besonders hilfebedürftige Gruppe zu intensivieren. Alle Familien sollen freie Gesundheitsversorgung in allen Einrichtungen der PMRS im gesamten Gazastreifen erhalten. Außerdem planen PMRS und medico Winterhilfe und die Verteilung von Hilfsgütern an die Flüchtlingsfamilien und Kriegsopfer aus dem Gazastreifen.