Der rote Teppich ist ausgerollt. Auf dem Hof des Kunstkollegs in der Kleinstadt Kifri in der Germian-Region im kurdischen Teil des Irak treffen die Gäste des „Ersten Friedens- und Kunstfestivals Kifri“ ein. Vertreter des Kulturministeriums aus Baghdad haben sich angekündigt, ebenso ein Theaterensemble aus Hille/Babel, eine Theaterregisseurin aus Ägypten, die Künstlergruppen Khanaqin und Sulaimania und der bekannte kurdisch-irakische Filmemacher Nasser Hassan. Pressevertreter stehen mit Block und Kamera bereit. In der aufgeregt-angespannten Stimmung treffen wir auf drei der Aktiven des Jugendkulturzentrums Kifri, die hinter dem Festival stehen: Ali und Dlawar aus der Filmgruppe „Gunay“; mit Hut, umgeworfenen Schals und hölzerner Zigarettenspitze wirken sie wie jugendliche Bohe- miens. Gwlala, deren Kopftuch, Kleid, Schminke und Schmuck farblich aufeinander abgestimmt sind, leitet die Frauenkunstgruppe aus Kifri. In den vergangenen Wochen haben sie viel Energie in die Vorbereitungen des Festivals gesteckt. Unterstützt wurden sie von Freunden und Bekannten aus der Stadt, vor allem aber von den Jugendlichen des 2014 eröffneten Kunst-und Kulturzentrums.
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Der Innenhof füllt sich. Hier förmliches Händeschütteln, dort freudige Umarmungen. In dem renovierten Saal des Kunstkollegs, der heute eingeweiht wird, sind 400 samtbezogene Sessel zu besetzen: Jugendgruppen, Familien, aber auch ältere Bewohnerinnen und Bewohner aus der Stadt Kifri und aus den umliegenden Dörfern strömen hinein. Auch die Studierenden des Kunstkollegs sind in freudiger Erwartung. Für das Festival haben sie und die Jugendlichen des Zentrums selbst Hand angelegt. In Eigenregie haben sie die Vorhalle fertiggestellt, Schimmel von den Wänden entfernt, Technik beschafft und den Saal funktionstüchtig gemacht. Ihr normaler Unterricht hingegen fällt wegen der anhaltenden Finanzkrise immer öfter aus, auch für den Erhalt des Gebäudekomplexes und Kunstmaterialien fehlen die Mittel. In seiner Eröffnungsrede formuliert Dlawar selbstbewusst seine Kritik an die anwesenden Regierungsvertreter. Vom Publikum erntet er Applaus, die Angesprochenen reagieren mit Stirnrunzeln.
Die Wunden der Vergangenheit
Der Bürgermeister von Kifri hält seine Rede auf Kurdisch und auf Arabisch, ein deutliches Zeichen des Willkommens an die Gäste aus dem Zentralirak. Dass auch sie gekommen sind, zeigt, wie außergewöhnlich der Anlass ist. Die Region weist zwar eine lange Geschichte des friedlichen Zusammenlebens von Kurden, Turkmenen und Arabern auf. Im historischen Stadtzentrum von Kifri sind auch Spuren jüdischen Lebens und jüdischer Geschichte sichtbar. Doch vor allem die jüngere Geschichte ist auch von Konflikt und Gewalt geprägt. 1988 war die Region Schauplatz der „Anfal-Operationen“ des irakischen Baath-Regimes. Tausende Dörfer in der kurdischen Region des Irak wurden zerstört, mehr als hunderttausend Menschen verschleppt und ermordet. Bis heute leidet die Region unter der damaligen Gewalt und den folgenden Jahren von Ungewissheit, Not und internen Kämpfen. Beim Vormarsch der Terrormiliz „Islamischer Staat“ vor vier Jahren lag Kifri dann unmittelbar an der Kampflinie zwischen dem IS und kurdischen Peshmerga. Erneut starben junge Männer in Kampfhandlungen. Damals suchten Tausende irakische Flüchtlinge, die vor dem IS geflohen waren, in Kifri und Umgebung Schutz. Viele leben heute noch in Lagern; andere haben in Kifri inzwischen Häuser und Arbeit gefunden.
In dieser Zeit reiften auch die Pläne für das Jugendkulturzentrum. Studierende des örtlichen Kunstkollegs renovierten das zunächst von Kämpfern, dann von Geflüchteten genutzte und schließlich leerstehende ehemalige Postgebäude. In den historischen Räumen richteten sie ein kleines Stadtmuseum ein, ebenso Kunstateliers, Ausstellungsräume, eine Bibliothek und eine Cafeteria. Damit schufen sie, inmitten des Schocks des IS-Terrors, auch eine Anlaufstelle für lokale und geflüchtete Jugendliche.
Heute liegt Kifri in Gebieten, die zwischen kurdischer und irakischer Regierung umkämpft sind. In Folge des kurdischen Unabhängigkeitsreferendums im Oktober 2017 und angesichts des Vorrückens der irakischen Armee und schiitischer Milizen waren es nun Hunderte kurdische Familien, die in Kifri und den umliegenden Dörfern Zuflucht suchten. Viele waren von turkmenischen Bevölkerungsgruppen aus der Stadt Tuz Khurmatu vertrieben worden. Wieder wurde das Jugendzentrum zur Anlaufstelle für Geflüchtete. Die Jugendlichen leisteten Hilfe und verteilten Decken und Nahrung. Noch immer finden in unmittelbarer Umgebung Übergriffe von Milizen und Resten des IS statt. Die Lage bleibt bedrohlich. Hinzu kommt, dass die anhaltende Finanzkrise und die Ereignisse nach dem kurdischen Referendum besonders Jugendliche frustriert haben. Es fehlt an Jobs und Möglichkeiten sich selber weiter zu entwickeln. Viele ziehen sich ins Private zurück, manche finden Halt in religiösen Angeboten.
Das Jugendkulturzentrum Kifri ist in den letzten Jahren ständig gewachsen und versteht sich als Gegenangebot. Es ist ein Raum, in dem Jugendliche jenseits ethnischer, religiöser oder parteipolitischer Zugehörigkeiten zusammenkommen und selbstbestimmt ihr kreatives Potential entfalten können. Ihr Engagement ist längst in der ganzen Stadt sichtbar: Seien es Skulpturen und Installationen, die an die multiethnische Geschichte der Stadt oder an den Terror des Baath-Regimes erinnern, oder liebevoll beleuchtete Park- und Grünan- lagen, in denen junge Menschen der Stadt zusammenkommen.
Kifri lebt auf
Die vergangenen und aktuellen Schrecken bilden den Hintergrund des Festivals. Während der drei Tage aber tritt das Leben in den Vordergrund. Nach und nach eignen sich die Jugendlichen und die Gäste den öffentlichen Raum an. Am zweiten Tag führen Theatergruppen ihre Stücke auf dem verfallenen Basar der Stadt unter freiem Himmel auf. Unter die Festivalgäste mischen sich neugierige Anwohner, so dass Hunderte Zuschauer gebannt der Inszenierung folgen. Auch das historische, seit Jahrzehnten verfallende Badehaus, wo vor hundert Jahren Frauen und Männer an den Badetagen um den heißen Stein zusammenkamen, haben die Jugendlichen renoviert und liebevoll gestaltet. Auf den Sitzflächen liegen die farbenfrohen Kifri-Teppiche, es wird Tee serviert, an den Wänden sind Bilder einer Ausstellung gehängt.
Das Programm ist dicht: Hier werden Bücher vorgestellt, dort Ausstellungen eröffnet. Und im großen Saal werden Filme gezeigt. Für eine Gruppe von 13-Jährigen ist „das Kino“ mit seiner großen Leinwand das absolute Highlight. Im Jugendzentrum selbst zeigt die Frauenkunstgruppe eigene Werke. Sich auszuprobieren und miteinander auszutauschen, auch über die Erfahrungen und Einschränkungen als Frauen in dieser eher konservativen Region – all das geschieht in diesen Räumen und zeigt sich in den Bildern. Leiterin Gwlala erzählt, dass das von den Frauen initiierte kurdisch-irakische Netzwerk von Frauenkunstgruppen große Pläne hat: Am achten März, dem internationalen Frauentag, soll in Kifri ein großes Frauenkunstfestival stattfinden.
Landesweites Echo
Das Festival wirkt weit über die Stadt und die Region hinaus. Auf vielen kurdischen und arabischen TV-Kanälen wird berichtet und kommen die Organisatorinnen und Organisatoren zu Wort. Jugend- und Künstlergruppen aus Kifri erhalten Gegeneinladungen nach Bagdad, Babel und Khanaqin.
Am Ende des dritten Tages wird die abschließende Preisverleihung mit großer Ernsthaftigkeit zelebriert. In einer Rede bringt der von vielen verehrte Regisseur Nasser Hassan seine Begeisterung über das Festival und das Engagement der Jugendlichen zum Ausdruck, denen es gelungen ist, mit wenigen Mitteln einen selbstbestimmten Raum für einen freien Austausch zu schaffen – und dass jenseits der allgegenwärtigen parteipolitischen Agenden unabhängig und selbstbestimmt. Hassan gibt ihnen auch Tipps für die Zukunft. Denn auch wenn das Festival offiziell endet: Überall ist spürbar, dass ein Prozess gerade erst begonnen hat. Der hier angestoßene gesamtirakische Austausch über ethnische und religiöse Grenzen hinweg macht andere Realitäten vorstell- und lebbar. Drei Tage lang hat das Festival eine ersehnte friedliche Zukunft vorweggenommen. Die Jugendlichen haben gemeinsam mit vielen Freunden aus allen Teilen des Landes, drei Tage lang das Leben gefeiert und etwas geschaffen, was lange wirken wird.
Anita Starosta
Gemeinsam mit unserem Partner HAUKARI e.V. unterstützt medico seit 2014 den Aufbau des Jugendzentrums in Kifri und stellte zuletzt auch Mittel für das „Friedens- und Kulturfestival“ zur Verfügung.
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Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2018. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. <link verbinden abonnieren>Jetzt abonnieren!