„Health for All“ ist das diesjährige Motto zum 75. Jubiläum der Weltgesundheitsorganisation, das am 7. April 2023 gefeiert wurde. Nur vier Tage später starb Dr. Zafrullah Chowdhury, der „Gesundheit für Alle“ zum Motor seines eigenen langen Lebens gemacht hatte. Bis zuletzt war er eine der inspirierendsten Figuren des im Jahr 2000 gegründeten People‘s Health Movement (PHM), mit dem medico international eng verbunden ist. Er und die von ihm mit gegründete Organisation Gonoshasthaya Kendra (GK) in Bangladesch waren und sind über viele Jahre Projektpartner von medico. Wir trauern mit seinen Angehörigen und den Kolleg:innen von GK um einen Freund, einen Partner und eine Ikone der Gesundheitsbewegung des globalen Südens.
Als wir 2006 mit GK Kontakt aufnahmen, um Optionen einer Ausweitung ihrer gemeinnützigen Arzneimittelproduktion auf die im globalen Süden dringend benötigten AIDS Medikamente zu besprechen, stellten wir überrascht fest, dass die Verbindung noch viel weiter zurück reichte - bis zur Gründungsgeschichte GKs als Feldhospital für verletzte Kämpfer im Unabhängigkeitskampf gegen Pakistan 1971, in dem Frankfurter vermittelt durch medico Hilfe leisteten.
Zafrullah hatte zuvor in London die Bangladesh Medical Association mitgegründet, die die Unabhängigkeit des ehemaligen Ost-Pakistans unterstützte und dann kurzerhand seine eigene Facharzt-Ausbildung in London abgebrochen, um vor Ort Hilfe zu organisieren. Die „Hilfe im Handgemenge“ war seine Passion, und für sie scheute er keine Risiken. Auch das verband ihn mit medico.
Nach dem Ende des blutigen Krieges wurde 1972 aus dem Feldlazarett das „Volksgesundheitszentrum“, Gonoshastaya Kendra, auf einem viele Hektar großen Gelände in Savar, das damals noch eine ganze Tagesreise über mehrere Flüsse und Pisten von der Hauptstadt Dhaka entfernt war, und heute im prosperierenden Textilindustriegürtel liegt. Schon dabei half ihm sein erworbener Ruf als Freiheitskämpfer bei den Verhandlungen mit dem ersten Präsidenten und „Vater der Nation“ Sheikh Mujibur Rahman, der GK einen großen Teil des Geländes zur Verfügung stellen ließ. Genauso ließ er sich aber auch selbst in der Praxis überzeugen, dass eine dauerhafte Verbesserung der Gesundheitsversorgung und Gesundheitsverhältnisse in Bangladesch nicht allein mit dem medizinischen Wissen, dass er in London erworben hatte, möglich war, sondern eine ganz andere Arbeitsweise erforderte
Lokal geschulte und kenntnisreiche „Gemeindegesundheitsarbeiter:innen“ und nicht akademisch ausgebildete Ärzt:innen bilden so bis heute den Kern des Konzepts von GK, Gesundheit zu den Menschen zu bringen und mit ihnen gemeinsam zu schaffen und nicht darauf zu warten, dass sie bereits krank geworden in der Institution vorstellig werden.
Damit bildete GK mit anderen ähnlichen Gesundheitsprogrammen bereits in den 70er Jahren die frühen Vorreiter für das Primary Health Care Konzept, das schließlich 1978 in der großen internationalen Konferenz von Alma-Ata als neues Leitbild der WHO und ihrer Mitgliedstaaten etabliert werden konnte.
Diese enge Verbindung von lokaler Gesundheitspraxis und internationaler Gesundheitspolitik sollte die Arbeit von Zafrullah und GK auch weiterhin auszeichnen. In den 80er Jahren kämpfte er erfolgreich für eine Arzneimittelgesetzgebung in Bangladesch, die konsequent auf rationale Marktkontrolle und Förderung lokaler Produktion setzte. Dieser Ansatz konnte schließlich mit dem Essential Medicines Program auch gegen den starken Widerstand der Pharmakonzerne aus dem globalen Norden im Rahmen der WHO durchgesetzt werden. Gleichzeitig trat GK mit ihrer eigenen Arzneimittelproduktion den Beweis an, dass dieser auch unter den Bedingungen einer non-profit Struktur möglich und umsetzbar war. Damit machte er sich nicht wenige Feinde. Die Einrichtungen von GK waren des Öfteren Anfeindungen ausgesetzt, unter anderem in Form eines Brandanschlag auf das zweite Krankenhaus von GK, das sie in einem Randbezirk der Hauptstadt als städtisches Standbein aufgebaut hatten.
Dies konnte die weitere Arbeit von GK glücklicherweise nicht dauerhaft behindern. Die Organisation wuchs stetig bis sie mittlerweile knapp 1 Million Menschen mit ihren Gesundheits- und Bildungsdiensten erreicht. Das spiegelt beispielhaft Zafrullahs Herangehensweise wieder, die er bei der Konferenz Armut und Gesundheit in Berlin 2007 teilte, zu dem wir ihn mit anderen Vertretern des PHM eingeladen hatten: „Small is beautiful, but big is necessary“. In einem Land mit über 160 Millionen Bewohner:innen eine nachvollziehbare Strategie. Mit dieser Reichweite konnte sich GK nicht nur in Bangladesch als ein wichtiger Akteur in der oftmals konfliktiven Geschichte der Regierungen und der lokalen Zivilgesellschaft behaupten, sondern auch mit Daten und Fakten die Wirksamkeit ihrer Gesundheitsarbeit nachweisen. Die Senkung der Kinder- und Müttersterblichkeit konnten so in den Gemeinden, in denen GK seit vielen Jahren arbeitete, deutlich früher und besser erreicht werden als im Landesdurchschnitt.
Einen wesentlichen Anteil an diesen Erfolgen hatte und hat ohne Zweifel auch die konsequente Förderung von Frauen als Mitarbeiterinnen in GK und nicht nur als Empfängerinnen von Gesundheitsdiensten. Nicht nur als Paramedics im Gesundheitsprogramm und als Lehrerinnen in den Kindergärten und Schulen waren und sind Frauen bei GK aktiv, sie fahren auch die überwiegende Zahl der Ambulanzen, nachdem sie in der eigenen Fahrschule ausgebildet wurden – eine feministische Mobilitätsrevolution in einem in weiten Teilen nach wie vor konservativen muslimischen Land.
Die internationale Anerkennung blieb ebenfalls nicht aus und Zafrullah wurde 1985 mit dem Ramon Magsaysay Award (der als „Asiatischer Friedensnobelpreis“ nach dem philippinischen Präsidenten benannt ist) und 1992 mit dem Right Livelihood Award (sog. „Alternativer Nobelpreis“) ausgezeichnet.
Ein besonderer Moment in dieser langen Geschichte lokaler und internationaler Gesundheitskämpfe war die erste People’s Health Assembly im Jahr 2000 im extra dafür gebauten Konferenzzentrum von GK in Savar. Etwa 1500 Aktivist:innen aus aller Welt, unter ihnen auch der legendäre ehemalige Generaldirektor der WHO, Halfdan Mahler, dessen Vermächtnis die Primary Health Care Deklaration von 1978 war, debattierten und verabschiedeten schließlich die „People’s Charta for Health“, die die WHO und ihre Mitgliedstaaten an das von ihnen dort in Alma Ata selbst gesteckte Ziel „Gesundheit für Alle bis zum Jahr 2000“ erinnerte. Die umfassenden sozialen, politischen, ökonomischen und ökologischen Bedingungen für Gesundheit, die die Charta ins Zentrum stellte, mussten der WHO jedoch immer wieder in Erinnerung gerufen werden und mündeten unter Beteiligung prominenter PHM Vertreter:innen in die Commission for Social Determinants for Health 2005 – 2008.
Zafrullah konnte mit seiner Erfahrung und mitreißenden Art immer wieder auch seine Kolleg:innen und internationale Unterstützer:innen für das nächste Projekt, die nächste Idee begeistern. Sein konsequenter Einsatz für Gleichheit und Gerechtigkeit machte GK auch zu einem Ort, an dem Marginalisierte und Ausgegrenzte Platz und Beteiligung fanden. Es fanden beispielsweise so manche Aktivist:innen in den Jahren von Militärdiktatur und repressiven Regierungen in Bangladesch temporären Unterschlupf in GK. Auch für die kleine hinduistische Minderheit in Bangladesch war der konsequent religionsfreie Raum in GK ein wichtiger Schutzraum.
Seine radikale Nichtraucher-Politik in allen Einrichtungen und auf dem gesamten Gelände von GK erfreute sich indes nicht unbedingt immer allgemeiner Beliebtheit. Die brasilianische Pharmaexpertin Eloan Pineiro beispielsweise, die wir 2006 zu einer Analyse der Kapazitäten der GK Medikamentenproduktion nach Bangladesch eingeladen hatten, musste als aktive Raucher:in für die Dauer ihres Aufenthalts eine Ausnahmeregelung für sich durchsetzen.
Auch wenn er sich bescheiden immer nur als „Projektkoordinator“ vorstellte, war seine zentrale Rolle als Gründer und Leiter von GK unangefochten. Bis zuletzt war Zafrullah auch ohne offizielles Amt in GK eine Leitfigur, deren Rat und Entscheidungen unverzichtbar blieben. Herausfordernd stellten sich damit gleichsam dar, dauerhafte Nachfolgeregelungen zu treffen. Die Stabilität der Organisation GK hat sich jedoch bereits in den letzten Jahren erwiesen, in denen Zafrullah, zunehmend krank, sich immer stärker aus Verantwortlichkeiten zurückgezogen hatte.
Die Bedingungen für eine kritische globale Gesundheitsarbeit sind indes weder vor Ort noch International einfacher geworden. Der Tod von Dr. Zafrullah Chowdhury hinterlässt in dieser Zeit der Herausforderungen Lücke und Auftrag zugleich.
So schätzen wir uns doch auch glücklich, Zafrullah und GK über eine so lange Zeit zu kennen und gekannt zu haben. Er war und bleibt Inspiration und Erinnerung an die Möglichkeit der Veränderung zum Besseren, selbst unter widrigen Umständen.