Von Anne Jung und Andreas Wulf.
Es gehört zur Tragik der Geschichte, dass die bedeutsamsten Ereignisse allzu oft in Vergessenheit geraten. Am 12. September 1978, genau drei Jahrzehnte nach der Gründung der Weltgesundheitsorganisation (WHO), verabschiedeten die Mitgliedsstaaten mit der Erklärung von Alma Ata Prinzipien und Leitlinien zur Erreichung bestmöglicher Gesundheit für alle Menschen. Es war ein wegweisendes Programm, in dem soziale Bedingungen wie gute Lebens-, Arbeits- und Wohnverhältnisse, soziale Sicherungssysteme und ein öffentliches Gesundheitssystem als Voraussetzung für Gesundheit anerkannt wurden. Getragen von der Idee der Umverteilung, forderte die Erklärung sogar eine neue Weltwirtschaftsordnung. Alma Ata formulierte eine Utopie für ein Denken nach vorn, die für das Selbstverständnis von medico konstitutiv ist und Eingang in die Projektpraxis vieler Partnerinnen und Partner weltweit gefunden hat.
„Gesundheit für Alle“ lautet seither das Credo eines Konzeptes, das finanzielle Mittel von den wenigen städtischen Krankenhäusern zu dezentralen Gemeindeprogrammen verlagert; das Basisgesundheitsarbeiterinnen und -arbeiter befähigt, die Mehrheit der Menschen mit ihren dringlichsten Gesundheitsbedürfnissen zu erreichen; und das die Beteiligung der Bevölkerung an der Entwicklung neuer Konzepte gewährleistet. Die primäre Gesundheitspflege und -versorgung – primary health care – wurde zu einem Schlüsselkonzept der WHO. In den Folgejahren wurden in vielen Ländern des globalen Südens, von Guatemala über Simbabwe bis Palästina, parallel zu Impf- und Behandlungsprogrammen Aufklärungskampagnen über Krankheitsursachen verwirklicht, die oft auch Kampagnen gegen Armutsbedingungen und für eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums waren.
Abhängigkeiten statt verwirklichter Rechte
Doch die Zeiten haben sich geändert. Heute sind fast überall auf der Welt die Gesundheitssysteme nach den Interessen des Marktes gestaltet und nicht nach den gesundheitlichen Grundbedürfnissen der Menschen. Prekäre, vielerorts lebensgefährliche Lebens- und Arbeitsverhältnisse sind für Millionen Menschen Alltag. Wie konnte es soweit kommen? Eine wichtige Ursache ist, dass eine in Alma Ata festgehaltene wesentliche Voraussetzung von „Gesundheit für Alle“ nie realisiert wurde: eine grundlegende Änderung der globalen Wirtschaftsstrukturen, die es den post-kolonialen und arm gehaltenen Ländern erlaubt hätte, selbst genügend Ressourcen für die Überwindung der Armut der Vielen und für die eigenen sozialen Grunddienste zu sichern. Weil das nicht geschah, blieben sie abhängig von der kontrollierenden Wohltätigkeit der oft kreditgebundenen Entwicklungshilfe. Seit den 1990er Jahren traten zudem philanthrokapitalistische Akteurinnen wie die Gates-Stiftung auf den Plan, die ihre eigene Agenda mitbrachten und seither Leitprinzipien der WHO untergraben. Die WHO wurde – geschwächt durch die Abhängigkeit von wenigen finanzstarken nationalstaatlichen und privatwirtschaftlichen Akteuren – de facto zu einer Dienstleisterin. Statt garantierter Rechte wurden Effektivitätsrechnungen und messbare Ergebnisse zum Mantra der Gesundheitsexpertinnen und -experten. Defizitäre Gesundheitseinrichtungen mussten die Löcher mit Nutzergebühren stopfen, was wiederum die Ärmsten der Armen, die ihrer am dringendsten bedürfen, von ihrer Nutzung ausschloss. Die tödliche Folge: Alljährlich sterben Millionen von Menschen an Erkrankungen, die eigentlich gut behandelbar wären. Armutsbedingte Krankheiten wie Tuberkulose kehren zurück, und chronische Krankheiten wie Diabetes breiten sich im globalen Süden aus.
Dass der Geist von `78 nicht ganz ausgetrieben wurde, belegte einmal mehr die People’s Health Assembly, das größte Treffen von Basisgesundheitsaktivistinnen und -aktivisten aus aller Welt. Bei der vierten Auflage reisten im Herbst 2018 auf Einladung des People’s Health Movement mehr als 1.300 Menschen aus über 75 Ländern nach Bangladesch, die große Mehrheit aus dem globalen Süden, um darüber zu diskutieren, wie sich die Utopien von einst heute in politische Praxis übersetzen lassen. So verständigten sich in einem von medico organisierten Workshop Partnerinnen und Partner aus Simbabwe, Südafrika, Philippinen, Pakistan, Bangladesch, Kenia, Nepal und dem Libanon über die Situation und Kämpfe von Gemeindegesundheitsarbeiterinnen (Community Health Worker). Diese verkörpern mit ihrer Arbeit eine Alternative zu einem rein individuell-biomedizinisch geprägten Gesundheitsverständnis. Gerade deshalb müssen sie ihre fundamentale Bedeutung für eine funktionierende Basisgesundheit jeden Tag aufs Neue verteidigen. In Zeiten von Privatisierung und Effizienzdenken schweben sie permanent in Gefahr, als billige Aushilfskräfte ausgebeutet zu werden. „Community Health Worker sind das Bindeglied zwischen der Community und dem Gesundheitssystem. In Zeiten fragmentierter Gesundheitssysteme ist das schon ein politischer Akt“, stellte Barbara Kaim von Tarsc aus Simbabwe fest.
Die Rolle der WHO: Anwältin, nicht Dienerin
Im Verlauf der Generalversammlung wurden zahlreiche politische Faktoren, die die Gesundheit ruinieren, diskutiert: von Freihandelsabkommen über die Klimakatastrophe bis zu profitorientierten Entwicklungsmodellen. Dass dies nicht in Plattitüden endete, war der unmittelbaren politischen Praxis der Anwesenden zu verdanken, die aufklären, sich verbünden, ihre Regierungen verklagen, Gesundheitskomitees gründen, streiken und konkrete Hilfe organisieren. Langfristig haben diese gelebten Alternativen allerdings nur dann eine Chance sich zu verstetigen, wenn die WHO mehr ist als eine technisch-administrative Behörde und zu der Rolle zurückfindet, die im Mandat ihrer Gründungsdokumente und in der Alma-Ata-Deklaration verankert ist: Als Anwältin und Autorität globaler Gesundheit hat sie eine menschenrechtliche Kernaufgabe. Die führende Institution der Weltgesundheit dürfte zum Beispiel Konflikte mit einer Wirtschaftspolitik nicht scheuen, die Patentregeln verhandelt, welche den Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten für alle verhindern. Defizite bei der WHO zu benennen, die Organisation in ihrem Mandat aber gleichzeitig zu verteidigen und zu unterstützen – mehr denn je ist dies Aufgabe der Zivilgesellschaft. In der Arbeit von medico international, den Partnerorganisationen im People’s Health Movement und vielen weiteren Netzwerken der globalen Gesundheit geht es um nicht weniger als um die Wiederbelebung und Weiterführung des Erbes von Alma Ata.
medico hat die Basisgesundheitsbewegung People’s Health Movement im Jahr 2000 mitgegründet und fördert seither seine Aktivitäten – finanziell und politisch, zentral und in bestimmten Regionen. Wir bitten um Spenden unter dem Stichwort: Gesundheit.