Psychosoziale Perspektiven

Corona, Rassismus und deutsche Debatten

10.06.2020   Lesezeit: 4 min

Ein Blick auf den Rassismus der weißen Gesellschaft. Was sind die Voraussetzungen dafür, dass damit endlich Schluss ist?

Von Usche Merk

Demonstrieren im Juni 2020 – überall junge Leute, die Masken tragen und den Weg frei machen, wenn alte Menschen vorbeikommen. Ich stehe in Frankfurt hinter dem Rathaus. „No Justice No Peace“, „I can’t breathe“, „Black lives matter“ rufen sie mit einer Entschlossenheit, die berührt und befreit. Der Hauch einer anderen Zukunft liegt in der Luft, ein anderes Land, das alle mitgestalten, die hier leben. In dem man sich zuhause fühlen könnte.

Doch im Vordergrund steht die brutale Gegenwart. Hinter der Entschlossenheit ist Wut und Schmerz zu spüren, eine Verzweiflung, die Beklemmungen auslöst. Der Schleier der Heuchelei ist vom Anblick der Welt weggerissen – wir sehen in aller Deutlichkeit die grausamen Verhältnisse, in denen die Mehrzahl der Menschen leben muss. Die Coronakrise hat die extreme Ungleichheit überall sichtbar gemacht: Das Virus trifft zwar alle, aber nicht alle gleich. Warum sind das in den USA die Schwarzen, in Großbritannien die ethnischen Minderheiten, in Brasilien die Favelas und Indigenen, in Südafrika die Wellblechsiedlungen in den Townships von Kapstadt? Warum deuten sich fast überall im globalen Süden apokalyptische Verhältnisse an, wenn die Coronakrise und die Art der Krisenbewältigung im globalen Norden so weiter gehen? Wenn der Weltmarkt von medizinischen Produkten leergekauft ist, sich Patente für mögliche Behandlungen unter den Nagel gerissen werden, Konjunkturprogramme nur an die eigene Wirtschaft denken? Migrant*nnen überall als Erste arbeitslos werden und ihren Familien zuhause nichts mehr überweisen können?

Rassismus – das ist mehr als Polizeigewalt gegen schwarze Menschen in den USA. Das ist ein gesellschaftliches Strukturprinzip seit hunderten Jahren, das Menschen ausgrenzt, ausbeutet, verachtet und tötet - im Interesse der Schaffung von Privilegien für die sich „weiß“ verstehende Minderheit. „White supremacy“ – weiße Vorherrschaft, das ist es, was Trump, was die AFD, was alle rechten Bewegungen für sich beanspruchen und „verteidigen“.

Das muss endlich aufhören. Rassismus ist ein Problem der Weißen, das von ihnen nicht nur intellektuell verstanden, sondern empfunden und gespürt werden muss – nicht als Betroffene, sondern als Involvierte. Es geht darum, genau hinzuschauen, was der deutsche Kolonialismus in Namibia angerichtet hat. Was dreißig Jahre Wiedervereinigung für People of Color in Deutschland bedeuten, für Einwanderer und andere als Minderheiten markierte Menschen. Was sieben Jahre AfD bei vielen Menschen zerstört hat.

Als ich Mitte der 1980er Jahre zum ersten Mal in Südafrika war, damals noch unter Apartheidbedingungen, war es für mich zutiefst beschämend zu erfahren, wie alles um das Interesse weißer Privilegien herum konstruiert war und ich automatisch dazugehörte, dass also auch für mich Menschen gequält, ausgegrenzt und umgebracht wurden. Noch unerträglicher war es in Namibia Anfang der 1990er Jahre auf der gerade erst umbenannten Kaiserstraße in einem Fachwerkhaus Schwarzwälder Kirschtorte zu essen und in einer deutschsprechenden Pension mit preußischer Ordnung von den schwarzen Angestellten Ulrich und Gisela bedient zu werden. Wirklich schmerzhaft ist es, 2020 jungen schwarzen Menschen zuzuhören, was sie im heutigen Deutschland erleben.

Es hat viele Jahre gebraucht, bis die deutsche Erinnerungskultur über den Holocaust akzeptiert und verstanden hat, dass Erinnerung nicht ohne Berührung, Beschämung und Trauer geht, nicht ohne tiefe emotionale Prozesse der Annäherung und Auseinandersetzung. Emotionale Abwehr und ritualisierte Gesten verdrängen den aktiven Umgang mit Scham- und Schuldgefühlen, den es braucht, um Mitgefühl zu entwickeln und die Kraft, sich der Verantwortung zu stellen und nicht in Selbstmitleid und rechte Opferidentitäten zu fliehen.

Die jüngste Debatte um den kamerunischen Philosophen Achille Mbembe zeigt die Leerstellen Kolonialismus und Rassismus in der deutschen Erinnerungspolitik. Es fehlt die Beschämung, die diese Geschichte auslösen müsste, das Zuhören und Einfühlen in die Dimensionen und Abgründe traumatischer Erfahrungen der betroffenen Menschen und Gesellschaften. Es fehlt ein Bewusstsein der Folgen und Spuren in der Gegenwart, der eigenen Verstrickung und Komplizenschaft, das passive Dulden und Verschweigen, das aktive Unterstützen oder Dagegenhalten.

Wenn wir nicht möchten, dass im Interesse von „white supremacy“ Menschen ermordet und ihnen Ressourcen entzogen und vorenthalten werden, dann muss Schluss sein mit weißen Privilegien. Schluss mit Verständnis und Toleranz gegenüber rassistischen Äußerungen, Verhaltensweisen und Strukturen. Schluss mit einer ökonomischen Weltordnung, die die einen erstickt und die anderen im Konsum ertrinken lässt. Privilegien aufgeben und abgeben kann uns alle befreien.

gegenuns.de

Die Lebensgeschichten von Menschen, die aus rassistischen, antisemitischen und anderen rechten Motiven angegriffen wurden, stehen im Mittelpunkt von „Gegen uns“. Ihre Perspektiven und Erinnerungen und die der ihnen nahestehenden Menschen sind dabei zentral. Sie machen sowohl die Auswirkungen deutlich, die die Gewalt auf ihr Leben hat, als auch die gesellschaftlichen Folgen von Rassismus, Antisemitismus und rechter Gewalt. Beim Zuhören wird deutlich: Rechte Gewalt richtet sich gegen die Betroffenen, und auch gegen uns alle.

gegenuns.de ist ein Gemeinschaftsprojekt des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e. V. und der Opferberatung „Support“ des RAA Sachsen e. V. und wird von medico international mit unterstützt.

Usche Merk

Usche Merk ist in der Abteilung für transnationale Kooperation seit 1995 zuständig für das Thema Psychosoziale Arbeit, außerdem ist sie verantwortlich für Projekte in Südafrika und Sierra Leone. Die Pädagogin und systemische Beraterin hat drei Jahre lang beim medico-Partner Sinani in Südafrika in der Friedensarbeit mit gewaltgeprägten Gemeinden gearbeitet. Daneben unterstützt sie als Supervisorin und Trainerin Menschen, die in Krisenregionen oder mit Flüchtlingen arbeiten.


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