Die fehlende Freiheit des Wortes

Der Soziologe Ismail Besikci ist erneut angeklagt

30.07.2010   Lesezeit: 8 min

Es ist nicht das erste Mal, dass der Soziologe und Autor Ismail Besikci vor der türkischen Justiz erscheinen muss. Erneut ist es ein wissenschaftlicher Aufsatz, der ihm den Vorwurf eingebracht hat angeblich „terroristische Gedanken“ geäußert und damit Propaganda für die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) betrieben zu haben. Konkret geht es um einen Text, den Ismael Besikci unter dem Titel „Nationale Selbstbestimmung und die Kurden“ in der Monatszeitschrift „Unser Zeitalter“ veröffentlicht hatte. Die türkische Staatsanwaltschaft bezeichnet diese Untersuchung jetzt als „terroristische Propaganda“ und droht dem Autor und der Verlegerin der Zeitschrift, Zeytan Balcı, gleichermaßen mit einer Haftstrafe zwischen 2,5 und sieben Jahren.

Verurteilungen in Reihe

Ismail Besikci, selbst Türke, gebürtig aus Corum, kennt diese Anklagen nur zu gut. Unzählige Male wurde ihm in der Vergangenheit bereits vor Gericht vorgeworfen, die „Nationalgefühle zu zerstören oder zu schwächen“. In den letzten vier Jahrzehnten wurde der 71-jährige Soziologe zu insgesamt 100 Jahren Haft und einer irrwitzigen Geldstrafe von insgesamt rund 5,1 Milliarden Euro verurteilt. Immerhin 17 Jahre verbrachte Ismail Besikci im Gefängnis. Der Grund für diese selbst für türkische Maßstäbe außergewöhnlich beharrliche Verfolgung und Bestrafung eines regimekritischen Intellektuellen liegt in den Publikationen des vielleicht bekannten Kurden- und Minderheitenforschers des Landes.

Seit seiner ersten größeren Veröffentlichung „Die gesellschaftlichen Veränderungen der kurdischen Nomadenstämme in Ostanatolien“ 1967 wird er von den staatlichen Behörden mit allen Mitteln verfolgt: seine Forschungstätigkeit wurde behindert und schließlich verboten, ihm wurden an den Universitäten die Lehrberechtigungen entzogen, seine Artikel und Bücher wurden zensiert, verboten und beschlagnahmt. Schon 1971 wurde der junge Soziologe, der begonnen hatte an der Universität Erzurum eine Vorlesungsreihe über die soziale Ordnung von ostanatolischen Hirtengesellschaften zu halten, mittels eines offenen Briefes von seinen wissenschaftlichen Kollegen von der Universität verstoßen, dessen infamer Geist heute noch erschreckt und lohnt zitiert zu werden: "In seinen Schriften befasst sich Besikci mit den Kurden. Er erläutert, dass es, abgesehen von der türkischen Nation, eine eigene Nation gäbe, deren Sprache und Kultur anders als die türkische Sprache und Kultur seien. Die angesehensten Autoren und wissenschaftlichen Autoritäten haben jedoch bewiesen, dass diese Thesen wissenschaftlich nicht haltbar sind…. Kurde sein heißt Türkei sein. Es gibt auch keine kurdische Sprache… Diese Person verletzt unsere Würde als Person und Wissenschaftler. Deshalb sind wir an einer Verurteilung und einer entsprechenden Bestrafung dieser Person interessiert."

Jahre in Haft

Die Wirkung dieser Denunziation blieb nicht aus. Kurz darauf wurde Besikci zu 12 Jahren Gefängnis verurteilt und entging 1972 in seiner Zelle nur knapp einem Attentat. Im Zuge einer Generalamnestie wurde er 1974 entlassen, blieb weiterhin von der Universität ausgeschlossen und begann seine Tätigkeit als freier Schriftsteller. Er veröffentlicht u. a. die Bücher „Zwangsumsiedelung der Kurden“ oder „Das türkische Geschichtsprinzip, die Theorie der Sonnensprache und die kurdische Frage“, worauf er erneut zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt wurde. 1981, nach der Machtübernahme der Militärs in der Türkei, folgte eine Verurteilung zu zehn Jahren erschwerter Haft wegen eines regimekritischen Briefes an den schweizerischen Schriftstellerverband.

Im eigenen Land, auch während der Zeit der Militärjunta nur von wenigen linken Kollegen und Schriftstellern unterstützt, wurde er vom internationalen PEN betreut und 1987 war er einer der Kandidaten für den Friedensnobelpreis. Nach seiner Entlassung im gleichen Jahr publizierte Besikci weiter. Manchmal waren seine Bücher bereits ausverkauft, bevor sie beschlagnahmt werden konnten. So etwa seine Schrift: „Kurdistan, eine Kolonie, aufgeteilt zwischen mehreren Staaten“ die ihm Anfang 1993 eine wütende Anklageschrift wegen „Hochverrat“ einbrachte. Mehre Freunde legten Besikci nahe das Land zu verlassen, er aber lehnte ab und weigerte sich stoisch ins Ausland zu gehen. In einem damaligen Interview erklärte seine Gründe, warum er niemals das Exil erwogen hatte: „Ich kann meine Forschungen nur in der Türkei durchführen. Außerdem weigere ich mich, sie als ein Vergehen anzusehen…. Wenn ich gerichtlichen Ermittlungen ausweiche und fliehe, käme dies dem Eingeständnis einer Schuld gleich.“

Die medico-Kampagne für die Freiheit der Wissenschaft

Die 1990er Jahre brachten Besikci erneute Bücherverbote, Anklagen und Haftstrafen ein. Allerdings verursachte seine Gerichtstermine eine weitaus größere Öffentlichkeit. In der Türkei begleiteten zeitweise über 100 Anwälte, Parlamentarier und Vertreter von Menschenrechtsvereinen aus dem In- und Ausland die staatanwaltlichen Vorladungen des kleingewachsenen Wissenschaftlers, der auch vor Gericht mit leiser, aber unerschrockener Stimme das zentrale Thema seiner Publikationen verteidigte: Die Existenz einer kurdischen Sprache, Kultur und Gesellschaft innerhalb der Türkei.

medico international initiierte ab 1996 zusammen mit anderen Menschenrechtsgruppen eine internationale Kampagne für die „Freiheit der Meinung und Wissenschaft in der Türkei“, die nicht nur von türkischen und kurdischen Menschenrechtlern wie Akin Birdal und Ismet Cherif Vanly, sondern auch vom internationalen PEN und zahlreichen Intellektuellen und Wissenschaftlern weltweit unterstützt wurde. Veranstaltungen, Postkartenkampagnen und Ausstellungen auf der Frankfurter Buchmesse wurden organisiert: Es ging um die Freiheit von Besikci als exemplarischem Fall der generellen Verletzung der Menschenrechte in der Türkei. Es war die dunkle Zeit, in der mit Beginn der 1990er Jahre in den kurdischen Regionen viele Intellektuelle ihres Lebens nicht mehr sicher waren, in der kritische Journalisten und Menschenrechtler erschossen wurden und ein Geflecht aus staatlichen Sicherheitskräften und paramilitärischen Killerkommandos die kurdische Zivilbevölkerung terrorisierte: Tausende kurdische Dörfer wurden entvölkert, Wälder wurden abgebrannt und Dorfbewohner auf den Marktplätzen gefoltert, verschleppt und später exekutiert aufgefunden. Die Türkei wurde, auch mit Hilfe von medico, wiederholt vor dem Europäischen Menschengerichtshof angeklagt – und mehrmals erfolgreich verurteilt.

Eine besondere Begegnung

Besikci kam durch die Kampagne frei, nicht sofort, aber der anhaltende internationale Druck zwang die türkische Justiz ihn im Rahmen einer Amnestie vorzeitig zu entlassen. Nach seiner Haft verweigerte sich Besikci allen internationalen Einladungen und Ehrungen, er fürchtete, nicht zu Unrecht, nach einer Auslandsreise nicht mehr in die Türkei zurückkehren zu können. Es wurde ruhiger um ihn. Er publizierte weiter, vermied aber größere Auftritte in der Öffentlichkeit und lehnte auch nahezu jede Interviewanfrage ab. Sein Argument war, dass er nur dann in einer ausländischen Publikation zu Wort kommen wolle, wenn er seine Ansichten auch in der Türkei offen und frei äußern könne.

Ich erinnere mich noch gut, wie ich während eines Aufenthaltes in Ankara im Winter 1999 tagelang versuchte einen Gesprächstermin mit Besikci zu bekommen. Erst der sanfte Überredungsdruck eines guten gemeinsamen Freundes ermöglichte es mir, ihn in seinem Verlag zu besuchen. Aus dem vereinbarten kurzen Gespräch entspann sich eine lange Unterhaltung, die ich zwar mit meinem Kassettengerät nicht aufzeichnen, aber für einen Artikel nutzen durfte. „Allerdings nur für eure Arbeit, die mir so geholfen hat“, sagte mir Besikci, der von vielen Kurden respektvoll „Hoca“ (Lehrer) genannt wird, noch bei der Verabschiedung an der Tür. Natürlich hielt ich mich an seine Bitte und wir veröffentlichten die denkwürdige Begegnung im Jahr 2000 allein in unserem medico-Rundschreiben.

In den darauffolgenden Jahren wurde es ruhiger um Ismail Besikci. Er mied weiterhin den großen Auftritt, systematisierte lieber seine alten Veröffentlichungen, forschte und publizierte weiter. Er begann sich auch für andere gesellschaftliche Gruppen zu interessieren, die in der Türkei und dem Nahen Osten verfolgt wurden oder teilweise noch werden: die große religiöse Gemeinschaft der Aleviten, dazu die Yeziden, die assyrischen und syrischen Christen. Neben Büchern publizierte er eine Reihe von Aufsätzen in Zeitschriften und auf dem kurdischen Webportal gomanweb schreibt er eine regelmäßige Kolumne.

Wieder vor Gericht

Besikci zeigte sich auch bei seinem jüngsten Gerichtsauftritt unbeugsam wie eh und je. Vor wenigen Tagen erklärte er vor dem 11. Strafgerichtshof in Istanbul, dass trotz offenkundiger Liberalisierungen in der Türkei das grundlegende politische Dilemma unangetastet bleiben würde: „Der Präsident des Landes sagt heute zwar, dass die Politik der Verleugnung beendet ist, aber über das Problem selbst wird nicht gesprochen“, sagte er. „Warum konnte dieses Problem bis heute nicht gelöst werden? Mein beanstandeter Artikel handelt von der kurdischen Frage, dem Inhalt dieses Problems, seinem Zusammenhang und meine Kritik an der gegenwärtigen Politik gegen die Kurden“. Sein Anwalt führte weiter aus, dass in mehrere Seiten umfassenden inkriminierten Artikel der Name der PKK lediglich einmal fallen würde und dies lediglich im Zusammenhang mit einem Zitat. Dennoch zeigte sich Staatsanwaltschaft nicht überzeugt. Das Verfahren wird fortgesetzt.

Aktuell setzten sich zahlreiche türkische und kurdische Intellektuelle dafür ein, dass das neue Verfahren gegen Ismail Besikci eingestellt wird. Darunter sind fortschrittliche Verleger, Radiomacher, Journalisten und Künstler. Unter dem Motto „Bilimin Namusa yalniz basina degildir“ (Die Ehre der Wissenschaft steht nicht allein) haben sie im Internet und in verschiedenen kritischen Zeitschriften eine Kampagne für die Freiheit von Ismael Besikci initiiert, der vielleicht wie kein zweiter Intellektueller in der Türkei das Opfer einer kemalistischen Staatsräson ist, die das freie Wort und damit Recht auf kulturelle Differenz, in diesem Fall der Kurden, letztlich nicht bereit ist anzuerkennen und zu garantieren.

Martin Glasenapp, Juli 2010


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