Textilindustrie

Zehn Jahre Rana Plaza, heute

24.04.2023   Lesezeit: 6 min

Am 24. April 2013, stürzte in der Industriestadt Savar in Bangladesch das Rana Plaza-Hochhaus ein.

Von Thomas Rudhof-Seibert

In den neun Stockwerken des Rana Plaza waren mehrere Textilfabriken untergebracht. Im Erdgeschoss befanden sich Läden und eine Bank. Am Tag des Einsturzes hielten sich im Gebäude rund 3000 Arbeiter:innen auf. Fast die Hälfte von ihnen, 1135 Menschen, fanden unter den Trümmern den Tod. 2438 Menschen wurden verletzt, viele von ihnen schwer und auf Dauer.

Im Preis inbegriffen

Der Einsturz kam nicht unerwartet, im Gegenteil. Dass der Billigbau wie unzählige andere zum Betrieb von Textilfabriken ungeeignet war, wussten die Leute vor Ort lange schon. Wie vielerorts war auch beim Rana Plaza minderwertiges Material verarbeitet worden, wie vielerorts war der Boden, auf dem der Bau stand, nicht geeignet, die Last eines mehrgeschossigen Gebäudes zu tragen. Am Tag vor dem Einsturz aber war klar, dass mit einer Katastrophe stündlich zu rechnen war. An mehreren Mauern breiteten sich lange Risse aus. Telefonisch unterrichtet, ordnete die Polizei die umgehende Räumung des Gebäudes an. Die Angestellten der Bank brachten das Mobiliar, die Computer und die Geldreserven in Sicherheit. Die Händler räumten ihre Waren aus den Läden.

In Sicherheit bringen wollten sich natürlich auch die Arbeiter:innen in den Fabriken der darüber liegenden Stockwerke. Ihre Chefs aber bestanden auf dem Fortgang des Betriebs. Auf die Räumung der Bank und der Läden verwiesen, legten sie nach: Wer nicht bis zum Schluss der Schicht bliebe oder morgen nicht zur Arbeit erscheine, brauche gar nicht mehr wiederzukommen und würde für die bis heute geleistete Arbeit auch keinen Lohn erhalten. Basta. Also kamen die Arbeiter:innen auch am frühen Morgen des 24. April ins Rana Plaza, nahmen wie jeden Tag auch an diesem Tag ihre Arbeit auf. Um 9 Uhr 30 in der Früh fiel dann wie so oft der Strom aus. Sofort sprangen die Notstromgeneratoren an, die sich auf jedem Stockwerk des Gebäudes befanden. Die Vibration reichte aus, um den Bau einstürzen zu lassen. Ende, aus.

Dass es irgendwann so kommen würde, wussten nicht nur die Arbeiter:innen und nicht nur deren Chefs. Bekannt war das auch deren Auftraggeber:innen weitab vom Schuss. Zu ihnen gehörten, in unvollständiger Reihung: Benetton, Bon Marche, Camaieu, Cato Fashions, Children’s Place, Cropp, El Corte Ingles, Joe Fresh, KiK, Mango, Manifattura Corona, Matalan, Premier Clothing, Primark, Texman, Walmart. Das Who is who also des globalen Modehandels, die Verkäufer:innen der Kleider, Jeans und T-Shirts, die wir alle tragen. Das Who is who der Unternehmen, die heute noch immer tun, was sie damals schon taten. Die Unternehmen, auf deren Gewinnkalküle zurückging, was in Rana Plaza geschah. In Rana Plaza, aber auch in Tazreen Fashion. Diese Fabrik lag eine halbe Autostunde entfernt von Rana Plaza, arbeitete ebenfalls auf Rechnung amerikanischer und europäischer Unternehmen. Am 24. November 2012, also sechs Monate vor dem Einsturz des Rana Plaza, starben dort 117 Menschen bei einem Brand, 300 andere konnten sich damals durch den Sprung ins Brackwasser einer benachbarten Baugrube retten. Wer aus den unteren beiden Stockwerken sprang, kam glimpflich davon, schwere Verletzungen zog sich zu, wer von weiter oben springen musste. In Rana Plaza und Tazreen Fashion, aber auch in Ali Enterprises, einem Unternehmen nicht in Bangladesch, sondern in Pakistan, in Karatschi. An 11. September 2012 verbrannten dort 289 Arbeiter:innen, 600 weitere wurden oft schwer verletzt. Der deutsche Billigdiscounter KiK ließ an allen drei Unglücksorten fertigen. Doch wussten ausnahmslose alle Auftraggeber:innen genau, was sie taten. Von nichts kommt nichts, so einfach ist das.

Zehn Jahre später

Ganz so einfach ist das nicht geblieben. Rana Plaza machte und macht einen Unterschied. In Bangladesch, in Pakistan und in den Zielländern der globalen Lieferketten, in den USA, in der EU, in Deutschland. Am 11. Juni 2021 verabschiedete der Bundestag in Berlin das „Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten“, das rund anderthalb Jahre später, am 1. Januar 2023, in Kraft getreten ist. Gleichsam auf halber Strecke, im Februar 2022, legte die EU-Kommission den ersten Entwurf eines europäischen Lieferkettengesetzes vor, das im Laufe dieses Jahres verabschiedet werden soll. Dessen Vorschriften müssen die Mitgliedsstaaten der EU dann binnen der folgenden zwei Jahre in nationales Recht umsetzen. Ende gut, alles gut? Nein, leider nicht, trotz des Unterschieds. Das räumt ausdrücklich auch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit ein, nachzulesen in der Presseerklärung des Ministeriums zum zehnten Jahrestag des Einsturzes des Rana Plaza. Ministerin Schulze hält dort ausdrücklich fest, dass wir alle nicht nachlassen dürfen „in unseren Bemühungen, gute Arbeit weltweit zum Standard zu machen.

Besonders bei existenzsichernden Löhnen und Geschlechtergerechtigkeit gibt es noch viel zu tun. Der nächste Schritt muss nun eine starke europäische Lieferkettengesetzgebung werden. Mir ist dabei besonders wichtig, dass die Regeln denen helfen, für die sie gemacht werden: den Menschen am Anfang der Lieferkette, darunter viele Frauen und Kinder.“ Schön und gut. Schön und gut ist auch der Verweis des Ministeriums, dass in Bangladesch in Zusammenarbeit aller Beteiligten seit 2013 „über 100.000 Mängel in mehr als 1.600 Fabriken behoben“ werden konnten. Dass es gleichsinnige Anstrengungen auch in Pakistan gibt und dass sich das Bundesministerium auch in anderen Ländern um Verbesserungen bemüht.

Anders gleich

Ja, einiges ist anders geworden, und einiges andere wird sich ändern: 100.000 Mängel weniger sind kein Pappenstiel. Was sich aber nicht geändert hat und was sich auch nicht ändern wird, ist der Kern der Sache selbst, der Kern des Geschäfts. Nicht geändert hat sich, dass die Millionen Arbeiter:innen für ihre Arbeit nur das erhalten, was alle Beteiligten unumwunden einen „Niedriglohn“ nennen und man eigentlich, wortwörtlich, einen Hungerlohn nennen muss. Einen Lohn, der seine Empfänger:innen auch weiterhin zu den Überstunden zwingen wird, ohne die das ganze Geschäft kein Geschäft wäre, für ihre Arbeitgeber:innen nicht und für den Auftraggeber:innen nicht, die Unternehmen am Ende der Lieferkette: die Unternehmen, die hier weiter oben schon genannt wurden, in unvollständiger Reihung. Im Geschäft sind diese Unternehmen noch immer, es ist noch immer ihr Geschäft, und es ist eben deshalb im Kern noch immer dasselbe: das Geschäft, in dem einen Hungerlohn nur erhält, wer dazu auch die abverlangten Überstunden leistet. Geht man von einer 40-Stunden-Woche aus, leisten Bangladeschs Arbeiter:innen pro Woche noch immer 17 bis 22 Überstunden. Woche für Woche, das ganze Jahr. Bei sechs Tagen in der Woche sind das rund und roh drei Überstunden tagtäglich. Zum Sterben zu wenig, zum Leben zu viel. Genug, um mit vierzig Lebensjahren am Ende zu sein, ausgelaugt, nach einer Schufterei, die kein Leben war, auch wenn sie eine am Leben ließ: gerade eben so. Weil der Lohn ein „Niedriglohn“ war und blieb, ein Hungerlohn.

Das seit dem 1. Januar geltende deutsche Lieferkettengesetz hat das nicht geändert und wird das auch nicht ändern. Ändern wird sich das auch nicht, wenn es im Lauf dieses Jahres ein europäisches Lieferkettengesetz geben wird. Das ist so und wird so sein, weil der Buchstabe dieses Gesetzes mehr nicht hergibt. Sein Geist aber lässt uns wissen, dass das Geschäft, das der Buchstabe nicht ändern kann, ein Verbrechen ist. Darüber wird spätestens dann zu reden sein, wenn irgendwo in Bangladesch oder in Pakistan die nächste Fabrik abbrennt oder einstürzt. Diesen Einsturz oder diesen Brand hat das Geschäft heute schon einkalkuliert: weil es andernfalls kein Geschäft wäre. In unvollständiger Reihung liegt die Verantwortung dafür bei Benetton, Bon Marche, Camaieu, Cato Fashions, Children’s Place, Cropp, El Corte Ingles, Joe Fresh, KiK, Mango, Manifattura Corona, Matalan, Premier Clothing, Primark, Texman und Walmart. Damals wie heute und morgen.

Thomas Rudhof-Seibert

Thomas Rudhof-Seibert war bis September 2023 in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international zuständig für Südasien und Referent für Menschenrechte. Der Philosoph und Autor ist außerdem Vorstandssprecher des Instituts Solidarische Moderne; weitere Texte zugänglich auch unter www.thomasseibert.de


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