Guatemala

Der Frühling ist da

24.09.2015   Lesezeit: 5 min

Eine breite Protestbewegung hat die bisherigen Machthaber aus dem Palast gejagt und die Demokratiefrage in Guatemala auf die Agenda gesetzt.

Von Dieter Müller

„Der empörte (Bienen-)Schwarm schweigt nicht, und er fordert, und er wird gehört und er schafft es. Voller Neid (von dem guten) schauen wir auf die Guatemalteken ... Wann sind wir soweit?” So kommentiert die salvadorianische Cineastin Marcela Zamora die Entwicklungen in Guatemala auf Facebook. Die Mesoamerikanische Migrationsbewegung, medico-Partner aus Mexiko, schreibt: „Heute früh begrüßt uns das guatemaltekische Volk mit seinem Sieg, der Präsident ist zurückgetreten.“ Allenthalben äußern Partnerinnen und Bekannte von medico in Mittelamerika Bewunderung und Respekt für die Protestbewegung in Guatemala – verbunden mit dem Wunsch, etwas Vergleichbares möge auch im eigenen Land geschehen. In Honduras ist man dem Vorbild bereits gefolgt und protestiert Woche um Woche gegen die Korruption der Eliten.

In der Tat hat die sehr heterogene Bewegung in Guatemala einen gewaltigen Erfolg errungen: Nachdem bereits Vizepräsidentin Roxana Baldetti ihren Posten räumen musste, erfüllte Anfang September auch Präsident Otto Pérez Molina nach vier Monaten unermüdlichen Protesten und nachdem die Staatsanwaltschaft Haftbefehl gegen ihn erlassen hatte die zentrale Forderung des Volkes und trat zurück. Dass all das passieren und eine solch breite und ausdauernde Bewegung aufkommen würde: Kein Kenner des Landes hat es prognostiziert.

Guatemala ist allerdings nicht zum ersten Mal zum Vorbild für die Zivilgesellschaft anderer lateinamerikanischer Länder geworden: Das kleine Land war schon einmal Vorreiter demokratischer Hoffnungen. Mit der Oktoberrevolution 1944, also noch lange vor der Revolution auf Kuba, wurde Diktatur Jorge Ubico gestürzt. Präsident Juan José Arévalo läutete eine umfassende Demokratisierung ein, unter seinem Nachfolger Jacobo Arbenz wurden umfangreiche Landreformen durchgeführt. Das jedoch ließ sich „Die Krake“, die United Fruit Company, nicht lange gefallen und forderte die CIA auf einzuschreiten.

Postwendend wurde Arbenz weggeputscht, die Oligarchie und das Militär übernahmen wieder die Geschicke des Landes. Damit begann ein langer politischer Winter, der in den 1970er- und 80er-Jahren in das systematische Verschwindenlassen politischer Oppositioneller und die „Politik der verbrannten Erde“ gegen das indigene, ländliche Guatemala mündete.

Eine Schlacht ist gewonnen

Die vergangenen zwei Jahrzehnte waren von politischer Apathie geprägt, von Angst auf Seiten der Bevölkerung und hemmungslosem Machtmissbrauch auf Seiten der Eliten. Die Verhältnisse und die Straflosigkeit für Verbrechen an der guatemaltekischen Bevölkerung schienen in Stein gemeißelt. In den vergangenen Jahren jedoch konnten Menschenrechtsaktivistinnen und soziale Bewegungen in ihrem Kampf für die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen gemeinsam mit einer engagierten Staatsanwaltschaft immer wieder Teilerfolge erzielen. Vorläufiger Höhepunkt war die Verurteilung des Ex-Diktators Ríos Montt im Jahr 2013. In der Mauer der Straflosigkeit zeigten sich erste Risse. Gleichzeitig gedieh die Korruption und die Verfilzung zwischen organisierter Kriminalität und Staatsmacht immer weiter – bis hin zu jenen skandalösen Ausmaßen, die in diesem Jahr den Sturm des Protests entfacht haben.

Der momentane Wandel ist damit auch ein Verdienst der UN-mandatierten Kommission gegen die Straflosigkeit (CICIG) in Guatemala. Entsprechend werden die Rufe nach einer solchen Instanz auch anderenorts immer lauter. Der gerade veröffentlichte Bericht der unabhängigen Untersuchungskommission zu dem Verschwindenlassen der 43 Lehramtsstudenten aus Ayotzinapa in Mexiko zeigt deutlich, dass Justiz und Exekutive im eigenen Land weder in der Lage noch Willens sind, für Wahrheit und Gerechtigkeit zu sorgen. „Die CICIG ist sehr wichtig und sie hat für Guatemala entscheidende Impulse gesetzt“, kommentiert einer der Anwälte der Menschenrechtskanzlei, medico-Partner in Guatemala. Doch er weist auch darauf hin, dass die Justiz nicht ständig Motor für politische Veränderungen sein könne. „Es bedarf politischer Aktionen, um die Veränderungen voranzutreiben und zu konsolidieren.“

Die Protestbewegung hat sich nicht mit allen Forderungen durchgesetzt. Weder wurde mit Neuwahlen gewartet, bis ein neues Wahl- und Parteiengesetz in Kraft ist, noch wurde eine Übergangsregierung der nationalen Einheit oder eine Verfassungsgebenden Versammlung von unten für einen plurinationalen Staat eingerichtet. Eines aber ist sicher: ein Zurück zu Angst und Apathie wird es nicht mehr geben.

Eine der zentralen Herausforderung besteht nun darin, die politischen Prozesse für ein „nunca más“ (Nie wieder) in Sachen Straflosigkeit und Korruption zu festigen. Hoffnung macht dabei vor allem die massive Beteiligung der guatemaltekischen Jugend an den Protesten – oder auch das Bündnis zwischen den Studierenden der großen öffentlichen und der elitären privaten Universitäten. Entscheidend dürfte sein, ob es gelingt, dauerhafte und respektvolle Bündnisse zwischen der weißen urbanen Mittelschicht und dem „guatemala profunda“, dem indigenen und ländlichen Guatemala, zu knüpfen. Denn dessen Kämpfe gegen Rassismus, Exklusion, Extraktivismus und Megaprojekte konnten bislang nicht auf eine breite nationale Solidarität zählen. Dabei könnten genau sie Ausgangspunkt für eine tiefgreifende Systemveränderung sein. Denn so bedeutend und symbolträchtig der Sturz des Präsidenten auch war: Die Macht jener, die das Land als Beute sehen und zu ihren Gunsten weiter plündern wollen, ist noch nicht gebrochen. Daran werden auch die aktuellen Wahlen nichts ändern, ganz gleich, wer bei der Stichwahl Ende Oktober zum Präsidenten erkoren wird.

medico unterstützt in Guatemala seit vielen Jahren den Kampf gegen die Straflosigkeit und fördert die Arbeit der Partner Comisión Internacional de Juristas (CIJ), Bufete Jurídico de Derechos Humanos (BJDH) und Equipo de Estudios Comunitarios y Acción Psicosocial (ECAP). Daneben engagiert sich medico auch für die indigene Bevölkerung auf dem Land. So setzt sich der Partner Sagrada Tierra in elf Dörfern im Petén für Ernährungssicherheit und lokale Selbstorganisation ein.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2015. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!


Jetzt spenden!