Das Interview

Wir brauchen eine Ethik des Vergleichs

15.02.2024   Lesezeit: 10 min

Fragen an den Literaturwissenschaftler und Holocaustforscher Michael Rothberg.

medico: In deinem Buch „Multidirektionale Erinnerung“ schreibst du, das Jahr 1993 sei ein Jahr gewesen, „in dem das Echo der Vergangenheit sehr stark war und in dem der Holocaust für zweifelhafte Zwecke vereinnahmt wurde“. Wo stehen wir jetzt, dreißig Jahre, ein Hamas-Massaker mit mehr jüdischen Todesopfern als je zuvor seit dem Holocaust und fünf Gaza-Kriege später? Was für ein Jahr oder gar Wendepunkt war 2023?

Michael Rothberg: 1993 wurde das Holocaust-Memorial-Museum in den USA eröffnet und der Film „Schindlers Liste“ erschien. Gleichzeitig gewannen die Neonazis an Bedeutung, der Völkermord in Jugoslawien begann und ein Jahr später der in Ruanda. Rückblickend kann diese Zeit als der Moment nach dem Kalten Krieg betrachtet werden, in dem die Erinnerung an den Holocaust „globalisiert“ und mit einer universalistischen Vision der internationalen Menschenrechte verbunden wurde. Diese Vision ist in den letzten Jahren durch das Erstarken der populistischen Rechten auf der ganzen Welt ins Wanken geraten, aber die jüngsten Ereignisse könnten eine noch größere Herausforderung für den bisherigen Konsens darstellen.

Für einige haben die Anschläge vom 7. Oktober die Überzeugung gestärkt, dass ein jüdischer Staat für das Überleben des jüdischen Volkes und zur Vermeidung einer Wiederholung des Holocausts notwendig ist und dass alle Mittel gerechtfertigt sind, um diese Ziele zu erreichen. Andere hingegen sehen den Krieg im Gazastreifen als den Moment, in dem die Erinnerung an den Holocaust völlig auf den Kopf gestellt wurde und als Deckmantel für „ethnische Säuberungen“ und den potenziellen Völkermord an einer anderen Gruppe herhalten muss. Ob sich zwischen diesen Positionen eine unüberbrückbare Kluft verfestigt oder nicht, wird wahrscheinlich davon abhängen, wie sich der Rest des Krieges entwickelt und was wir über das Ausmaß der palästinensischen Verluste herausfinden.

Derzeit vergleichen einige den Hamas-Angriff vom 7. Oktober mit dem Holocaust und bezeichnen ihn als Genozid, während andere die Bombardierung des Gazastreifens durch Israel für einen Genozid halten. Welche Absichten stehen dahinter?

Ich denke, dass die Assoziation des 7. Oktober mit dem Holocaust einerseits ein spontaner Ausdruck des Entsetzens über die Gewalt war, die sich an diesem Tag ereignete. Andererseits kann mit dieser Assoziation die israelische Reaktion leicht gerechtfertigt werden: Wenn der 7. Oktober ein weiterer Holocaust oder „Zivilisationsbruch“ war, wie einige im deutschen Kontext argumentiert haben, dann scheint fast jede Reaktion, egal wie hart sie ist, als legitim. Für diejenigen, die die Bombardierung und Invasion des Gazastreifens als Genozid bezeichnen, sind die Beweggründe anders. Erstens ist es ein Versuch zu prüfen, ob das Völkerrecht in diesem Zusammenhang irgendeine positive Wirkung haben kann.

Vor allem aber geht es darum, die Aufmerksamkeit auf das Ausmaß der Gewalt zu lenken und ihr ein Ende zu setzen. Das war das Argument von Masha Gessen: Der Vergleich mit dem Holocaust kann ein Weg sein, die Gewalt zu stoppen, bevor sie tatsächlich zum Genozid wird. Die Klärung juristischer Fragen ist auf lange Sicht wichtig. Aber wie Gessen bin auch ich der Meinung, dass es jetzt vor allem darum geht, das Töten zu stoppen.

Der von dir erwähnten Publizistin Masha Gessen wurde im Rahmen der Verleihung des Hannah-Arendt-Preises kürzlich vorgeworfen, einen unzulässigen Vergleich zwischen dem Gazastreifen und dem Warschauer Ghetto anzustellen. Warum war die Reaktion auf diesen Vergleich in Deutschland so heftig?

Masha Gessens Vergleich war meines Erachtens eine bewusste Provokation. Er stand im Kontext einer starken Kritik an der deutschen und europäischen Erinnerungskultur und der Art und Weise, wie die Erinnerung an den Holocaust die Einstellung zur Politik in Israel und Palästina verzerren kann. Die Reaktion aus Deutschland war angesichts der Entwicklungen der letzten Jahre – und insbesondere der Zeit nach dem 7. Oktober – wenig überraschend.

In Deutschland zögert man derzeit offensichtlich nicht, jüdische Intellektuelle und Künstler:innen der „Relativierung“ des Holocaust oder gar des Antisemitismus zu bezichtigen. Ich weiß nicht genau, wie wir an diesen Punkt gelangt sind, aber wir können sehen, dass die Entwicklungen der letzten paar Jahrzehnte in diese Richtung führen. In dem Maße, wie die Erinnerung an den Holocaust nach der Wiedervereinigung 1990 zunehmend ritualisiert und in die Logik des Staates integriert wurde, wurde aus einem selbstkritischen Umgang mit der Erinnerung ein selbstzufriedener. Wir sind weit entfernt von der Zeit der 1980er-Jahre, als Basisbewegungen neue Erinnerungsorte schufen und Künstler:innen kritische, antifaschistische Gegendenkmäler entwarfen. Die deutschen Medien und die politische Klasse scheinen zu glauben, dass sie das richtige Verständnis davon haben, was der Holocaust war und wie man ihm gedenken sollte. Sie haben keinen Bezug zu den wissenschaftlichen Entwicklungen in der Holocaust- und Genozidforschung und sind extrem intolerant gegenüber alternativen Verständnissen von Geschichte und Erinnerung geworden – Verständnisse, die sie in der Regel nicht wirklich nachvollziehen können.

Der 7. Oktober hat in Deutschland die Tendenz verstärkt, Antisemitismus Muslim:innen zuzuweisen, Stichwort „Sonnenallee, Neukölln“. Nun hast du genau dort zusammen mit Yasemin Yildiz „ein migrantisches Archiv der Holocaust-Erinnerung“ angelegt, in dem es um den Umgang von Migrant:innen mit diesem Teil der deutschen Geschichte geht.

Yasemin Yildiz und ich bemerkten diese Tendenz zum ersten Mal um das Jahr 2008 herum. In Berlin stießen wir auf verschiedene Gruppen, die gegründet worden waren, um einem angeblichen Anstieg des Antisemitismus unter Migrant:innen und Muslim:innen entgegenzuwirken. Wir waren verblüfft und fragten uns, warum dieses Anliegen plötzlich auftauchte. Die aktuellen Debatten, die du ansprichst, gehen in eine ähnliche Richtung, allerdings in einer besonders aufgeladenen Situation. Ich bezweifle nicht, dass es in der gesamten deutschen Gesellschaft Antisemitismus gibt, auch unter Muslim:innen, aber die Politisierung der Definition von Antisemitismus – zum Beispiel die Art und Weise, wie die IHRA-Definition verwendet wird, um Kritik an der israelischen Politik zu unterdrücken – macht es sehr schwierig, einen Konsens darüber zu erzielen, was antisemitisch ist und was nicht.

Ich glaube, dass Einwanderer:innen, auch „muslimische“ Einwanderer:innen, sich weiterhin auf kreative und wertvolle Weise mit der Erinnerung an den Holocaust auseinandersetzen. Und anders als 2008 widerspricht heute eine beträchtliche Anzahl von Jüdinnen und Juden in Deutschland dem vorherrschenden Diskurs über muslimischen Antisemitismus und demonstriert Solidarität mit den Palästinenser:innen. Diese Art von Allianzen ist von entscheidender Bedeutung. Der Slogan der „Jüdischen Stimme für den Frieden“ in den USA lautet „Nie wieder für alle“ – eine nicht-relativierende Universalisierung der Lehren aus dem Holocaust, die ich auch bei einigen Aktivist:innen in Deutschland sehe.

Für die AfD sind der Antisemitismusvorwurf und Solidaritätserklärungen gegenüber Israel ein Ticket geworden, um Zutritt zum politischen Mainstream zu erlangen. Gleichzeitig dienen sie ihr zur Durchsetzung ihrer rassistischen Ziele. Wie konnte das passieren?

Die rechtsextreme Instrumentalisierung des „Kampfes gegen Antisemitismus“ und der Solidarität mit Israel ist eine der beunruhigendsten Entwicklungen der letzten Jahre. Diese Legitimationsstrategie ist ziemlich weit verbreitet und schließt die christliche Rechte in den Vereinigten Staaten ebenso ein wie verschiedene populistische Regierungen in Osteuropa. Vielleicht ist die richtige Frage nicht, wie es dazu kommen konnte, sondern wie wir uns wirksam dagegen wehren können. Für mich liegt die Antwort darauf in einer Strategie, die Allianzen zwischen verschiedenen Minderheiten beinhaltet – in Deutschland wären das Jüd:innen, Palästinenser:innen, Migrant:innen, Schwarze Deutsche, People of Color und andere. Solche Allianzen erfordern ein intersektionales Verständnis davon, wie Hass und Vorurteile funktionieren, und eine Solidarität, die über die eigene Gemeinschaft hinausgeht. Diese Arbeit wird von vielen Menschen geleistet; es ist eine schwierige Arbeit, aber sie ist von entscheidender Bedeutung.

Im globalen Maßstab scheinen die Identifikation und Solidarität mit den Palästinenser:innen deutlich stärker zu sein als zum Beispiel mit den Rohingya oder den Uigur:innen. Wenn du diese Beobachtung teilst: Wie lässt sich das erklären?

Es ist wahrscheinlich richtig, dass sowohl die Verteidigung Israels als auch die Solidarität mit den Palästinenser:innen Formen der Identifikation sind, die über das hinausgehen, was man bei anderen Konflikten findet. Der Genozidforscher Uğur Ümit Üngör hat dieses Problem gerade in einem wichtigen Aufsatz im Journal of Genocide Studies ausführlich erörtert. Bezugnehmend auf den niederländischen Wissenschaftler Bart Wallet nennt er mehrere Gründe für die unverhältnismäßige Fokussierung auf diesen Konflikt: „eine religiöse Beschäftigung mit der angeblichen Heiligkeit des Gebiets für die drei großen Monotheismen; die Tatsache, dass Juden und Jüdinnen als die wichtigsten rassifizierten ‚Anderen‘ Europas dort leben; die Politisierung des Konflikts entlang breiterer ideologischer Linien; und Palästina als Cause célèbre [berühmte Angelegenheit] in der arabischen und islamischen Welt“.

Ich selbst glaube nicht, dass die Aufmerksamkeit der Menschen für die Ereignisse verhältnismäßig und absolut gerecht sein muss – das scheint ein unmögliches Ideal zu sein. Als jemand, der sich dagegen ausgesprochen hat, die Erinnerung nach der Logik des Nullsummenspiels zu konzipieren, glaube ich auch nicht, dass das Interesse an Israel und Palästina das Interesse an anderen Ereignissen in irgendeiner Weise blockiert.

Im Dezember 1948 beschloss die Generalversammlung der Vereinten Nationen unter dem Eindruck des Holocaust die Völkermord-Konvention. Nun sieht sich Israel, wohin viele jüdische Überlebende des Holocaust geflohen sind, selbst mit dem Vorwurf des Genozids konfrontiert. Ist der sofortige Abwehrreflex der Bundesregierung Ausdruck rein rationaler politischer Abwägungen? Oder kommt darin auch eine Abwehr des schwer erträglichen Gedankens zum Ausdruck, dass Opfer zu Täter:innen werden können?

Die Vorstellung, dass Opfer zu Täter:innen werden, ist sehr beunruhigend. Sie stellt die verbreitete Annahme in Frage, dass Opfer unschuldig und passiv und in einer ewigen, unveränderlichen Identität gefangen sind. Aber ich bin mir nicht sicher, ob die Komplexität des Verständnisses von Opfern das Hauptproblem im deutschen Kontext ist. Die Lauterkeit Israels und die Unschuld der Jüdinnen und Juden scheint für das deutsche Selbstverständnis nach dem Holocaust von zentraler Bedeutung zu sein. Deutschlands „Wiedergutwerdung“ nach dem Nationalsozialismus erfordert, dass Jüdinnen und Juden einen festen Platz in dem einnehmen, was Michal Bodemann vor langer Zeit das deutsche „Gedächtnistheater“ genannt hat. Die Tatsache, dass Jüdinnen und Juden über die ihnen in diesem Szenario zugewiesene Rolle als unschuldige Opfer hinaus zu Akteur:innen unterschiedlichster Art geworden sind – ob als potenzielle Täter:innen von Kriegsverbrechen in Gaza oder als radikale Gegner:innen dieser Kriegsverbrechen auf den Straßen Berlins –, stört das deutsche Selbstverständnis der Tugendhaftigkeit und die kollektive Identität Deutschlands.

Im Interview mit der taz sagte der Historiker Omer Bartov kürzlich: „Ich mag keine Nazi-Vergleiche, weil die Nazis dann immer gewinnen.“ Wie siehst du das?Welche Wirkung hat der von verschiedenen Seiten ständig bemühte Vergleich mit dem Holocaust und der wiederholte Vorwurf des Genozids?

Ich denke, Omer Bartov spricht einen wichtigen Punkt an: Die zentrale Rolle des Holocaust in Diskursen über Menschenrechtsverletzungen legt die Messlatte so hoch, dass sie dazu dienen kann, alles zu entschuldigen, was nicht zu einem systematischen Völkermord führt. Umgekehrt birgt die ständige Wiederholung von Holocaust-Analogien und Genozidvorwürfen die Gefahr, dass sie an Kraft verlieren. Trotz dieser realen Risiken ist die Berufung auf den Holocaust nach wie vor ein Mittel, um Aufmerksamkeit zu erregen. Holocaust-Vergleiche sind so allgegenwärtig, dass wir eine „Ethik des Vergleichs“ brauchen. Wir müssen darüber nachdenken, wie Vergleiche angestellt werden und warum sie angestellt werden: Versuchen sie, Gewalt zu schüren oder Solidarität unter den Opfergruppen zu schaffen? Wenn es eine Rechtfertigung für Holocaust-Vergleiche gibt, dann ist es ihre bereits erwähnte Warnfunktion. Man könnte vielleicht sogar sagen, dass Solidarität den Vergleich voraussetzt. Denn sie beruht auf der Fähigkeit, Individuen und Gruppen mit unterschiedlichen Interessen zu verbinden, um eine tragfähige politische Kraft zu entwickeln.

Das Interview führte Ramona Lenz.

Michael Rothbergs Buch „Multidirektionale Erinnerung“, das 2021 in deutscher Übersetzung erschien, stellt eine wichtige Intervention in den deutschen Diskurs um angemessenes Erinnern an Menschheitsverbrechen dar. Die für Dezember 2023 geplante und von Rothberg mitkuratierte Konferenz „We still need to talk – Hin zur relationalen Erinnerung” wurde von der Bundeszentrale für politische Bildung aus Solidarität mit Israel und den Opfern des 7. Oktober auf einen unbestimmten Zeitpunkt verschoben.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2024. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!


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