Von Karin Mlodoch
Seit Mitte Oktober 2016 läuft die Rückeroberung von Mossul. Unter dem Druck der internationalen US-geführten Anti-IS-Koalition hat sich eine breite, aber auch brisante Koalition auf den Weg gemacht, den IS aus seiner letzten Hochburg auf irakischem Territorium zu vertreiben. Beteiligt sind die irakische Armee, vom Iran unterstützte schiitische Milizen und kurdische Peschmergaverbände. Alle Fraktionen ziehen mit eigenen Interessen und Ansprüchen in den Kampf, was Anlass zur Sorge gibt, nach einer Befreiung der Stadt könnten die inneren Spannungen eskalieren. Momentan aber regiert der kleinste gemeinsame Nenner: die zügige Vertreibung des IS.
In Mossul selbst lässt die Offensive die Menschen gleichzeitig hoffen und zittern. 1,5 Millionen sollen es noch sein. Nach der Vertreibung, Ermordung und Flucht von Kurden, Jesiden, Schiiten, und Christen sind es vor allem arabisch-sunnitische Bevölkerungsteile. Letztere waren nach dem Sturz des Baath-Regimes 2003 unter der US-Besatzung und der schiitisch dominierten irakischen Regierung systematisch marginalisiert worden. Viele von ihnen hielten 2014 daher den Islamischen Staat für das kleinere Übel. Das hat sich nach zweieinhalb Jahren islamistischen Terrors gründlich geändert. Die Bevölkerung sehnt die Befreiung herbei. Gleichzeitig aber fürchtet sie den Einmarsch schiitischer Milizen und mögliche Vergeltungsaktionen. In dieser zugespitzten Situation kann der IS die Menschen nur noch mit blanker Gewalt und drastischen Strafen bei Fluchtversuchen in der belagerten Stadt halten. Von seiner verzweifelten Lage berichtet der Blogger „Mosul Eye“ in täglichen Eintragungen. Er beschreibt die grausamen öffentlichen Hinrichtungen von Gefangenen und „Spionage“-Verdächtigen sowie die aussichtslose Suche der Zivilbevölkerung nach Schutzmöglichkeiten in der zur sprengstoffgespickten Festung hochgerüsteten Stadt. Und er träumt von einer von Mossulern selbst bestimmten Zukunft für seine Stadt. Seine Eintragung am 8.11.2016 endet mit den Worten: “Maybe the sun soon will rise in Mosul, and it will be liberated by then, or maybe not. But I ask, if we die, who will bury us? Do not forget Mosul.“
Die Flucht in die Kurdengebiete
Auch in Kurdistan-Irak halten die Menschen angesichts der Mossul-Offensive den Atem an. Nach dem Sturz des Baath-Regimes 2003 hatte die kurdische Region einen Prozess der wirtschaftlichen und politischen Stabilisierung durchlaufen. Nun aber kämpfen die Peschmerga erneut an den Grenzen der kurdischen Region und auf allen TV-Kanälen wird vom Krieg berichtet. Viele Menschen sorgen sich um Angehörige und Freunde, die gegen den IS kämpfen, aber auch um das Schicksal der Bevölkerung von Mossul. Sie befürchten weitere Eskalationen von sunnitisch-schiitischen und kurdisch-arabischen Konflikten nach der Vertreibung des IS. Projektpartner von HAUKARI e.V. und medico wie das Frauenzentrum KHANZAD, das seit 20 Jahren Frauen in Gewalt- und Krisensituationen betreut, sehen ungläubig zu, wie die intensiven Debatten in der kurdischen Gesellschaft über demokratische Reformen, Menschen- und Frauenrechte vom Erstarken nationalistischer und militaristischer Diskurse von der politischen Tagesordnung verdrängt werden.
Seit dem Vormarsch des IS 2014 sind 3,2 Millionen Menschen im Irak auf der Flucht, 1,6 Millionen haben bislang im kurdisch verwalteten Gebiet Schutz gesucht. Die Provinzen Duhok und Erbil beherbergen den größten Teil der Geflüchteten aus Mossul und Umgebung. Aber auch im Südosten der kurdischen Region, in der Provinz Sulaimania und im Germian-Gebiet, sind Zehntausende vor allem arabisch-sunnitischer Menschen aus dem Zentralirak gestrandet. Sie sind vor dem IS, aber auch vor den schiitischen Milizen geflohen, zutiefst erschüttert von erlebten Gräueln und ohne Rückkehrperspektive. Die Solidarität der kurdischen Bevölkerung gegenüber den Geflüchteten ist nach wie vor groß. Selbstverständlich ist sie keineswegs, denn aus Sicht der kurdisch-irakischen Gesellschaft, die jahrzehntelang unter dem Terror des Baath-Regimes gelitten hat, gehören die arabisch-sunnitischen Geflüchteten zu den ehemaligen Unterstützern des Regimes und stellen aufgrund der anfänglichen Sympathie vieler für den IS auch ein Sicherheitsrisiko dar.
Die kurdische Region ist mit der Versorgung der Geflüchteten zunehmend überfordert. Seit 2014 leidet sie unter einer akuten Wirtschaftskrise: Als Reaktion auf eigenständige kurdische Erdölgeschäfte verhängte die irakische Regierung eine Wirtschaftsblockade gegen die kurdische Region. Öffentliche Angestellte erhalten seither nur gekürzte Löhne, Verwaltung, Bildungs- und Gesundheitssystem funktionieren nur eingeschränkt. Streiks von Lehrern und öffentlichen Angestellten nehmen zu, in Sulaimania sind Universitäten und Schulen seit Monaten geschlossen. Hinzu kommen innenpolitische Konflikte. Eine kontroverse Debatte gibt es dabei um die Frage, ob – wie von Präsident Massud Barzani über die Ankündigung eines Unabhängigkeitsreferendums betrieben – die starke Position als Bündnispartner des Westens im Kampf gegen den IS genutzt werden soll, um eine kurdische Staatlichkeit zu verwirklichen, oder angesichts der eskalierten Konfliktlage eine schnelle Stabilisierung durch Verhandlungen mit der irakischen Regierung in Bagdad das Gebot der Stunde ist.
Der Vergangenheit zum Trotz
Angesichts der dramatischen Situation und der vielfältigen Krisen ist internationale Hilfe für die kurdisch-irakische Region dringend geboten. Seit zwei Jahren sind zahlreiche internationale Hilfsorganisationen vor Ort und leisten Nothilfe. Ein Großteil der Hilfe fließt zurzeit in die Provinzen Duhok und Erbil, die die meisten Geflüchteten aufgenommen haben. Vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit erhalten hingegen die zentralirakischen Geflüchteten und ihre kurdischen Gastgemeinden im Südosten Kurdistan-Iraks, im Germian-Gebiet in der Provinz Sulaimania. Hier arbeitet HAUKARI seit vielen Jahren mit Überlebenden der Anfal-Operationen des Regimes von Saddam Hussein von 1988, bei denen mehr als einhunderttausend kurdische Frauen und Männer ermordet und tausende kurdische Dörfer zerstört wurden. In dieser langjährigen Zusammenarbeit sind enge Kontakte in die Gemeinden und zur lokalen Verwaltung entstanden. Auf dieser Basis konnte schon im Sommer 2014 schnelle Hilfe für Geflüchtete geleistet werden. Seither erhalten rund 1.000 Mütter in den Camps Alwand bei Khanaqin, Tazade und Qoratu bei Kalar und in Notunterkünften in Kifri monatlich Zusatznahrung und Hygieneartikel. Mobile psychosoziale Teams unterstützen geflohene Frauen und beraten sie bei Gesundheitsfragen. Aktuell ist die Hilfe noch ausgeweitet worden: Vor wenigen Tagen sind im Camp Tazade nach einer Odyssee 50 Familien angekommen, denen die Flucht aus dem 300 Kilometer entfernten Mossul gelungen ist. Zudem bereiten sich Mitarbeiterinnen und Partner von HAUKARI e.V. und medico international für den Fall einer Massenflucht aus Mossul in Camps der Region Duhok vor.
Bei all dem arbeitet HAUKARI eng mit der Beratungs- und Versorgungsstruktur der kurdischen Regionalregierung und lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammen. Um Spannungen zwischen der angestammten Bevölkerung und den neuangekommenen Flüchtlingen nicht zu verschärfen, werden zudem alle Nothilfemaßnahmen von sozialen und Infrastrukturprojekten für die Gastgemeinden begleitet. So wurde auch die Renovierung des örtlichen Fußballstadions von Khanaqin, in dem zeitweise Geflüchtete untergebracht waren, unterstützt. Und so ist auch das Jugend- und Kulturzentrum in der Stadt Kifri entstanden.
Kultur- und Jugendzentrum Kifri
Kifri ist eine Kleinstadt im Germian-Gebiet am äußersten Südwestzipfel der kurdischen Region im Irak mit 40.000 Einwohnern. Die Stadt blickt auf eine lange Tradition des friedlichen Zusammenlebens zwischen kurdischen, arabischen und turkmenischen Bevölkerungsgruppen zurück . Unter der Herrschaft von Saddam Hussein war Kifri 1988 ein Schauplatz der Anfal-Operationen; bis heute leidet die Stadt unter den Folgen der damals erlittenen Gewalt und der Ungewissheit über das Schicksal vieler Opfer. Auch nach dem Sturz des Baath-Regimes 2003 blieb die entlegene Kleinstadt infrastrukturell abgeschnitten. Das jahrhundertealte historische Stadtzentrum zerfällt. Viele der in der kurdisch-irakischen Region in den letzten Jahren durchgesetzten Reformen im Bereich der Frauenrechte sind hier noch nicht angekommen, Zwangsehen und Gewalt gegen Frauen in der Familie sind weit verbreitet. Es ist ein desolater Ort, in dem Arbeits- und Perspektivlosigkeit herrschen und viele Jugendliche von einem Leben in Europa träumen. Heute liegt die Stadt in unmittelbarer Nähe zur Frontlinie zwischen kurdischen Peschmerga und dem IS. Viele Männer der Stadt kämpfen an der Front gegen den IS, erneut hat die Stadt Tote und Verletzte zu beklagen.
Genau hier haben in den vergangenen zwei Jahren 3.500 arabisch-sunnitische Menschen, die vor dem IS und schiitischen Milizen geflohen sind, Zuflucht gefunden. Sie leben in leerstehenden öffentlichen Gebäuden, auf Baustellen und in angemieteten Wohnungen. 2014 wurde auch das ehemalige Postgebäude von Kifri Zufluchtsort für Geflüchtete. Als das Gebäude wieder frei wurde, gründete ein Lehrer der örtlichen Kunsthochschule mit einer Gruppe von Studierenden eine Initiative zur Instandsetzung des Gebäudes als Jugend- und Kulturprojekt. Der Verein Haukari und medico international haben die Initiative seinerzeit als „konfliktpräventive Maßnahme“ im Rahmen der Nothilfe für Geflüchtete unterstützt. Nach Zustimmung durch die Stadtverwaltung renovierte die Gruppe die Räume, richtete ein kleines Regionalmuseum ein sowie einen Veranstaltungsraum mit Bibliothek und Cafeteria.
Seither ist das Zentrum ständig gewachsen. Ateliers für lokale Künstlerinnen und Künstler wurden geschaffen. Der Innenhof und der große Garten werden für Konzerte und Theateraufführungen genutzt. Hier finden lange Nächte der Musik und der Gedichte statt, aber auch politische Abende zur aktuellen Situation in Irak und Kurdistan. Gleichzeitig dient das Zentrum als Verteilstelle für Hilfsgüter an Geflüchtete. Für sie werden Aufklärungs- und Informationsveranstaltungen zu Gesundheits- und Rechtsfragen organisiert. Es finden Dialogveranstaltungen statt und lokale Jugendliche richten mit geflüchteten Jugendlichen Fußballturniere aus. Während das Zentrum anfangs von jungen Männern dominiert wurde, gehören inzwischen auch Frauen dem Team an. Sie organisieren Nähkurse und „Beauty Salons“. Das mag traditionell klingen; aber diese Kurse sind im konservativen Kifri Solidaritäts- und Begegnungsorte für Kurdinnen aus Kifri und arabische Geflüchtete aus dem Zentralirak gleichermaßen – aus denen schon bald soziale und politische Fraueninitiativen erwachsen dürften.
Längst ist das Zentrum aus der Nothilfe herausgewachsen und zum eigenständigen Projekt geworden. Es ist eine gelungene, von lokalen Jugendlichen entwickelte und getragene Initiative. Angesichts der enormen Herausforderungen – der politischen Neugestaltung des Irak nach der Vertreibung des IS und der Umgang mit den tiefen physischen und psychischen Wunden – ist es ein verschwindend kleines Projekt. Aber es ist einer von vielen Bausteinen, um angesichts des Teufelskreises von Krieg, Konflikt und Flucht Perspektiven zu schaffen. Inmitten einer von Gewalt geprägten und von ethnisch-religiösen Spannungen zerrissenen Region ist ein Ort des Dialogs und der praktischen Solidarität entstanden.
Karin Mlodoch ist Psychologin und arbeitet bei Haukari e.V.
medico international unterstützt gemeinsam mit dem Verein Haukari seit vielen Jahren Projekte im Nordirak. Momentan bereiten sich unsere lokalen Partner auf die Aufnahme neuer Flüchtlingsgruppen vor. Den Ausbau des Jugend-Kultur-Zentrums in Kifri fördert medico seit 2014. Spendenstichwort: Kurdistan/Irak