Guatemala

Frieden und ein Stück Land

25.03.2023   Lesezeit: 19 min

Reportage aus dem Hinterland von Guatemala, wo indigene Gemeinden seit Generationen um ihr Recht kämpfen.

Von Moritz Krawinkel

Zwei Flüsse umgeben die kleine Gemeinde La Mercedes, eine Lagune gab es auch einmal, in der die Bewohner:innen Muscheln sammeln und Fische und Krabben fangen konnten. Eigentlich traumhaft, nur etwas mehr als drei Kilometer von der mexikanischen Grenze gelegen, dort wo die schnurgerade Grenze aus dem Westen abbiegt und dem Flusslauf des Chixoy wieder nach Nordwesten folgt. Tropisch warm und feucht ist es, der Boden dampft noch vom gestrigen Regen. Eigentlich traumhaft, aber was uns die Menschen erzählen, ist der Horror. Die Lagune gibt es nicht mehr, Krabben und Muscheln sind verschwunden, dazu andere Tierarten, die hier lebten. Aber das ist noch das geringste Problem der Menschen.

„Vor zwei Jahren lebte mein Mann noch“, berichtet uns eine Frau unter Tränen. Sie heißt Doña Claudia und spricht Q'eqchi'. An ihrer Brust trinkt ihr jüngstes Kind, um sie herum sitzen rund zwanzig Bewohner:innen der Gemeinde, die Frauen in den traditionellen Röcken der indigenen Maya, farbenfroh, die meisten Männer mit Basecaps auf dem Kopf, dazwischen Kinder, die sich über unseren Besuch freuen. Wir sitzen unter einem Zinkdach, um uns Wände aus Holzplanken, Wäsche trocknet auf Leinen, die an der Seite gespannt sind. Wir sind zusammen mit unseren Partner:innen vom Bufete Jurídico de Derechos Humanos, der Anwaltskanzlei für Menschenrechte, aus Guatemala-Stadt hierhergekommen, um uns berichten zu lassen vom Kampf der Gemeinde um ihr Überleben. Don Jaime, Claudias Mann, starb an einer Infektion, die er sich beim Tauchen nach Fischen in den trüben Gewässern des Chiriviscal zugezogen hat, der hinter der Gemeinde entlang fließt und in den Chixoy mündet. Das Wasser ist vergiftet, kontaminiert durch die Chemikalien und Pestizide der Ölpalmen-Plantage, die die Gemeinde seit über zehn Jahren immer enger umschließt.

Viele Familien aus der Gemeinde haben ihr Land verkauft, in der Hoffnung, mit dem wenigen Geld, das sie dafür bekommen haben, etwas Neues anfangen zu können. Nicht so die Menschen, die wir hier treffen. 13 Familien im Widerstand seien sie, erzählt Don Salvador, der in diesem Jahr den Vorsitz der indigenen Autorität innehat. Knapp fasst er seine Aufgaben zusammen: Verteidigung der Natur und Schlichtung in Streitfällen. „Wir wissen nicht, was mit dem Palmöl gemacht wird, aber wir sehen, was mit der Erde und unserem Wasser passiert“, sagt er.

Existieren als Verbrechen

Salvador, das weiße Hemd mit der Aufschrift „Autoridad Indígena“ bestickt, hat einen offenen Haftbefehl, er und weitere Männer hier können den Schutz der Gemeinde nicht verlassen. Draußen patrouillieren die Sicherheitsleute der Firma, unter ihnen auch Leute aus der Gemeinde selbst, die die Seiten gewechselt haben. Was ihr Vergehen ist? „Wir organisieren uns, wir wollen nicht verkaufen und wir geben nicht klein bei“, erklärt Salvador. Sein Ausweis ist abgelaufen, eigentlich müsste er in die Stadt, aber das geht nicht. Arbeiten kann er nur auf seinem nahegelegenen Feld, in den Laden nicht. Er erzählt von der Angst, die ihm bei jedem Gang nach draußen packt. „Ich fühle mich verfolgt, ich bin nervös und traurig.“

Milton, ein junger Mann, der auch Teil der indigenen Autorität ist, kennt die Rechte der Gemeinde. „Es gab keine consulta, wie sie die ILO-Konvention 169 der Vereinten Nationen vorschreibt. Wir haben ein Recht, uns als indigene Gemeinde selbst zu regieren und wir hätten gefragt werden müssen, bevor die Firma hier zu arbeiten anfängt“, sagt er. „Wir sind hier geboren, das ist unser Land. Aber jetzt heißt es, wir seien die usurpadores, die hier eindringen. Wir sollen ins Gefängnis, weil wir unser Recht einfordern.“

Unterstützt werden die jungen Männer mit offenem Haftbefehl von den Anwält:innen des Menschenrechtsbüros. In einem Fall konnten sie einen Freispruch erreichen, aber die Gerichte sind willfährig und der Ausgang eines Verfahrens sei trotz fehlender Beweise für eine Schuld keineswegs sicher, erzählt Edgar Pérez, der das Büro leitet. Anzeigen der Gemeinde wegen der Zerstörung der Umwelt und Aggressionen seitens der Wachleute seien im Sande verlaufen. Im ganzen Land begleitet das Anwaltsbüro ähnliche Fälle in indigenen Gemeinden, unterstützt aber auch die Kämpfe von Gesundheitsarbeiter:innen und hat eine entscheidende Rolle bei dem Versuch gespielt, den Genozid in Guatemala aufzuarbeiten.

Land unter

Und dann erzählt Don Pedro, 75 Jahre und mit Abstand der Älteste in der Runde, wie ein bis zweimal im Jahr der Chixoy über die Ufer tritt und die gesamte Gemeinde bis unter die Dächer der Holzhütten überflutet. Wir können es kaum glauben. Was die kleine Gemeinde ertragen muss, ist doch so schon hart genug. Aber die Fotos zeigen es: Wasser bis in die Baumkronen, von einem Haus sieht man nur noch das Dach. Alles ist weg. Die Ernte und alles, was sie nicht innerhalb von wenigen Stunden zusammenpacken können, geht in den Fluten verloren.

„Früher stieg das Wasser langsamer und längst nicht so hoch“, sagt Pedro. Doch seitdem die Firma zur Bewässerung der Plantage Kanäle am Chixoy gegraben habe, wäre es anders. Immer wieder müssen die rund 1000 Menschen aus dem Ort ihre Häuser verlassen und für drei bis vier Wochen Zuflucht auf einer nahegelegenen Anhöhe suchen. Ein Flüchtlingslager, immer wieder. Wenn das Wasser sinkt, kehren sie in ihre Häuser oder das, was davon übriggeblieben ist, zurück. Beim Wiederaufbau helfen sie sich gegenseitig, erzählen sie. Bis der Brunnen, aus dem sie ihr Trinkwasser schöpfen, wieder klares Wasser hat, dauert es einen weiteren Monat. Und dann pflanzen sie wieder an für die nächste Ernte. Bis das Wasser wieder kommt.

Don Pedro ist der Vater von Salvador, dem Vorsitzenden der indigenen Autorität. Er ist einer der wenigen hier, die den Völkermord an der indigenen Bevölkerung in den 1980er Jahren erlebt haben. Es macht ihn traurig, sagt er, zu sehen, wie die jungen Leute heute leiden. „Und das nach allem, was meine Generation schon gelitten haben, so viele sind damals gestorben.“ Nach dem Bürgerkrieg hat der Frieden in Guatemala nur kurze Zeit gehalten, stellt er fest. „Die Reichen besitzen das Land bis heute und was können wir tun? Wir sind Bauern, wir brauchen doch Land, um uns und unsere Kinder zu ernähren.“

Wir verabschieden uns mit einem beklommenen Gefühl. Die Unterstützung durch die Anwält:innen ist enorm wichtig für die Gemeinde. Die Haftbefehle müssen weg und die Menschen hier brauchen eine Atempause. Aber ändert das etwas an der tiefen Aussichtslosigkeit ihrer Lage? Edgar Pérez ist Optimist: „Die Leute hier arbeiten zusammen, halten den sozialen Zusammenhalt aufrecht und widersetzen sich der Spaltung. Das ist ihr größtes Kapital und das größte Problem für den Staat und die Firmen, die sich überall in Guatemala auf indigenem Land breitmachen.“

Das Massaker von Panzós

Wir fahren nach Südosten, nach Panzós. Am 29. Mai 1978 wurden hier, auf dem Dorfplatz der Gemeinde Panzós im Polochic-Tal in Alta Verapaz, über dreißig Frauen, Männer und Kinder, Angehörige der Maya Q'eqchi', von Soldaten getötet. Dutzende Menschen wurden im Kugelhagel der Maschinengewehre verletzt, der auf die Menschen niederging. In Panik flohen die Menschen aus dem Ort, viele ertranken in Flüssen, die wegen des anhaltenden Regens zu jener Zeit Hochwasser führten, andere wurden mit Hubschraubern gejagt und kaltblütig ermordet. Insgesamt starben an diesem Tag 53 Menschen, begraben wurden die meisten Toten in einem anonymen Massengrab am Rande des Friedhofs am Ortsausgang. So sollten Spuren des Verbrechens beseitigt werden.

Am Morgen vor dem Massaker waren Hunderte Menschen aus den umliegenden Gemeinden im Tal des Polochic nach Panzós gekommen, um beim Bürgermeister gegen die Vertreibung von Ländereien zu protestieren, auf denen ihre Familien seit Generationen lebten – auch wenn es auf dem Papier nicht ihnen gehörte. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts hatte der Staat indigenes Gemeindeland enteignet, um es deutschen Siedlern für den Anbau landwirtschaftlicher Exportprodukte zur Verfügung zu stellen. Versuche, verbliebene Ländereien zu legalisieren, scheiterten an der rassistischen Bürokratie, die Vertreibung der Maya Q'eqchi' in Alta Verapaz ging weiter.

Um ihren Ansprüchen auf das Land mehr Gewicht zu verleihen, bildeten sich an vielen Orten im Tal Komitees. Diese Selbstorganisierung der indigenen Bäuer:innen, die für den Erhalt ihres Landes kämpften, beunruhigte die Großgrundbesitzer der Region. Sie erreichten beim Gouverneur, dass eine Militäreinheit aus der sieben Kilometer entfernten Basis nach Panzós verlegt wurde. Diese Einheit stellte zusammen mit den Großgrundbesitzern die tödliche Falle des 29. Mai. Militär und Landeigentümer teilten das Interesse an einer ethnischen Säuberung des Polochic-Tals: Die Maya-Bäuer:innen standen den Profitinteressen der einen im Weg, für die anderen waren die indigenen Selbstorganisationen Teil der Guerilla, mit der sich die Armee bereits seit 1960 im Bürgerkrieg befand.

Kontinuität der Gewalt

Wie aktuell auch hier die Landfrage bis heute ist und wie wenig sich seit dem Massaker von Panzós geändert hat, zeigt die kleine indigene Comunidad 8 de Agosto, die sich wenige Kilometer vom Ort entfernt niedergelassen hat. Die Siedlung liegt direkt neben der Landstraße, die das Tal des Polochic durchzieht. 2007 sind sie hierhergekommen, berichtet Don Arturo, ein breiter Mann mit weißem T-Shirt, verschlissenen Jeans und Badeschlappen. Wir sitzen auf Plastikstühlen, über uns ein Wellblechdach, unter uns Betonfundament. Der nach allen Seiten offene Raum ist der Gemeinschaftsort der elf Familien, die hier leben.

Angela, eine lokale Mitarbeiterin der medico-Partnerorganisation Equipo de Estudios Comunitarios y Acción Psicosocial (ECAP), die die Gemeinde seit vielen Jahren begleitet, übersetzt das Q'eqchi', das sie auch hier sprechen, ins Spanische. Um uns herum spielen Kinder, Frauen bereiten das Essen vor, das es anlässlich unseres Besuchs gibt: Huhn, Kohl und anderes Gemüse, Kräuter und Chili werden über einem großen Kessel über dem offenen Feuer eingekocht.

Ursprünglich seien sie aus Carboncito, einem Dorf in der Nähe, das brutal betroffen war von den Geschehnissen in Panzós 1978, berichtet Arturo. „Unsere Eltern haben sehr gelitten damals“, sagt er. „Und niemals hätten wir gedacht, dass es uns auch so ergehen würde“. 2009 wurde die Gemeinde das erste Mal geräumt. Das Grundstück gehört dem Staat, anders als das meiste Land im Tal, das Eigentum von privaten Großgrundbesitzern oder Unternehmen ist. Macht das einen Unterschied? Unklar. Während manch andere Besetzung es in Verhandlungen mit den Eigentümern geschafft hat, das Land zu pachten, wurden die Familien der 8 de Agosto im Jahr 2011 erneut von den paar Dutzend Hektar, die sie hier bewohnen und bewirtschaften, vertrieben. Und das ohne eine juristische Grundlage. „Wir haben uns am Rand der Landstraße niedergelassen und dort ausgeharrt, bis Polizei und Militär endlich wieder abgezogen sind“, berichtet Don Arturo.

Wie schlimm die Räumung für die Gemeinde war, lässt sich trotz des eindringlichen Berichts, der von verschiedenen Stimmen aus der Runde ergänzt wird, nur erahnen. Die Hütten wurden zerstört, Vieh getötet und Nutzpflanzen vernichtet. Nichts von dem, was die Menschen sich mühsam aufgebaut hatten, blieb übrig. „Wir seien ‚Invasoren‘ wird uns gesagt, dabei sind wir doch Kinder Guatemalas. Wir brauchen Land zum Leben, wir bereichern uns nicht, wir arbeiten für unser Überleben“, erklärt Arturo.

Kein Strom, kein Wasser, keine Gesundheitsversorgung

Inzwischen sind sie bereits seit 16 Jahren hier und bauen weiter Mais und Bohnen an, ein paar Bäume mit Limetten gibt es, einige Familien halten ein paar Kühe oder Schweine. Viel ist es nicht, die Armut ist deutlich sichtbar. Strom haben sie nicht, das Wasser aus dem Fluss, der aus den Hügeln auf der anderen Seite der Straße ins Tal fließt, nutzen sie zum Waschen, zum Kochen und auch als Trinkwasser. Gesund kann das kaum sein. Weil aber im Gesundheitszentrum von Panzós bekannt ist, dass sie aus der widerständigen Gemeinde kommen, werden sie nicht behandelt. Wenn ein Kind krank ist, gehen sie in die Apotheke und fragen dort, was sie machen können. Mehr Gesundheitsversorgung haben sie nicht, erzählt Angela.

ECAP unterstützt seit seiner Gründung 1996 indigene Gemeinden in Guatemala mit psychosozialer Hilfe. Ziel der Organisation ist die Aneignung der Gewalt-Erfahrungen, die die Menschen hier gemacht haben und weiter machen, durch die Betroffenen. Aus individuellem Leid wird so eine geteilte Erfahrung, die die Gemeinschaft bestärken kann. Auch in der Comunidad 8 de Agosto führen sie regelmäßig Gesprächsrunden durch, in denen die Menschen über ihre Erlebnisse sprechen können. Gruppentherapie zur gemeinsamen Bearbeitung der Alpträume, der Sorgen und neben den psychischen auch der physischen Folgen, die die ständige Angst vor einer weiteren Räumung oder Angriffen durch die Mitarbeiter von Unternehmen, die in der Nähe expandieren, auslöst. „Der Fortschritt der anderen ist eine Bedrohung für unsere Existenz“, sagt Doña Gloria, die immer mal wieder aufsteht, um nach dem kochenden Eintopf im Kessel zu schauen.

Weitermachen

„Nach allem, was unsere Vorfahren und wir erlebt haben, haben wir ein Recht auf dieses Land“, sagt. Don José. „Wir brauchen die juristische Sicherheit, nicht mehr vertrieben zu werden. Für uns und unsere Kinder.“ Besonders aussichtsreich ist das nicht. Unter der Regierung Giammattei wurde das Büro für Agrarfragen, das für ihr Anliegen zuständig wäre, geschlossen. „Der Staat macht die Tür zu“, sagt José, der mit Gummistiefeln, lehmverschmutzter Arbeitshose und umgedrehter Baseball-Kappe auf dem Kopf, in der Runde sitzt. „Er verweigert uns unsere Rechte.“ Was wollen sie tun, wenn noch einmal eine Räumung käme? Arturo überlegt: „Zuerst würden wir versuchen, zu verhandeln, um das Schlimmste abzuwenden. Und wenn es doch zur Räumung kommt, werden wir wiederkommen. Unser Herz gehört dieser Erde“. Die Verzweiflung über die Unsicherheit, in der die Gemeinde lebt, ist deutlich zu spüren.

Im Gespräch wird immer wieder deutlich, wie wichtig die psychosoziale Unterstützung durch ECAP für die Gemeinde ist. „Die Gespräche mit den Psychologen helfen, den Schmerz und die Verluste, die die Regierung uns zugefügt hat, hinter uns zu lassen und weitermachen zu können“, sagt José. „Die Angst bringt uns zum Schweigen“, ergänzt Gloria, „sie paralysiert und wirft uns um wie ein starker Wind die Maispflanzen.“ Sie sprechen noch länger von den Bedrohungen, die sie erfahren haben, von Schüssen in ihre Richtung und der Stigmatisierung, land- und damit rechtlos zu sein. Nichts hat sich hier geändert, so ist unser Eindruck. Nicht seit dem Massaker von Panzós und auch nicht seit dem Friedensvertrag, der den jahrzehntelangen Bürgerkrieg – den conflicto armado interno – 1996 beendet hat.

Das Massaker von Panzós lässt sich rückblickend lesen als Vorbote der Politik der verbrannten Erde, die die Diktatur des Generals Efraín Ríos Montt zwischen März 1982 und August 1983 kennzeichnete. Die Verachtung der Existenz indigenen Lebens in Guatemala, die Brutalität des Umgangs mit den Menschen, die nur ein Stück Land wollen und die Sicherheit, sich selbst ernähren zu können, hält bis heute an. Um die Menschen am Chixoy und im Polochic-Tal zu entrechten, braucht es längst keine Militärdiktatur mehr, das geht auch „demokratisch“.

Als es Hoffnung gab

Dabei gab es in der jüngsten Vergangenheit Guatemalas eine Zeit, in der es schien, als würde die Geschichte der Gewalt tatsächlich aufgearbeitet, eine Zeit, in der Gerechtigkeit möglich schien und die Hoffnung auf einen echten Neuanfang für einen kurzen Moment real war. Vor zehn Jahren durchlebte das Land ein Wechselbad der Gefühle: Am 10. Mai 2013 wurde der frühere Diktator Efraín Ríos Montt in einem historischen Urteil wegen seiner Verantwortung für den Genozid an der indigenen Bevölkerung schuldig gesprochen. Zum ersten Mal in der internationalen Justizgeschichte stand ein Staatschef wegen Verbrechen gegen die Menschheit vor einem heimischen Gericht. Und das ausgerechnet in Guatemala, wo Armee und Paramilitärs während des Bürgerkriegs reihenweise politische Gegner:innen ermordet und systematisch indigene Dörfer und Gemeinschaften ausgelöscht haben. In den gut anderthalb Jahren der Militärdiktatur von Ríos Montt kamen 20.000 Menschen in 300 Massakern ums Leben. Endlich sollte es Gerechtigkeit für diese Verbrechen geben. Doch die Freude über die Verurteilung des greisen Ex-Diktators währte nur kurz: Zehn Tage nach der Urteilsverkündung kassierte das Verfassungsgericht es ein.

Der Weg zum Prozess gegen Ríos Montt war lang. Die Jahre nach dem Friedensschluss 1996 waren von politischer Apathie geprägt, von Angst auf Seiten der Bevölkerung und hemmungslosem Machtmissbrauch auf Seiten der Eliten. Die Straflosigkeit für die Verbrechen an der guatemaltekischen Bevölkerung schienen in Stein gemeißelt. Doch unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung hatten sich die medico-Partner:innen von der Anwaltskanzlei für Menschenrechte kontinuierlich für die Ausbildung einer unabhängigen Justiz eingesetzt, über Jahre Beweise und Aussagen gesammelt, Sachverständige konsultiert und so die Voraussetzungen für das aufsehenerregende Verfahren gegen Ríos Montt geschaffen. Dass ein Genozid-Prozess Realität werden konnte, hatte auch ein Moment des Zufalls: Im Jahr 2005 fanden Mitarbeiter:innen der Staatsanwaltschaft für Menschenrechte das geheime Archiv der guatemaltekischen Polizei. Damit gelangten 80 Millionen kleine Ordner, Dokumente von 1882 bis 1997 in die richtigen Hände. Ein großer Teil betraf die Jahre der schlimmsten Gewalt im conflicto armado interno.

In den Jahren nach 2013 wurden noch weitere wegweisende Urteile gegen Verantwortliche für den Genozid gesprochen. Im Februar 2016 gab ein Gericht 15 indigenen Frauen der Maya Q'eqchi' Recht, die 1982 in das Militärlager Sepur Zarco verschleppt und über Jahre vergewaltigt und versklavt worden waren. Unterstützt wurden die Frauen auch hier vor, während und nach dem Prozess von den Psycholog:innen der medico-Partnerorganisation ECAP.

Doch der Aufbruch jener Jahre beschränkte sich nicht auf die Aufarbeitung der gewaltvollen Geschichte Guatemalas: Im Jahr 2015 zwangen wochenlange Proteste zunächst Vizepräsidentin Roxana Baldetti, ihren Posten zu räumen, und auch der damalige Präsident Otto Pérez Molina trat angesichts der Proteste und eines Haftbefehls gegen ihn schließlich zurück. Beide sitzen bis heute in Haft, weil sie ein kriminelles Netzwerk geleitet haben, das Gelder aus Zolleinnahmen beiseite geschafft hat. „Sie haben uns alles weggenommen, auch die Angst“ war damals eine vielgerufene Parole derer, die über Monate immer wieder gegen den Machtmissbrauch der guatemaltekischen Eliten demonstrierten. Großen Anteil an der Verfolgung der kriminellen Machenschaften innerhalb der Regierung hatte die UN-mandatierte Internationale Kommission gegen die Straflosigkeit (CICIG), die 2006 eingesetzt worden war, nachdem die damalige guatemaltekische Regierung bei den Vereinten Nationen Hilfe im Kampf gegen die organisierte Kriminalität und Korruption erbeten hatte.

Pakt der Korrupten

Die Protestwelle gegen die korrupten Machthaber Guatemalas ebbte Ende des Jahres 2015 mit dem Wahlsieg von Jimmy Morales schließlich ab. Der frühere Komiker hatte sich in seiner Präsidentschaftskampagne erfolgreich als unverbrauchter Außenseiter verkaufen können. Doch die Hoffnung auf Wandel währte nicht lang, Morales stützte seine Regierung vor allem auf das Militär und warf die CICIG, nachdem er selbst in den Fokus ihrer Ermittlungen geraten war, im Jahr 2019 aus dem Land. Damit war die Aussicht auf grundlegende Veränderung, die in den Jahren zuvor so lebendig war, zunichte gemacht. Auch die Proteste gegen die Korruption der kurz zuvor im Amt vereidigten Regierung unter Morales‘ Nachfolger Alejandro Giammattei im Jahr 2020 änderten daran nichts mehr.

Längst geht es steil bergab mit dem Rechtsstaat in Guatemala. Nur ein paar Beispiele: Claudia Paz y Paz war bis 2014 Generalstaatsanwältin und hat in dieser Funktion Drogenhändler, Ex-Diktator Ríos Montt und weitere hochrangige Militärs wegen ihrer Verantwortung in schweren Fällen von Menschenrechtsverletzungen vor Gericht gebracht. Deshalb wurde sie vor Ablauf ihrer Amtszeit aus dem Amt gedrängt und musste 2014 mit ihrer Familie das Land verlassen. Die frühere Ermittlerin der CICIG, Virginia Laparra, sitzt seit über einem Jahr im Gefängnis, weil sie ihr Amt missbraucht haben soll. Iván Velásquez Gómez, früher Direktor der CICIG und inzwischen Verteidigungsminister von Kolumbien, soll sich, wenn es nach der guatemaltekischen Staatsanwaltschaft geht, wegen Korruption vor Gericht verantworten. Ebenso der bekannte Journalist José Rubén Zamora, dessen regierungskritische Zeitung elPeriódico ihr Erscheinen nach seiner Verhaftung einstellen musste. Während unserer Reise wird zudem Orlando Salvador López festgenommen. Der Vorwurf: Amtsanmaßung. Er war als Staatsanwalt an der Verurteilung von Ríos Montt beteiligt. Fünf Namen, die für viele weitere Fälle stehen, in denen unabhängige Richter:innen, Staatsanwält:innen, Journalist:innen und Menschenrechtsverteidiger:innen mit Prozessen überzogen werden, die nur durch die Rachsucht der korrupten Elite und ihrem Bedürfnis nach „Rechtssicherheit“ für ihre kriminellen Machenschaften zu erklären ist.

Noch sind unsere Partner:innen nicht direkt von der Repressionskampagne betroffen, aber wie lange wird das noch gut geht, fragen wir uns auf der Rückfahrt in die Hauptstadt – auch mit Blick auf unsere Eindrücke aus El Salvador, wo Präsident Nayib Bukele immer autoritärer agiert, und in Nicaragua, wo überhaupt keine unabhängige Arbeit mehr möglich ist. Hat Guatemala den gleichen Weg eingeschlagen? Viele Anzeichen sprechen dafür, doch die Fassade einer pluralistischen Demokratie bleibt erhalten, wie die Wahlaufrufe verschiedener Parteien auf unserer Reise zeigen. Hinter der Fassade ihrer verschiedenen Farben und Slogans sind jedoch keine Unterschiede zwischen den Parteien zu erkennen, sie sind als inhaltslose Hüllen nur Mittel zum Zweck verschiedener Fraktionen der Eliten, um den Staatshaushalt auch in der kommenden Legislaturperiode zu plündern.

Bereits im Januar wurde die Kandidatur der indigenen Führungsfigur Thelma Cabrera und ihres Vizes Jordán Rodas vom Obersten Wahlgericht abgelehnt. Rodas war früher Staatsanwalt für Menschenrechte, aus dieser Zeit fehlen angeblich noch Finanzunterlagen, die eine Teilnahme an den Wahlen verhindern. Als Präsidentschaftskandidatin aufstellen lassen konnte sich dagegen Zury Ríos, Tochter von Efraín Ríos Montt. Gut möglich, dass sie selbst der wirtschaftlichen Elite des Landes zu rechtsradikal ist, aber für die Menschen im Tal des Polochic und am Chixoy wird das Ergebnis der Wahlen ohnehin nichts verbessern, verschlechtern vielleicht, auch wenn kaum vorstellbar ist, was noch schlechter sein soll als ihre Gegenwart.

Die medico-Partner:innen von ECAP und dem Anwaltsbüro für Menschenrechte stehen denen bei, die sonst niemand an ihrer Seite haben. Ihr Kampf um Land und Frieden mag kaum Aussicht auf Erfolg haben, dennoch macht die Arbeit unserer Partner:innen mit den indigenen Gemeinden Guatemalas einen Unterschied ums Ganze.

Moritz Krawinkel

Moritz Krawinkel leitet die Öffentlichkeitsarbeit bei medico international. Außerdem ist er in der Redaktion tätig und für die Öffentlichkeitsarbeit zu Zentralamerika und Mexiko zuständig.

Twitter: @mrtzkr


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