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Das Dilemma der Linken

28.10.2021   Lesezeit: 8 min

Von der Schwierigkeit, einen Aufstand in Politik zu übersetzen.

Von Pierina Ferretti

Die letzten Tage und Wochen in Chile waren gekennzeichnet von der Erinnerung an den Aufstand der chilenischen Bevölkerung, der am 18. Oktober 2019 begann und erst mit dem Ausbruch der Covid-Krise zu Ende ging. Ein Aufstand, der über Monate in einer Breite und Ausdauer stattfand, dass er die Bevölkerung in ihrer Heterogenität zum Souverän machte und die Staatsgewalt wie die etablierten Parteien isolierte. Am 18. Oktober diesen Jahres kamen Tausende von Menschen auf vielen Straßen und Plätzen des Landes zusammen, um an diese intensiven Wochen der Rebellion zu erinnern, die sich derzeit in einem anhaltenden verfassungsgebenden Prozess fortsetzt.

So eröffnete Elisa Loncón, Mapuche-Führerin und Vorsitzende des Verfassungskonvents, die Sitzung am 18. Oktober nur wenige Blocks entfernt von der Plaza Dignidad, dem Epizentrum des Aufstands, mit folgenden Worten: „Heute beginnt dieser Konvent, der die Tochter der Sehnsüchte und der Mobilisierung der Völker darstellt, einen Dialog, der seit Jahrzehnten, vielleicht seit Jahrhunderten erwartet wird. An diesem 18. Oktober, zwei Jahre nach dem Erwachen des neuen Chile, lassen wir unserer Fantasie freien Lauf. In diesem besonderen Moment haben wir die Aufgabe, uns das Gemeinsame unserer Leben und künftiger Leben vorzustellen.“

Tausende auf den Straßen und eine Mapuche-Frau an der Spitze des Verfassungskonvents stehen symbolisch für das, worum es seit zwei Jahren geht. Es zeigt sich, dass trotz der Unterbrechung der Rebellion und des Abflauens der Straßenproteste der Aufstand immer noch lebendig ist und die Menschen in Chile nicht aufhören zu kämpfen. Im Rückblick auf die vergangenen zwei Jahre stellen sich brennenden Fragen. Wie kann die Menschenrechtskrise überwunden werden, die die staatliche Repression ausgelöst hat? Und wie kann sich ein anti-neoliberaler Block konstituieren und artikulieren, der in der Lage ist, die von den Völkern Chiles geforderten tiefgreifenden Veränderungen zu unterstützen und durchzusetzen?

Die Straflosigkeit bedroht das neue Chile

Zwei Jahre nach Beginn des Aufstandes ist die Menschenrechtsbilanz zweifelsohne düster. Die von der Regierung Piñera ausgelöste Repression hat zur größten Menschenrechtskrise seit der Pinochet-Diktatur geführt. Die Berichte von Amnesty International, Human Rights Watch, der Interamerikanischen Menschenrechtskommission und dem Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte hatten in den ersten Monaten des Aufstands alle einen ähnlichen Tenor: In Chile sei es zu schweren und wiederholten Menschenrechtsverletzungen gekommen. Übermäßige oder unnötige Gewaltanwendung, außergerichtliche Hinrichtungen, Folter, Schüsse auf Demonstrant:innen, willkürliche Verhaftungen, Scheinhinrichtungen, Schläge, Erniedrigung von Kindern und Jugendlichen, Vergewaltigung und sexueller Missbrauch, erzwungene Entkleidung, Androhung von Vergewaltigung und andere Formen des sexuellen Missbrauchs waren systematische Praktiken der Ordnungskräfte. Das Ergebnis dieser repressiven Politik sind mehr als dreißig Tote, fast fünfhundert Menschen mit Augenverletzungen und mehr als 8000 Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen.

Der kürzlich erschienene Bericht des Nationalen Instituts für Menschenrechte kritisiert, dass es allerdings keine nennenswerten Fortschritte in Bezug auf die rechtliche Verfolgung der Polizeigewalt, Wiedergutmachung und institutionelle Reformen gegeben habe, um künftig derartige Repression zu verhindern. Von den 3.072 Beschwerden, die von der Institution eingereicht wurden, führten nur 70 zu einer formellen Anklage, ganze vier Beschuldigte wurden verurteilt. Besonders ernst ist die Situation für Kinder und Jugendliche. Laut dem Bericht „Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung“, herausgegeben vom chilenischen Kinderschutzbund „Defensoría de Niñez“, der ebenfalls in diesen Tagen vorgestellt wurde, waren in den Aufstandstagen insgesamt 1.314 Kinder und Jugendliche Opfer von Übergriffen, bei denen ihre Menschenrechte verletzt wurden, aber nur ein Fall endete mit einer Verurteilung. Darüber hinaus erhielten die Opfer von Augenverletzungen und anderen schweren Verletzungen oder Schäden keine entsprechende und ausreichende Entschädigung. Es gibt Fälle, in denen die Betroffenen ihre Augenprothesen zurückgeben mussten, weil sich das Gesundheitsministerium weigerte, die Kosten zu übernehmen. Besonders dramatisch ist, dass es immer noch Gefangene der Proteste gibt, die seit fast zwei Jahren in Untersuchungshaft sitzen, ohne dass sie bislang Aussicht auf ein rechtsstaatliches Verfahren haben. Das Parlament diskutiert zwar gerade einen Gesetzentwurf der Oppositionsparteien, der für diese Verhafteten eine allgemeine Begnadigung vorsieht. Aber noch ist es völlig offen, ob er angenommen wird.

Die Menschenrechtslage ist also besorgniserregend und gefährdet die Errungenschaften des durch den Aufstand erwirkten Demokratisierungsprozesses. Diese Straflosigkeit, insbesondere bei Gewalttaten staatlicher Organe gegen seiner Bürger*innen, rührt zudem an einer offenen Wunde. Bereits im Übergang von der Pinochet-Diktatur zur parlamentarischen Demokratie erfolgte eine komplette Straffreiheit für alle in den 17 Jahren Diktatur begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Alle anderen Formen des Missbrauchs und der Misshandlung der Bevölkerung, wie zum Beispiel die Verweigerung der für ein menschenwürdiges Leben notwendigen sozialen Rechte, bauen auf diesen ungeahndeten Menschenrechtsverletzungen auf. Heute wird der neue politische Prozess in Chile von der Gefahr der fortgesetzten Straflosigkeit überschattet. Demokratie in einer neuen Verfasstheit kann schlechterdings nicht aus Terror und Straflosigkeit geboren werden.

Die Macht der Eliten

Neben der Straflosigkeit bedroht ein weiteres Schreckgespenst den chilenischen Prozess: die politische Macht einer bornierten Elite, die sich oft mit technischen Argumenten legitimiert, und alles daran setzt, die Bevölkerung vom demokratischen Prozess auszuschließen. Schon der Übergang zur Demokratie, der hauptsächlich von Mitte-Links-Parteien angeführt wurde, schloss systematisch die Menschen und soziale Bewegungen als politisches Subjekt aus. Die Entleerung der Politik zeigte sich in der Installierung einer technokratischen Herrschaft, die behauptete, dass Politik eine Angelegenheit von Expert:innen sei. Erst die Revolte vom Oktober 2019 brachte das „Volk“ als Protagonist zurück auf die Agenda. Durch den massiven Druck – zeitweise waren Millionen Menschen auf den Straßen – gelang es, fest versperrte Türen des politischen Establishments zu sprengen, an denen alle früheren Protestzyklen abgeprallt waren. Dazu gehören unter anderem der Beginn eines verfassungsgebenden Prozesses und die Durchführung eines Referendums, bei dem die Bevölkerung per Abstimmung durchsetzte, dass sich alle Abgeordneten der Versammlung direkt wählen lassen müssen. Damit wurden viele Aktivist:innen in den Konvent gewählt, die zuvor noch nie in der institutionellen Politik tätig waren. Der Aufstand hat mit dem verfassungsgebenden Prozess die traditionelle Politik der Eliten, die sich bislang weitestgehend hinter verschlossenen Türen abspielte, gebrochen.

Trotzdem ist die Bevölkerung als Akteurin trotz ihrer Fähigkeit, sich wie vor zwei Jahren unorganisiert zu erheben, zugleich zersplittert und verfügt kaum über eine politische Verfasstheit. Die „Lista del Pueblo“ (Volksliste), eine Gruppierung unabhängiger Kandidaten, ist ihr genuiner Ausdruck. Sie wandte sich in ihrem Diskurs gegen alle politischen Parteien. Es dauerte nicht lange und sie demontierte sich aufgrund interner Spannungen und einiger Skandale, in die Mitglieder aus ihren Reihen verwickelt waren. Obwohl sich ein Teil dieser Gruppierung neu formiert hat, sind die Schwierigkeiten bei der Artikulation dieses Lagers offensichtlich. Es ist nicht leicht für Teile der Bevölkerung, die fast ein halbes Jahrhundert lang von der Politik ausgeschlossen waren, sich auf relativ stabile Weise zu organisieren und die enormen internen Schwierigkeiten zu überwinden, die ihr von den herrschenden Eliten auferlegt wurden.

Trotzdem bleibt es von entscheidender Bedeutung, dass dieses Lager jenseits der traditionellen Parteien, das die Stimmen der Unerhörten artikuliert, gefestigt wird und im verfassungsgebenden Prozess ein Übungs- und Testfeld hat.

Die Dilemmata der Linken: Zwischen Verwaltung und Transformation

Seit Beginn des Aufstands ist klar, dass die politische Linke darin keine große Repräsentanz beanspruchen konnte. Das betraf sowohl die traditionelle Kommunistische Partei (KP) wie auch die jüngere Frente Amplio. Auch organisierte Bewegungen wie die Gewerkschaften hatten dort keine Stimme. Als der verfassungsgebende Prozess voranschritt, organisierten sich die, die sich als legitime Vertreter:innen des Volksaufstandes verstanden, außerhalb der sozialen und politischen Linken. Ihr deutlichster Ausdruck war die erwähnte „Lista del Pueblo“.

Trotzdem ist die bestehende chilenische Linke, die sich mit der KP und der Frente Amplio für die Präsidentschaftswahlen am 21. November in „Apruebo Dignidad“ (Ich bin für Würde) für den Kandidaten Gabriel Boric zusammengeschlossen hat, wichtig. In „Apruebo Dignidad“ verbünden sich heterogene Positionen. Die einen wollen eine tiefgreifende Veränderungen und einen Bruch mit der Politik der letzten Jahrzehnte, andere sehen sich durchaus in einer Traditionslinie. Bornierte Politikvorstellungen sind nicht nur eine Angelegenheit der Rechten. Auch Teile der Linken misstrauen der politischen Fähigkeit des neuen Lagers, sich seriös zu konsolidieren, was sich in einigen Episoden der Verfassungsdebatte widerspiegelt. In den letzten Monaten hat die Frente Amplio Avancen gegenüber Sektoren des alten Mitte-Links-Bündnisses Concertación, insbesondere gegenüber der Sozialistischen Partei, gemacht, statt das Bündnis mit der Kommunistischen Partei, ihrem Partner in „Apruebo Dignidad“, zu stärken und Brücken in die sozialen Bewegungen, zu den indigenen Völkern und anderen Sektoren des Volkslagers zu schlagen.

Zur Überwindung des Neoliberalismus ist es notwendig, einen neuen historischen Block zu bilden.  Der ist notgedrungen heterogen und in sich widersprüchlich. Nur ein solcher Block wäre in der Lage, die tiefgreifenden Veränderungen, die Chile braucht und gegen die sich die neoliberalen Eliten bereits wehren, voranzutreiben. Er muss die Artikulation all dieser Welten als eine politische Aufgabe von größter Bedeutung betrachtet. Der Verfassungskonvent ist ein Szenario, in dem dieser neue historische Block erprobt wird. Sollte es zu einer Regierung von „Apruebo Dignidad“ kommen, was durchaus möglich ist, wird es darum gehen, das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen, die allen Grund hat, der Politik einschließlich der der Linken zu misstrauen. Klar ist, dass die neoliberale Oligarchie alles tun wird, um den verfassungsgebenden Prozess scheitern zu lassen, eine mögliche linke Regierung zu destabilisieren und ein gemeinsames Vorgehen der subalternen Klassen zu verhindern. Vor diesem Hintergrund ist es von zentraler Bedeutung, gemeinsame Ziele und weiterführende Horizonte zu entwickeln und alle Räume zu aktivieren, in denen mögliche Artikulationen erprobt werden können.

Dieser neue politische Zyklus hat gerade erst begonnen. Die politischen und spontanen Bewegungen in Chile stehen vor einer ungeheuren Herausforderung. Trotzdem gibt es gute Gründe anzunehmen, dass es ein Zurück hinter das Ereignis der Aufstände nicht geben wird.

Pierina Ferretti

Pierina Ferretti ist eine chilenische Soziologin. Sie veröffentlicht regelmäßig Essays und Analysen zu aktuellen politischen Themen und ist Mitglied der Stiftung «Nodo XXI», ein Forum für eine antineoliberale, feministische und demokratische Linke. Sie war Referentin auf der medico-Konferenz „Die (Re-)Konstruktion der Welt“ im Februar 2021.


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