medico: Ihr dokumentiert seit Längerem Fälle von rassistischer Gewalt und Gewalt gegenüber Schwangeren und Müttern im guatemaltekischen Gesundheitswesen. Ein besonders gravierender Fall, der euch beschäftigt, ist der der 25-jährigen Vilma Tzul. Worum geht es?
Javier García: Vilma ist ins staatliche Krankenhaus von Totonicapán gegangen, um dort ihr Kind zur Welt zu bringen. Totonicapán liegt etwa vier Autostunden von Guatemala-Stadt entfernt. In der Region leben vor allem Menschen, die der Maya-Bevölkerungsgruppe K’iche’ angehören, so wie Vilma. Während der Geburt gab es Komplikationen, es musste ein Kaiserschnitt gemacht werden, um das Kind zu holen. Vilma konnte zwar nach einer Woche entlassen werden, das Baby sollte aber noch drei weitere Wochen in der Klinik bleiben – ohne dass die Mutter es sehen durfte. Ihr wurde gesagt, es sei in einem kritischen Zustand. Vilma und ihre Familie durften lediglich Windeln und Milch für das Kind abgeben.
Einen Monat nach der Geburt wurde Vilma von einer Ärztin angerufen und ihr gesagt, es sei alles gut und am nächsten Tag könne sie ihr Baby abholen. Als die Familie ins Krankenhaus kam, musste sie zunächst mehrere Stunden warten, bis ein Arzt schließlich mitteilte, dass das Baby gestorben sei. Inmitten dieser plötzlichen Verzweiflung wurde der Familie gesagt, der Mutter werde gleich der tote Körper übergeben. Stattdessen mussten Vilma und ihre Angehörigen erneut stundenlang warten bis jemand eine mit Klebeband umwickelte Decke in die Hand drückte. Es war vollkommen unwürdig. Als die Familie das Kind auswickelte, merkte sie, dass der Körper von blauen Flecken gezeichnet war.
Damit war das Martyrium noch immer nicht zu Ende. Als die Familie die Beerdigung organisieren wollte, musste sie feststellen, dass niemand das Kind ins Geburtenregister eingetragen hatte. Eine Bestattung ist ohne solch einen Eintrag nicht möglich. Auf dem Amt musste Vilma dann dafür streiten, damit sie eine Geburts- und eine Sterbeurkunde für ihr totes Kind bekommt.
Wie unterstützt ihr Vilma?
Javier García: Nach der Beerdigung zeigte Vilma den Fall gegenüber der Staatsanwaltschaft an, woraufhin eine Exhumierung und Autopsie durchgeführt wurden. Weil die Staatsanwaltschaft in Totonicapán scheinbar keine Kapazitäten hatte, reichte sie den Fall nach Guatemala-Stadt weiter, wo die Akte geschlossen werden sollte, ohne dass ermittelt wurde. Das ist alles andere als ungewöhnlich – es ist Teil des Problems der Straflosigkeit in Guatemala. In vielen Fällen muss die Staatsanwaltschaft daher von außen unterstützt werden, damit es überhaupt vorangeht. Wir vom Anwaltsbüro für Menschenrechte warten zurzeit auf die Annahme unserer Eingaben zur Beweisaufnahme. Immerhin konnten wir vorerst verhindern, dass der Fall einfach eingestellt wird.
Ist das ein Einzelfall?
Edgar Pérez: Als wir Vilmas Fall auf einer Versammlung von Gesundheitsreferent:innen in Totonicapán vorgestellt haben, um mehr Informationen über das betreffende Krankenhaus zu bekommen, haben wir ähnliche Geschichten gehört. Das war ziemlich heftig. Wenn man einmal anfängt zu fragen, wird der Abgrund immer größer. Der Rassismus und die Diskriminierung, die aus Vilmas Fall sprechen, sind struktureller Natur. Vilmas Geschichte ist besonders drastisch, aber wir kennen inzwischen viele Fälle, in denen Frauen – insbesondere indigene Frauen – nicht angemessen informiert, nicht ernst genommen und absolut unwürdig behandelt werden. Zur Abwertung als Frau tritt bei indigenen Frauen noch der Rassismus hinzu, den sie im Umgang mit Ärzt:innen erleben. Wenn wir über die Mängel des Gesundheitswesens in Guatemala sprechen, dann nicht nur über materielle Mängel, sondern auch über ein Bewusstsein beim Personal, das sich ändern muss.
Ana Verónica Sandoval: Betritt man den Bereich für Frauenheilkunde und Geburtshilfe in Guatemalas größtem und bestem Krankenhaus, steht man unmittelbar in der Notaufnahme für Frauen: Ein offener Raum mit einer Reihe Betten. Als ich zuletzt dort war, gebar dort gerade eine Frau, mit all den Menschen um sie herum. Auch die Operationssäle sind nicht auf die Bedürfnisse von Frauen bzw. für die Geburtshilfe ausgelegt. Nach der Geburt wird es nicht besser: Die Frau darf nur einen Tag in einem Bett bleiben. Muss sie länger zur Beobachtung oder ähnlichem bleiben, so bekommt sie einen Stuhl – auch zum Schlafen. All das spielt sich in einem einzigen Raum ab. Wenn man das sieht, bekommt man sein Kind lieber Zuhause.
Dass es nicht so sein muss, sieht man in anderen, zum Teil viel besser ausgestatteten Abteilungen im gleichen Krankenhaus. Gleichzeitig ist die Situation insbesondere in ländlichen Gegenden Guatemalas noch schlimmer. Die gravierende Vernachlässigung der Frauengesundheit im öffentlichen Gesundheitssystem schafft großes Leid. Das wird bei Vilmas Fall besonders deutlich und deshalb haben wir unter anderem ihren Fall für unsere strategische Prozessführung ausgewählt.
Der Kampf um Menschenrechte in Guatemala dreht sich in der Regel um die Vertreibung von Gemeinden, die Verfolgung von Verteidiger:innen der Natur oder indigener Rechte. Welche Bedeutung hat der Kampf für eine Verbesserung des Gesundheitssystems für euch als Büro von Menschenrechtsanwält:innen?
Edgar Pérez: Das Recht auf bestmöglichen Zugang zu Gesundheit ist eines der fundamentalen Menschenrechte. Ohne Gesundheit ist alles andere nichts. Ohne Gesundheit könnten wir uns nicht entwickeln und wir könnten nichts zur Entwicklung der Gesellschaft beisteuern. Dazu gehört auch scheinbar Nebensächliches, aber selbst wir, die wir hier im Büro arbeiten und relativ privilegiert sind, kennen unsere Gesundheitsakten nicht. Wir wissen nicht, ob wir als Kinder gut ernährt waren oder Mangel litten, wir wissen nichts von Kinderkrankheiten, möglichen chronischen Krankheiten oder wie sich unsere Zähne entwickelt haben – einfach weil die Dokumentation so schlecht ist.
Das sind strukturelle Defizite. Vor allem das Wissen über Vilma und andere Menschen, die auf das Gesundheitssystem vertraut haben und im Stich gelassen wurden, lässt uns für ein Gesundheitswesen streiten, das die Achtung der menschlichen Würde und die gute gesundheitliche Versorgung aller an die erste Stelle setzt.
Ihr unterstützt unmittelbar Betroffene wie Vilma in ihrem Kampf um Gerechtigkeit. Das hat auch eine strategische Dimension in eurem Versuch, das Gesundheitssystem in Guatemala insgesamt zu verändern. Wie geht ihr dabei vor?
Javier García: Neben der strategischen Prozessführung, um durch entsprechende Gerichtsurteile die Straflosigkeit zu beenden und Verbesserungen zu erzwingen, planen wir in der kommenden Zeit Eingaben beim Gesundheitsministerium, um das System zu verbessern. Seit Januar haben wir eine neue Regierung. Das erste Mal seit vielen Jahren kann die Regierung wieder eine Verbündete im Kampf um gesellschaftliche Veränderungen sein.
Dafür erstellen wir gemeinsam mit Expert:innen im Gesundheitsbereich Dossiers über die Missstände, die wir dokumentiert haben und arbeiten die Muster heraus, die darin deutlich werden. Gleichzeitig zeigen wir über positive Beispiele, die es eben auch gibt, Möglichkeiten zum Umsteuern auf.
Ana Verónica Sandoval: Vom einzelnen Fall zur allgemeinen Veränderung zu kommen ist ein langwieriger Prozess. Wir nutzen das Zeitfenster, das die neue progressive Regierung mit ihrem Versprechen zur Verbesserung der sozialen Situation in Guatemala öffnet. Ob Reformen tatsächlich gelingen, wird sich erst auf lange Sicht zeigen. Was von der Regierung beschlossen wird, muss auch in den Regionen implementiert werden. Da liegen noch viele Steine im Weg.
Edgar Pérez: Ein Schritt auf diesem Weg sind Runde Tisch, an denen wir Regierung, Expert:innen und Betroffene zusammenbringen wollen, um anhand unserer Dokumentationen die Situation im Gesundheitswesen zu evaluieren und unsere Vorschläge für Verbesserungen weiterzuentwickeln. Dabei hoffen wir auch auf eine öffentliche Debatte, damit sich mehr Betroffene melden und der Druck für Veränderungen sich erhöht.
Seit vielen Jahren führt und unterstützt ihr Kämpfe um historische und soziale Gerechtigkeit in Guatemala. Ihr habt intensiv am Aufbau einer unabhängigen Justiz mitgewirkt, die die wegweisenden Urteile gegen den früheren Diktator Ríos Montt und anderer Militärs wegen Genozids, sexualisierter Gewalt und anderer Verbrechen im Bürgerkrieg möglich gemacht habt. Aber seit fast zehn Jahren ist die Justiz fest in der Hand des sogenannten Paktes der Korrupten, der über seine Macht in den Institutionen repressiv gegenüber sozialen Bewegungen agiert, gesellschaftliche Veränderungen blockiert und fast den Amtsantritt der neuen Regierung verhindert hätte. Wie schätzt ihr die Situation heute ein?
Edgar Pérez: Der große Einfluss der Korrupten auf die Justiz ist offensichtlich und die Rückschritte der letzten Jahre waren gravierend. Unser Ansatzpunkt dagegen bleibt weiter die strategische Prozessführung. So wie bei Vilma im Gesundheitsbereich führen wir auch in anderen Feldern ausgewählte, emblematische Verfahren, die die kriminellen Strukturen im Staat offenlegen. Das sind weitere Prozesse gegen Militärs wegen Verbrechen im Bürgerkrieg, aber auch zur Verteidigung von indigenen Aktivist:innen oder Studierenden, die wegen ihres Engagements für die Natur, ihr Territorium oder soziale Rechte kriminalisiert werden. Die Möglichkeiten sind eingeschränkt, aber Erfolge sind durchaus erreichbar.
Das Interview führten Jana Flörchinger und Moritz Krawinkel.
Die medico-Partner:innen vom Bufete Jurídico de Derechos Humanos (dt. Anwaltsbüro für Menschenrechte) stehen denen bei, die sonst niemanden an ihrer Seite haben. Seit vielen Jahren unterstützen wir sie im Kampf um historische und soziale Gerechtigkeit in Guatemala.