Bis Oktober 2019 galt Chile als beispielhafter Nachweis für den Erfolg des Neoliberalismus. Stolz verwiesen die einheimischen Eliten auf eine scheinbar unumstößliche Ordnung, die auf einer effektiven Disziplinierung der Bevölkerung beruhte. Doch eine simple Erhöhung des U-Bahn-Tarifs in der Hauptstadt Santiago um 3 Cent oder 30 Pesos im Herbst 2019 löste einen schwindelerregenden Aufstandsprozess von ungeahnter Breite aus. Das Image des „ordentlichen Chiles“ platzte wie ein Luftballon.
Der Aufstand dauert trotz Covid-Ausgangssperren noch immer an, wenn auch auf andere Weise. Seine letzte Etappe: Die Wahlen vom 15. und 16. Mai diesen Jahres. Bei diesen wurden nicht nur Stadträt:innen, Bürgermeister:innen und zum ersten Mal auch Regionalgouverneure gewählt, sondern auch die 155 Abgeordneten der verfassungsgebenden Versammlung. Diese soll ein Grundgesetz ausarbeiten, das die seit der Diktatur von Augusto Pinochet geltende Verfassung ablöst. Die Ergebnisse der Wahlen haben die politischen Kräfteverhältnisse im Land dramatisch verschoben. Eine breite Bewegung aus der Bevölkerung hat der politischen Elite per Stimmabgabe eine schmähliche Niederlage bereitet. Dabei hatte diese bislang systematisch die demokratische Verfasstheit durch ihre neoliberale Vereinnahmung zersetzt und so eigentlich an der Verewigung des Neoliberalismus gearbeitet.
In Chile funktionierte der Neoliberalismus bis dato als ein System der Akkumulation, das ganze Landstriche enteignete und die soziale Reproduktion, Schulen, Krankenhäuser, die gesamte öffentliche Infrastruktur privatisierte. Vor allen Dingen aber verweigerte es der Bevölkerung die Möglichkeit, das kollektive Schicksal demokratisch zu bestimmen. Subalternen Gruppen blieben mit ihren Interessen von den Entscheidungsprozessen konsequent ausgeschlossen. (Lange Jahre besaßen die Militärs zum Beispiel eine Sperrminorität im Senat und konnten so viele Gesetzesänderungen verhindern / Die Red.)
Die Auswirkungen sind offensichtlich: Chile ist das einzige Land der Welt, in dem Wasser vollständig privatisiert ist und wie jede andere Ware gehandelt wird. Das reichste Prozent der Bevölkerung verfügt über 26 Prozent des Bruttoinlandprodukts, während die untersten 50 Prozent der Haushalte nur über 2,1 Prozent des Reichtums verfügen. Private Unternehmen erhalten staatliche Subventionen für die Bereitstellung von Gesundheitsdiensten, Bildung und Renten und machen so Millionengewinne mit staatlichen Transferleistungen.
Unter diesen, noch von der Diktatur etablierten und von den nachfolgenden zivilen, mehrheitlich Mitte-Links-Regierungen noch vertieften undemokratischen Verhältnissen hatte Politik für die große Mehrheit der chilenischen Bevölkerung jeglichen Sinn verloren – sofern man darunter die Möglichkeit versteht, Rechte auszuweiten, Interessen zu vertreten und Lebensbedingungen zu verbessern. Die Abschaffung des Politischen lässt sich in Zahlen ablesen: Bei den Präsidentschaftswahlen von 1989, die die Rückkehr zur Demokratie einleiteten, lag die Wahlbeteiligung bei 87 Prozent. Bei den Wahlen vom 15. und 16. Mai gingen nur 43 Prozent der Wahlberechtigten zu den Urnen. Vierzig Jahre neoliberale Vereinnahmung der Politik haben hier ihren Preis.
Ein Aufstand eröffnet einen neuen Horizont
Im Gegensatz zur Propaganda der Elite herrscht in Chile kein Frieden. Dem in seiner Massivität und Explosivität überraschenden Oktoberaufstand von 2019 gingen eine Reihe sozialer Mobilisierungen voraus. Ihre Anzahl und Intensität hat in den letzten Jahren stetig zugenommen. Der anhaltende Widerstand der Mapuche gegen die Usurpation ihrer Territorien durch eine Allianz aus Staat und Privatindustrie, die Schüler_innen- und Studierendenproteste von 2001, 2006 und 2011 mit der Forderung nach kostenloser öffentlicher Bildung, die Bewegung für ein solidarisches Rentensystem, die Kämpfe gegen den Extraktivismus und für die Wiedergewinnung des Wassers als öffentliches Gut, die Streiks der prekär Beschäftigten im Staat und in der Privatwirtschaft und die Entwicklung einer feministischen Bewegung von noch nie dagewesenem Ausmaß – all das brachte eine gärende soziale Unruhe zum Ausdruck. Es kündete von der wachsenden Bereitschaft zu einer kollektiven Rebellion.
Was im Oktober 2019 geschah, ist Teil dieser Protestzyklen, stellt aber gleichzeitig einen Wendepunkt dar. Diesmal mobilisierte nicht eine bestimmte soziale Gruppe, diesmal ging die große Mehrheit spontan auf die Straße. Während frühere Bewegungen, selbst die stärksten, nie einen allgemeinen Charakter hatten, ist der Oktober 2019 genau das: ein allgemeiner Aufstand. Außerdem fanden die Proteste ohne die Vermittlung der sozialen und politischen Organisationen statt, die traditionell die Interessen der subalternen Klassen vertreten hatten.
In den Straßen wehten weder die Fahnen der Gewerkschaften und der Kommunistischen Partei noch die der Frente Amplio. Stattdessen wehten die Fahnen des Mapuche-Volkes und die der wichtigsten Fußballmannschaften. Bei den Massenkundgebungen gab es keine kompakten Blöcke, die geordnet zu einem bestimmten Punkt marschierten, es gab keine Bühnen, keine Redner, keine Anführer. Vierzig Jahre Neoliberalismus haben eben auch zur Schwächung historischer Arbeiterorganisationen geführt. Sie haben die soziale Zusammensetzung des Landes so tiefgreifend verändert, dass die Konflikte und Widersprüche des heutigen Chiles eher durch den Feminismus und die sozial-ökologische Bewegung repräsentiert werden als durch die Gewerkschaften und die linken Parteien.
Eine neue politische Etappe
Mit dem Aufstand von 2019 hat die chilenische Bevölkerung die politische Bühne betreten. Schon in den vergangenen Jahren war zu beobachten, wie sich klassische politische Bezugspunkte verschieben. So hat sich die Links-Rechts-Polarität zunehmend in eine Konfrontation zwischen Bevölkerung versus Elite verwandelt. Für die Revolte und die beiden jüngsten Wahlen war das entscheidend: Im Referendum vom Oktober 2020 stimmten 80 Prozent sowohl für eine Änderung der Pinochet-Verfassung als auch dafür, dass das Gremium, das mit der Ausarbeitung des neuen Grundgesetzes betraut werden sollte, ausschließlich aus eigens dafür gewählten Vertreter:innen bestehen sollte.
Die reformfeindlichsten Kräfte wollten nur die Hälfte neu wählen lassen und die andere mit Parlamentarier:innen besetzen. Schon dieses Ergebnis machte deutlich, dass eine große Mehrheit einen tiefgreifenden Wandel will und den politischen Eliten zutiefst misstraut. Die Wahlen im Mai 2021 verstärkten diese Tendenzen mit Ergebnissen, die vor ein paar Jahren noch undenkbar gewesen wären: Umweltschützer:innen, feministische Aktivist:innen und unabhängige Kandidat:innen sowie das Bündnis aus der Kommunistischen Partei und der Frente Amplio verdrängten die Parteien, die die Politik in den letzten drei Jahrzehnten beherrscht hatten.
Der rechte Flügel, der unbedingt ein Drittel der Sitze erlangen wollte, um eine Veto-Macht ausüben zu können, kam nur auf 20 Prozent der Stimmen. Damit kann er allein keine Gesetzesänderungen verhindern. Die Mitte-Links-Parteien der ehemaligen Concertación, die seit 1990 fünfmal regiert hatten, schnitten mit 25 Abgeordneten noch schlechter ab als die Rechten, die Linken und die unabhängigen Gruppen. Besonders anschaulich ist der Niedergang der Christdemokratie als wichtigste Partei im Übergang zur Demokratie: Sie darf gerade einmal einen Abgeordneten in der verfassungsgebenden Versammlung entsenden. Für die meisten traditionellen Parteien brachte die Wahl verheerende Niederlagen.
Das Bündnis der Kommunistischen Partei (PC) und der Frente Amplio (Breite Front), das eine beträchtliche Anzahl von Kandidat:innen aus sozialen Bewegungen umfasste, war erfolgreicher. Mit 28 Sitzen im Verfassungskonvent und bemerkenswerten Erfolgen auf lokaler und regionaler Ebene sind sie zu einer noch wichtigeren Kraft geworden. Rodrigo Mundaca, ein Aktivist gegen die Wasserprivatisierung, wurde Gouverneur der Region Valparaíso, unterstützt von der Frente Amplio. Irací Hassler, ein Mitglied der Kommunistischen Partei, besiegte den rechten Flügel und gewann das Bürgermeisteramt von Santiago. Mit diesen Wahlerfolgen kann sich das Bündnis aus PC und Frente Amplio gute Chancen bei den anstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im November ausrechnen.
Die verfassungsgebende Versammlung hatte einen vorgeschriebenen Anteil von 50 Prozent für Frauen. Nun wurden so viele Frauen gewählt, dass sie Plätze für männliche Abgeordnete freimachen mussten. Ebenso bedeutend ist die Tatsache, dass es garantierte Sitze für die indigenen Völker Chiles gab. Das ist in der Geschichte des Landes beispiellos und konnte erst nach hartnäckigen Auseinandersetzungen durchgesetzt werden. Die Mehrheit der 17 durch dieses System gewählten Konventsmitglieder sind anerkannte Führungspersönlichkeiten ihrer Gemeinden. Zu ihnen gehört die junge Anwältin Natividad Llanquileo – sie ist Sprecherin der politischen Gefangenen der Mapuche – und die Machi Francisca Linconao, eine geistige Autorität, die vor Jahren aufgrund eines Polizeikomplotts inhaftiert wurde. Die Beteiligung der Ureinwohner:innen an der Ausarbeitung einer Verfassung in einem Land, das strukturell rassistisch und kolonial geprägt ist, könnte zu einer Verfassung für einen plurinationalen Staat beitragen, der ihre Autonomie und ihr Recht auf Selbstbestimmung anzuerkennen hat.
Doch damit ist noch nicht alles über diese Wahl erzählt. Denn die größte Überraschung waren die Erfolge der Unabhängigen. Kandidat:innen, die keiner politischen Partei angehören, schloßen sich in Listen zusammen und hatten tatsächlich eine Chance gewählt zu werden. So kam es zu einer Lawine von Kandidaturen und einem enorm diversifizierten Wahlangebot. Von den 79 vorgelegten Listen waren 74 unabhängig, von den 155 gewählten Abgeordneten sind 88, also mehr als die Hälfte, unabhängige Kandidat:innen. Innerhalb dieses sehr heterogenen Universums sticht die „La Lista del Pueblo“ („Volksliste“) hervor. Sie gewann 26 Sitze und überholte damit die ehemalige Concertación. Zu dieser Liste gehören Basisführer:innen aus dem ländlichen Raum, Umweltschützer:innen und Persönlichkeiten, die in der Revolte bekannt wurden. Mit einem Diskurs, der sich auf die Ablehnung der wirtschaftlichen und politischen Eliten konzentrierte, konnte die Liste vor allem jene Bevölkerungsteile gewinnen, die sich nach Transformation sehnen, aber die Parteien ablehnen.
Eines aber darf man nicht außer Acht lassen: das Ausmaß der Stimmenthaltung. 60 Prozent der Wähler:innen gingen nicht zur Wahl. Das deutet darauf hin, dass eine Mehrheit im Wählen weiterhin keinen Sinn sieht. Ob sich dies ändern wird, hängt vor allem vom Verlauf des verfassungsgebenden Prozesses und von den nächsten Wahlen ab. Niemand kann die Zukunft vorher sagen. Aber es gibt eine Hoffnung, dass sich die Demokratie dank der starken Bewegungen erholt und 40 Jahren neoliberaler Enteignung ein Ende gesetzt wird.