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Chile kann sich ändern

08.07.2021   Lesezeit: 6 min

Der erste Tag des Verfassungskonvents setzte historische Zeichen.

Von Pierina Ferretti

Am vergangenen Sonntag, dem 4. Juli 2021, war Santiago de Chile Schauplatz eines demokratischen, transzendentalen Aktes, der in zwei Jahrhunderten Geschichte der chilenischen Republik einmalig ist. An diesem Sonntag erfolgte die Einsetzung des ersten vom Volk gewählten Verfassungskonvents, der beauftragt ist, eine neue Verfassung auszuarbeiten. Dieses historische Ereignis ist das Ergebnis der sozialen Revolte vom Oktober 2019. Ihrer ungeheuren Reichweite gelang es,  die noch von der Pinochet-Diktatur hinterlassenen antidemokratischen Barrieren zu durchbrechen, die jahrzehntelang die Vertretung der Interessen des Allgemeinwohls in der Politik verhinderten. Der erste Tag des Verfassungskonvents begann deshalb am Ort seines Ursprungs: Auf den Straßen. Ausgehend von verschiedene Kundgebungen führten Demonstrationen zum Tagungsort. Die Bilder des Tages waren deshalb symbolgeladen: Die Straßen, in denen der Volksaufstand stattgefunden hatte, waren wieder von Tausenden Menschen besetzt. Die sozialen Bewegungen aus Feministinnen, Umweltschützer:innen, Repräsentant:innen aus den Regionen, Vertreter:innen indigener Völker und linken Militanten zeigten sich und machten sich auf den Weg, um einen von ihnen eroberten politischen Raum einzuweihen, um Pinochets Verfassung zu beenden und in der Rechtsordnung die sozial-ökologischen Fragen, manche nennen es hier auch Klassenfragen, neu zu ordnen.

Wirklich historisch war der Tag auch deshalb, weil sich in einer Reihe symbolischer Momente der populare und demokratische Charakter des in Chile begonnen Prozesses offenbarte. Es kündigte sich ein neues Verständnis von Politik, Demokratie und Souveränität der Völker an.

"Mari mari pu lamgen. Mari mari kom pu che. Mari mari Chile Mapu"

Ein Bild ging um die Welt: Elisa Loncón, eine Mapuche-Frau, die ihr Amt als Präsidentin des Verfassungskonvents antrat. An ihrer Seite Francisca Linconao, eine ehemalige politische Gefangene und respektierte spirituelle Autorität der Mapuche. Beide stehen an der Spitze der Versammlung aller Völker Chiles, die Mapuche-Flagge hoch erhoben. Dieses Bild verdichtet wie kein anderes den Prozess, den wir gerade erleben. Noch vor wenigen Jahren war es undenkbar, dass eine Frau aus dem Volk der Mapuche, das vom chilenischen Staat verfolgt und von der Oligarchie, aber auch von weiten Teilen der Bevölkerung verachtet wurde, an der Spitze des wichtigsten repräsentativen Organs des Landes stehen würde. Ihre Wahl und die große Zustimmung in der chilenischen Gesellschaft dafür ist ein Zeichen, dass es möglich ist, eine neue Geschichte zu schreiben, in der die historisch vernachlässigten Sektoren, die durch das Volk der Mapuche gut vertreten sind, eine führende Rolle spielen.

Tiefgreifender Wandel der chilenischen Gesellschaft

Die Wahl von Elisa Loncón ist daher Ausdruck eines tiefgreifenden Wandels in der chilenischen Gesellschaft gegenüber dem Volk der Mapuche. Das hat auch damit zu tun, dass Geheimdienstoperationen der Polizei bekannt wurden, die den Kampf der Mapuche systematisch zu kriminalisieren versuchten. Hinzu kamen Fälle wie die Ermordung des jungen Gemeindemitglieds Camilo Catrillanca, die das Land erschütterten und eine Welle der Solidarität auslösten. Gegenwärtig ist das Volk der Mapuche weithin als eine Ikone des Widerstands und der Würde anerkannt und gilt als Referenz für die anderen Völker, die Chile bewohnen. Gerade für  die Jugend, die in der Revolte vom Oktober 2019 auf die Straßen des Landes ging, waren sie Symbol ihres Aufbruchs. Sie schwenkten stolz in jeder Ecke Chiles die Mapuche-Flagge.

Die Kandidatur von Elisa Loncón wurde  am 21. Juni dieses Jahres auf dem Festival Wüñoy Tripantu als politische Geste des Mapuche-Volkes angekündigt. Während die Frente Amplio schon in den letzten Wochen ihre Kandidatur unterstützte und im ersten Wahlgang für sie stimmte, erhielt Loncón die Unterstützung der Lista del Pueblo, der Kommunistischen Partei, der Fraktion des Sozialistischen Parteitags und der meisten unabhängigen Abgeordneten im darauffolgenden Wahlgang. Die Wahl der 58-jährigen – einer Aktivistin für die Rechte der indigenen Völker und Akademikerin an der Universität von Santiago – war ein guter Anfang für die First Nations. Es zeigte sich mit ihrer Wahl, dass sich eine Mehrheit des Konvents klar für die Ausrufung von Chile als plurinationalem Staat aussprechen wird. Das ist eine der Hauptforderungen der indigenen Völker. Sie bedarf eine Zweidrittelmehrheit im Konvent.

Störungspotentiale wider die alte Ordnung

Wenn die Wahl von Elisa Loncón alte Spaltungen überwand, zeigten sich gleich zu Beginn der Inaugurationszeremonie weitere Konfliktlinien. Es begann gleich um 10 Uhr mit dem Abspielen der Nationalhymne. Nicht nur die indigenen Vertreter:innen weigerten sich, daran teilzunehmen, weil sie eine Beleidigung der First Nations darstelle. Kaum ging die Zeremonie weiter, drangen von außen Pfiffe und Parolen in den Raum. Sie richteten sich gegen die Polizeipräsenz vor der Tür. Die Zeremonie musste erneut unterbrochen werden. Abgeordnete verließen den Raum und schlossen sich den Protesten an: „Schluss mit der Unterdrückung! Schluss mit der Repression!“ erscholl es von draußen. Die Versammlungsleiterin wurde aufgefordert, den Konvent solange zu unterbrechen, bis die polizeiliche Präsenz beendet sei. Binnen Minuten verwandelte sich der feierliche Inaugurationsakt in eine Protestversammlung. Das stieß natürlich auf die Empörung der Rechten und auf die Verblüffung der fortschrittlichen, aber den guten Sitten verpflichteten Gruppen. Erst nach dem Mittag gelang es, den Rückzug der Polizei durchzusetzen und die Zeremonie fortzusetzen.

Dies war die erste Machtdemonstration eines großen Teils der Versammelten, die aus den Bewegungen kommen. Sie verweigerten die Normen der „guten Erziehung“, zu der auch die Komplizenschaft der Eliten mit der polizeilichen Repression gehört. Das war deshalb politisch so bedeutend, weil sie ihre Bereitschaft zu stören an den Tag legten, statt sich einer delegitimierten politischen Kultur zu unterwerfen.

Erinnerung, Gerechtigkeit und Feminismus

Der Tag, der bereits lang und intensiv war, gipfelte trotzdem in drei weiteren wichtigen Gesten. Elisa Loncón, die Präsidentin des Verfassungskonvents, wandte sich an die gesamte Versammlung und rief zu einer Schweigeminute für die Toten in den Kämpfen um Gerechtigkeit auf. In ihrer Rede erinnerte sie an die Toten des Völkermordes, der bei der Errichtung des Nationalstaates an den indigenen Völkern verübt wurde, an die Ermordeten und Verschwundenen der Militärdiktatur und die Toten des Volksaufstandes von 2019. Was erzählte sie damit? Wenn die Gründung des chilenischen Staates Ende des 19. Jahrhunderts auf der Unterdrückung des Mapuche-Volkes beruhte und wenn das neoliberale Chile auf der Zerschlagung der Unidad Popular aufruhte, so wird das neue Chile, das dem sozialen Aufstand entsprungen ist, der wiederum viele Tote, Verletzte und Gefangene kostete, die Erinnerung an diese Kämpfe bewahren und auf Gerechtigkeit und Wiedergutmachung basieren.

Nach der feierlich eingehaltenen Schweigeminute kündigten Elisa Loncón und der Jurist Jaime Bassa, ihr Stellvertreter, als ersten Punkt der Tagesordnung des nächsten Tages die Ausarbeitung einer Erklärung an, in der die Freiheit der noch inhaftierten politischen Gefangenen des Volksaufstandes gefordert wird. Der Tag endete mit einem Vorschlag zu feministischen Regeln, die von Aktivistinnen verschiedener Gruppierungen ausgearbeitet wurden. Ein Chor von Abgeordneten sang zwischen Tänzen und Applaus: „Nieder mit dem Patriarchat, das fallen wird. Hoch mit dem Feminismus, der gewinnen wird!“ – eine abgewandelte Losung aus Diktaturtagen.

Wir wissen, dass wir noch ganz am Anfang stehen und ein langer Weg vor uns liegt. Aber die Bilder, die der erste Tag des Verfassungskonvents hinterlassen hat, nähren unsere Zuversicht. Wie Elisa Locón in ihrer Rede sagte, die Zuversicht, dass es möglich ist, Chile zu verändern: „Dieser Traum ist ein Traum unserer Vorfahren. Dieser Traum wird jetzt wahr. Es ist möglich, Schwestern und Brüder, Compañeras und Compañeros, dieses Chile neu zu gründen.“

Pierina Ferretti

Pierina Ferretti ist eine chilenische Soziologin. Sie veröffentlicht regelmäßig Essays und Analysen zu aktuellen politischen Themen und ist Mitglied der Stiftung «Nodo XXI», ein Forum für eine antineoliberale, feministische und demokratische Linke. Sie war Referentin auf der medico-Konferenz „Die (Re-)Konstruktion der Welt“ im Februar 2021.


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