In den letzten Jahren haben libanesische Politiker*innen wiederholt versprochen, Arbeitsplätze zu schaffen. Versprechen gibt es im Überfluss, aber sie werden nicht eingehalten, sondern durch rassistische Stereotype und die Verstärkung des Hasses gegen migrantische Arbeiter*innen neutralisiert. Diese Taktik zielt darauf ab, libanesische Arbeitskräfte und Arbeitsmigrant*innen gegeneinander auszuspielen, als würden sich diese Gruppen gegenseitig etwas streitig machen. Es ist eine wirksame Methode, um Libanes*innen von ihren Problemen und den wahren Gründen der Arbeitslosigkeit abzulenken. Diese von der Regierung orchestrierte Propaganda fördert die Idee, dass der Schutz libanesischer Arbeitskräfte mit der Bekämpfung "illegaler" Arbeitsmigrant*innen beginnt und endet. Diese Tendenz innerhalb des libanesischen Staates lässt sich durch eine Erklärung des Leiters der Freien Patriotischen Bewegung und ehemaligen Außenministers Gibran Bassil am 8. Juni 2019 illustrieren: "Es ist selbstverständlich, libanesische Arbeiter gegen jeden anderen ausländischen Arbeiter zu verteidigen, ob Syrer, Palästinenser, Franzosen, Saudi, Iraner oder Amerikaner. Die Libanesen kommen zuerst".
Mit dieser Rhetorik wird versucht, Zeit zu gewinnen und die tiefgreifenden Defizite des libanesischen Staates, insbesondere in seiner sozioökonomischen Struktur, zu vertuschen. Die libanesische Wirtschaft ist unproduktiv und an den US-Dollar gebunden; sie schafft keine echten und nachhaltigen Arbeitsmöglichkeiten. Die Wirtschaft leidet hauptsächlich an einem doppelten Problem: Banken und Immobiliengesellschaften. Und trotz des Zusammenbruchs der lokalen Währung wird der Markt weiterhin durch Öl-, Medikamenten- und Lebensmittelimporteure kontrolliert. Es handelt sich um eine Wirtschaft, die immer dann stagniert, wenn sich der Zustrom von US-Dollar durch im Ausland arbeitende libanesische Bürger*innen verlangsamt. Zudem handelt es sich um eine ungesättigte Wirtschaft, was bedeutet, dass sie zwar sehr rasch wachsen kann, jedoch nur durch die Aufnahme von Krediten, die Anhäufung von Schulden und auflaufende Zinsen. Dies ist zum Teil auf Ressourcenknappheit und -missbrauch einerseits, und auf die administrative und politische Korruption andererseits zurückzuführen, die sich als lähmendes Defizit in der Zahlungsbilanz niederschlägt. Dementsprechend ist das Wachstum der libanesischen Wirtschaft in ihrer neoliberalen Form direkt proportional zum Wachstum der Auslandsschulden. Die Libanes*innen werden sich nun des künstlichen Charakters dieses Wachstums bewusst, da sie erkennen, dass er ausschließlich mit einem Anstieg des Konsums erreichbar ist. Wachstum findet also ohne eine kontinuierliche Schaffung von Arbeitsplätzen statt, die Ersparnisse und eine umfassende soziale und gesundheitliche Absicherung ermöglichen würden.
Der natürliche Verlauf dieses künstlichen Wachstums der neoliberalen Wirtschaft, wie er im Libanon stattgefunden hat, führt zu „Bettelei". Die Konferenzen Paris I, Paris II, Paris III und CEDRE, aber auch der Rückgriff auf die Ausgabe von Staatsanleihen zur Finanzierung des permanenten und aufgelaufenen Defizits im Staatshaushalt zeigt dies. Der letzte Ausweg für die libanesische Oligarchie in ihrem Versuch, ihr Wirtschaftsmodell zu bewahren, besteht darin, jetzt auf den Internationalen Währungsfonds (IWF) zurückzugreifen.
Arbeit als Gefälligkeit der Oligarchen
Die libanesische Rentenwirtschaft und der darin integrierte und auf diesen Gewinnen aufbauende Staatsapparat bestimmen die Arbeitsbedingungen und die Beschäftigungspolitik, sowohl für einheimische, als auch für ausländische Arbeitskräfte. In diesem auf Ausbeutung aufgebauten Staat sind Arbeitsmöglichkeiten kein Menschenrecht, sondern vielmehr ein gönnerhafter Gefallen mächtiger Persönlichkeiten, die sich für Arbeitssuchende „einsetzen“. Der Arbeitslohn mutiert von einem erworbenen Recht zu einer quasi-karitativen Praxis seitens der Arbeitgeber*innen; die Arbeitnehmer*innen müssen diese von den Arbeitgeber*innen erbrachten „Opfer" zu schätzen wissen. Dem entsprechen die Kampagnen und Pläne zur „Bekämpfung illegaler ausländischer Arbeitskräfte“, sie können nur als mediale Kampagnen verstanden werden, um den „patriotischen Geist" der libanesischen Arbeitskräfte gegen alles Fremde aufzuhetzen und sie von den wahren Probleme abzulenken. Diese Rhetorik soll dazu verleiten, imaginäre Kämpfe gegen die verletzlichsten und marginalisiertesten Arbeiter*innen zu führen.
Viele Libanes*innen, insbesondere die Anhänger*innen rechter politischer Bewegungen die berüchtigt für ihre Angriffe auf migrantische Arbeiter*innen sind, weigern sich, zu verstehen (geschweige denn zu akzeptieren), dass die steigende Zahl ausländischer Arbeitskräfte im Libanon nicht „aus Versehen" geschehen, sondern das Ergebnis systematischer Rekrutierung ist. Ironischerweise beschuldigen die der Oligarchie nahestehenden Medienplattformen, einschließlich ihrer gebildeten und respektablen Vertreter*innen, die migrantischen Arbeiter*innen sogar, dass sie US-Dollar aus dem libanesischen Markt zu ihren Familien in den Herkunftsländern exportieren. Dabei bemerken sie nicht, dass dieselben Arbeiter*innen den Reichtum genau der Investoren vergrößern, von denen sie ausgebeutet werden. Und diese Medien versäumen es auch, die unermessliche Dollar-Summe zu erwähnen, die aus dem Libanon herausgeschmuggelt wird, sei es über Geldmogule oder mafiöse Parteikanäle. Dieses geschmuggelte Geld ist die Summe des Reichtums, der allen Arbeiter*innen, Libanes*innen und Migrant*innen gleichermaßen, gestohlen wurde.
Schätzungsweise 300.000 „Migrant Domestic Workers“ aus Asien und Afrika leben und arbeiten im Libanon, vorwiegend aus Äthiopien, den Philippinen, Sri Lanka, Nepal oder Sudan rekrutiert – und zwar von einem professionellen internationalen Anwerbesystem, betrieben von Recruitment-Agenturen und der libanesischen Regierung. Die Arbeiterinnen sind von nationalen Arbeitsgesetzen ebenso ausgeschlossen wie von internationalen Schutzregeln. Stattdessen unterliegen sie dem „Kafala“- System. Mit der Anwerbung treten die Arbeiterinnen ihre Rechte an den Hausherren bzw. die Arbeitgeberin ab. Oft wird der ohnehin karge Lohn nicht ausbezahlt, Missbrauch ist alltäglich – ebenso ein Leben „unter Arrest“, da viele Migrantinnen das Haus nicht verlassen dürfen. Indem die Arbeitgeber*innen auch über die Pässe verfügen, bestimmen sie über Legalität und Illegalität ihrer „Dienstmädchen“.
Ausbeutung und moderne Sklaverei
Die ausbeuterischen Macht- und Autoritätsverhältnisse, mit denen migrantische Arbeiter*innen konfrontiert sind, lassen sich nicht von der libanesischen Gesellschaftsstruktur trennen, sondern werden von ihr bestimmt. Die Nachfrage nach ausländischen Arbeitskräften ist in den verschiedenen Wirtschaftssektoren weder willkürlich, noch steht sie im Widerspruch zur Beschäftigung lokaler Arbeitskräfte.
Die Ausbeutung, der ausländische Arbeitskräfte ausgesetzt sind, lässt sich in drei Ebenen einteilen, die alle mit den Zwängen des Kafala-Systems und dem Versäumnis der Arbeitgeber*innen zusammenhängen, sich im Umgang mit migrantischen Arbeiter*innen an arbeitsrechtliche Normen zu halten. Die erste Ebene ist der Menschenhandel und die Unterwerfung der Arbeiter*innen unter Zwangsarbeit. Die zweite Ebene ist die Intensivierung der Arbeitszeit bei geringerer Bezahlung und der Entzug von Urlaubs- und Pausenzeiten. Und die dritte Ebene ist die physische und psychische Misshandlung während der Arbeitszeit, unabhängig von Lohn und Arbeitsbelastung. Die überwiegende Mehrheit der Hausangestellten leidet unter Ausbeutung auf allen drei Ebenen.
Das Problem des sklavenähnlichen Kafala-Systems und der exzessiven Ausbeutung von migrantischen Arbeitskräften, insbesondere von Syrer*innen im Bau- und Landwirtschaftssektor sowie von Asiat*innen und Afrikaner*innen im Hotel- und Gastronomiegewerbe, muss gelöst werden. Diese Bedingungen sind nicht nur aus einem rechtebasierten Blickwinkel zu betrachten, sondern auch unter sozialen und politischen Gesichtspunkten. Die Profite, die durch die Ausbeutung migrantischer Arbeiter*innen generiert werden, müssen gemeinsam mit der libanesischen politischen Ökonomie analysiert werden, wobei zu hinterfragen ist, wie die wesentlichen Akteur*innen miteinander interagieren. Zu diesen Akteur*innen gehören der libanesische Staat, private Institutionen, Einzelpersonen, die von der Anwerbung oder Einstellung ausländischer Arbeitskräfte profitieren, Banden, die vom Menschenhandel profitieren, und Einzelpersonen, die sich die Notlage derjenigen zunutze machen, die ihren Sponsoren entkommen sind.
Mehr Aufmerksamkeit sollte auch der Frage der palästinensischen Arbeitskräfte gewidmet werden, die abscheulichen Formen der Ausbeutung im informellen Sektor ausgesetzt sind. Den Palästinenser*innen wird das Recht auf Arbeit vorenthalten, obwohl sie in der Lage sind, eine höhere Bildung zu erlangen, und ihr Beitrag zur Stimulierung des Wirtschaftskreislaufs wird vernachlässigt. Dies ist nicht zu trennen von der Sozialstruktur und dem politischen System, welches den Interessen der Investor*inneen Vorrang einräumt und sie dazu ermutigt, diese Ressourcen und spezialisierten Fähigkeiten auszunutzen, um die Produktivität ihrer Projekte zu möglichst niedrigen Kosten zu steigern.
Menschenrechte sind Mobilisierungsarbeit
Innerhalb der großen Schicht von Arbeiter*innen haben sich bedeutende Initiativen der politischen Mobilisierung herausgebildet. Im vergangenen April traten die RAMCO-Mitarbeiter*innen (Müll- und Gebäudemanagement) in einen groß angelegten Streik, den ersten seiner Art: nie zuvor hatte es diese Arbeitergruppe gewagt, zu streiken, um ihre wirtschaftlichen und sozialen sowie ihre Menschenrechte einzufordern. Ein einseitiger, abstrakter Fokus auf Rechte kann nämlich keinen wirklichen Wandel in der Politik, im Arbeitssystem und in den lokalen sozialen und kulturellen Werten des libanesischen Staates bewirken: Es ist Mobilisierungsarbeit notwendig. Dies kann durch organisatorische Strukturen und Kampagnen gegen rassistische Diskriminierung geschehen, die Arbeiter*innen vor direkter Unterdrückung und Ausbeutung durch die Staatsapparate und Arbeitgeber*innen schützen. Diese Strukturen könnten aber auch die aktive Teilnahme von migrantischen Arbeiter*innen am gesellschaftlichen und politischen Leben unterstützen. Sie machen schließlich die Hälfte der libanesischen Arbeiterklasse aus und es ist inakzeptabel, dass sich die Hälfte der Arbeiter*innen in einem Zustand völliger sozialer und politischer Entfremdung befindet. Es handelt sich dabei schlichtweg um eine Manifestation moderner Sklaverei.
Es gibt keine Teillösungen, wenn es um das Arbeitssystem und die libanesische Wirtschaft geht. Die Lösung muss umfassend und radikal sein. Sie muss dem neoliberalen Modell und all seinen Anhänger*innen entschieden entgegenstehen und den Wert der Arbeit und die Rechte der migrantischen Arbeiter*innen anerkennen.
Hani Adada ist Aktivist der Li Haqqi, einer Gruppe, die seit Beginn am libanesischen Aufstand beteiligt ist. Der Text ist eine gekürze Fassung eines Beitrags, der zuerst auf der Website des neuen medico-Partners "The Public Source" erschienen ist. Das Medien-Projekt organisiert eine strategische Debatte innerhalb der jüngeren sozialen Bewegungen in arabischer und englischer Sprache.
Übersetzung: Maja Klostermann und Mario Neumann
„Wir sind kein Müll, den man einfach wegwirft, wenn man ihn nicht mehr braucht“, sagt eine der Protestierenden. Seit Wochen demonstrieren migrantische Arbeiterinnen vor der äthiopischen Botschaft in Beirut. Sie fordern Unterstützung, auch dabei, in ihr Heimatland zurückkehren zu können. Wie geschätzt 300.000 Frauen aus Asien und Afrika im Libanon haben sie als „Migrant Domestic Workers“ gearbeitet, als systematisch entrechtete und vielfältiger Willkür ausgelieferte Hausangestellte. Da dem Mittelstand in der Wirtschaftskrise, die sich durch die Corona-Epidemie noch verschärft hat, das Geld ausgeht, wurden sie massenhaft vor die Tür gesetzt. Viele sind damit augenblickblick sowohl obdach- und mittellos, als auch ohne Aufenthaltserlaubnis im Land. Die feministische medico-Partnerorganisation Anti-Racism Movement (ARM) steht den Arbeiterinnen zur Seite: mit Überlebenshilfen, in von ihr betriebenen Gemeindezentren, mit Rechtsberatung und anwaltlichem Beistand – auch und gerade in der aktuellen Krise.