Die vergangene erste Runde der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Chile boten ein ernüchterndes Ergebnis für die unterschiedlichen linken und progressiven Kräfte. Nach einem überwältigenden Massen-Feminismus, nach einer Revolte, die die Möglichkeit zu eröffnen schien, dass sich Chile neu gründet, und nach zwei Wahlen (dem Plebiszit für ein Verfassungsreferendum und den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung), in denen die Rechte eine fundamentale Niederlage erlitten hat, war dieses Wahlergebnis nicht vorhersehbar. Mit José Antonio Kast hat ein ultrarechter, offen neoliberaler, reaktionärer und direkt mit dem Pinochetismus verknüpfter Kandidat in der ersten Runde die relative Mehrheit erzielt. Er hat große Chancen, der nächste Präsident von Chile zu werden.
Bedeutsam ist, dass die Wahlbeteiligung nur bei ca. 47 Prozent lag, noch niedriger als bei den Abstimmungen zuvor, die wenigstens die 50 Prozent Marke knackten. Kast, Chef der Republikanischen Partei, erhielt 27,7 Prozent der Stimmen, Gabriel Boric von Apruebo Dignidad (einem Bündnis aus Kommunistischer Partei und Frente Amplio) landete mit 25,8 Prozent der Stimmen auf dem zweiten Platz. Franco Parisi, der nicht einmal in Chile lebt und auch nicht anlässlich des Wahlkampfes nach Chile kam, landete als Führer einer vor kurzem gegründeten „Partei der Leute“ (Partido de la Gente) gar auf dem dritten Platz. Er vertritt einen puren Populismus und das Anti-Establishment-Ressentiment. Alle anderen Kandidat*innen aus der linken oder rechten Mitte, die die letzten 30 Jahre Chile regierten, landeten abgeschlagen auf den hinteren Plätzen.
Auch die Ergebnisse der parallel abgehaltenen Parlamentswahlen zeichnen ein komplexes Bild. Im Abgeordnetenhaus gibt es eine leichte Mehrheit für linke und progressive Kräfte, im Senat hat die Rechte einen kleinen Vorsprung. Wer auch immer Präsident wird: Er wird Probleme haben, unter diesen Bedingungen seine Agenda durchzusetzen. Im Gegensatz zur Wahl der verfassungsgebenden Versammlung konnten hier nur Parteien und ihre Vertreter*innen antreten. Das hat wahrscheinlich verhindert, dass sich das Parlament ähnlich erneuert wie die verfassungsgebende Versammlung, wo unabhängige Kandidat*innen die traditionellen Parteien in großem Umfang ersetzten. Gerade deshalb muss man die Wahl von Fabiola Campillai hervorheben. Sie erreichte landesweit die höchste Stimmenzahl für einen Senatsposten. Campillai wurde während der Proteste von einem Polizisten mit einer Tränengasgranate, die er aus 50 Metern Entfernung abschoss, so schwer verletzt, dass sie beide Augenlichter sowie ihren Geruchs- und Geschmackssinn auf Dauer verlor. Der Beschuss fand vollkommen anlasslos abseits der Proteste statt. Die Frau aus einfachen Verhältnissen schlug bei der Direktwahl den ehemaligen Gesundheitsminister Mañalich, der während der Pandemie davon sprach, dass er keine Armen kenne, weshalb ihn der damalige Präsident Piñeira absetzen musste.
Ein kleines Erdbeben unter den Linken
In den linken und progressiven Kreisen haben diese Ergebnisse ein kleines Erdbeben ausgelöst. Wie konnte es passieren, dass nach dem immensen Aufstand von 2019 und seinen Folgen ein Kandidat wie Kast die relative Mehrheit erringen konnte? Wie konnte ein offen misogyner und homophober Kandidat, der das Frauenministerium und den Schwangerschaftsabbruch, selbst bei Vergewaltigung oder Gefahr für das Überleben der Schwangeren, abschaffen will, in die zweite Runde gelangen, obwohl die feministische Bewegung so stark ist? Diese Ergebnisse widersprechen fundamental den demokratischen Prozessen, die gerade stattfinden.
Es lohnt sich einen Blick auf die Tendenzen zu werfen, die konstant geblieben sind. Dazu gehört die hohe Wahlenthaltung. Seit in Chile 2012 die Wahlpflicht abgeschafft wurde, gehen in der Regel weniger als 50 Prozent der Wahlberechtigten wählen. Die hohe Wahlenthaltung relativiert auch übereilte Behauptungen und Generalisierungen. Es gibt weder eine soziale Mehrheit noch eine Massenbewegung faschistischen Zuschnitts hinter Kast. Hinzu kommt, dass die traditionellen Parteien und die politische Elite bei den Präsidentschaftswahlen eine Abfuhr erhielten. Die beiden großen politischen Entitäten, die den Übergang in die Demokratie leiteten, also die Rechte um den amtierenden Präsidenten Sebastián Piñera einerseits und die Mitte-Links verortete Concertación andererseits, landeten auf den hinteren Plätzen. Dieses Ergebnis entspricht den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung, wo diese Gruppierungen ebenfalls eine überwältigende Niederlage erlitten und durch unabhängige und linke Abgeordnete wie Aktivist*innen ersetzt wurden. Die drei Erstplatzierten gehören alle nicht der alten Elite an, die die letzten 30 Jahre regiert hat. Das zeigt sich insbesondere an der Wahl von Franco Parisi, der keinen politischen Hintergrund hat und niemals einen öffentlichen Posten innehatte, weshalb er so erfolgreich seine Kampagne lancieren konnte, in der er die Dekadenz der institutionalisierten Politik angriff und vorgab, für den gemeinen Bürger zu sprechen, der über die Elite empört ist.
Ultrarechter Populismus
Kast gehört zwar nicht zur politischen Elite, aber er ist kein Neuling in der Politik. Sein Vater war Minister unter Pinochet und er selbst gehörte über viele Jahre der Union Demócrata Independiente (UDI) an, die von Jaime Guzmán gegründet wurde, dem wichtigsten Ideologen der Rechten und Autor der neoliberalen Verfassung von 1980. 2016 trat Kast mit einem großen Knall aus der UDI aus und gründete seine eigene Bewegung – die Republikanische Partei. In den Präsidentschaftswahlen 2017 erhielt er sieben, dieses Mal fast 28 Prozent. Es ist ihm gelungen, die traditionelle Rechte, die reichsten Schichten der Bevölkerung, die konservativsten evangelikalen Kreise und all die zu mobilisieren, die autoritären Lösungen zuneigen. So gewann er in zehn von sechzehn Regionen des Landes.
Im Norden Chiles gelang es ihm, besonders viele Stimmen mit einer anti-migrantischen Stimmungsmache zu gewinnen – genau dort, wo vor wenigen Wochen xenophobe Gewaltausbrüche gegen venezolanische Migrant*innen stattfanden, die weltweit Schlagzeilen machten. Hier bekam er enormen Zuspruch für den Vorschlag, einen Grenzgraben zu bauen, um Einwanderung zu verhindern. Im Süden des Landes betrieb er einen Antiterror-Diskurs genau in jenen Regionen, die das Epizentrum der Auseinandersetzung mit den Mapuche bilden und in denen ein hohes Maß an staatlicher Gewalt gegen die indigene Bewegung angewandt wird. In den Kleinstädten gelang es ihm, konservative Kreise zu mobilisieren, die Schwierigkeiten haben mit dem Fortschreiten einer emanzipatorischen Bewegung wie dem Feminismus und denen, die die Rechte der sexuellen Dissidenz verteidigen. Er hat also alle an seiner Seite, die die hetero-patriarchale Familie in ihren Werten bedroht sehen. Mit seinem Wahlsieg und der nun angekündigten Unterstützung durch andere rechte Parteien bleibt er ein Kandidat mit großen Chancen in der Stichwahl gegen Boric, wenn es ihm gelingt, die Stimmen von Parisi für sich zu gewinnen.
Boric – was tun?
Bis zum Aufstieg von Kast war Gabriel Boric der Kandidat der Stunde. Seit 2013 ist der 35jährige Abgeordneter des Parlaments, zuvor gehörte er der Studierendenbewegung an. Sein Programm schlägt strukturelle Transformationen vor, die im Mittelpunkt der Kämpfe des vergangenen Jahrzehnts standen: Reform des Rentensystems, kostenlose öffentliche Bildung, eine universelle Gesundheitsversicherung, die Deprivatisierung des Wassers, Verkürzung der Arbeitszeit etc. Er wird von unterschiedlichen Kräften der Linken unterstützt, darunter die traditionelle Kommunistische Partei und die Frente Amplio, die aus den Kämpfen der Studierenden hervorgegangen ist. Boric hat die Mehrheit in den Metropolen des Landes gewonnen, also in der Hauptstadt, in der die Hälfte der Einwohner*innen Chiles lebt, und in Valparaíso. Dort erhielt er auch viele Stimmen in den ärmeren Vierteln, was der übereilt vorgebrachten Behauptung widerspricht, Kast sei gerade von der ärmeren Bevölkerung gewählt worden. Fakt ist aber, dass Boric in den Regionen, die von Gewalt und wachsender Migration betroffen sind, keine Punkte machen konnte. Die Linke hat auf diese Fragen keine überzeugende Antwort. Die Gründe für den Aufstieg der Ultrarechten muss man in der Komplexität der sozialen Wirklichkeit suchen, die von einer schweren Wirtschaftskrise und einer sozialen Auslieferung gekennzeichnet ist, die der Neoliberalismus selbst schafft.
Jetzt spielen sich die zentralen Debatten darum ab, welchen Kurs Boric einschlagen soll, um in der zweiten Runde zu gewinnen. Die einen schlagen eine große Zusammenkunft im Kampf gegen einen heraufziehenden Faschismus vor, also einen Richtungswechsel in die Mitte. Ein großer Teil der Analyst*innen aus dem Establishment behaupten nun, dass der „Oktoberismus“ – so wird hier der rebellische Geist der Revolte genannt – tot sei, dass die Mehrheit der Bevölkerung keine sozialen Unruhen mehr wolle und Ordnung sowie Stabilität fordere. Diese Lesart ist trügerisch. Sicher ist es richtig, dass ein gewichtiger Teil der Bevölkerung mitten in einer Wirtschaftskrise und nach zwei Jahren politischer Instabilität in Ruhe leben möchte. Aber das sollte nicht damit verwechselt werden, dass man die Forderung nach grundlegenden Veränderungen, für die die chilenische Gesellschaft seit Jahrzehnten kämpft, aufgibt. Die Gründe für den Aufstand liegen weiter vor. Wer fordert, dass Apruebo Dignidad sein wenig radikales Programm abschwächen soll, versteht nicht, dass sich ohne solche Änderungen Krise und Instabilität nur weiter verschärfen werden. Übersehen wird auch, dass die Zeiten, in denen Mitte-Links hegemonial war, vorüber sind. Sie kamen bei diesen Wahlen auf ganze zwölf Prozent.
Wie die Nicht-Wähler*innen mobilisieren?
Es kann also nur einen Ausweg geben, um die Ultrarechte zu schlagen: Den Teil der Bevölkerung zu mobilisieren, der nicht zur Wahl gegangen ist. Also genau dort stärker zu werden, wo die Linke bereits Wahlerfolge zu verzeichnen hat. Deshalb muss sich das Programm der sozialen Nöte annehmen, die diese Bevölkerungsschichten haben und gleichzeitig eine Sprache dafür finden, wie mit dem illegalen Drogenhandel, der öffentlichen Ordnung und der Migration umgegangen werden soll. Es braucht eine Mobilisierung der heterogenen Kräfte, die die sozialen und politischen Kämpfe geführt haben und die sich nicht ohne weiteres in den existierenden linken Gruppen wiederfinden. Die feministischen Massenbewegungen spielen dabei eine herausragende Rolle. Man darf nicht vergessen, dass am 8. März 2020 circa drei Millionen Frauen auf den Straßen Chiles waren. Sie sind die Hauptakteurinnen in diesem Kampf, den sie bereits wieder autonom aufgenommen haben. Das gilt auch für alle, die sich um den Aufstand herum gruppiert haben. Sie sind die soziale Basis für Apruebo Dignidad und sie machen sich bereits mit vielfältigen Aktivitäten selbst auf den Weg, um einen Sieg der Ultrarechten zu verhindern.
Im zweiten Wahlgang, am 19. Dezember, steht der ganze politisch-demokratische Prozess auf dem Spiel, der durch den Aufstand eröffnet wurde. Auf dem Spiel steht ebenso die Konsolidierung eines heterogenen Blocks politischer und sozialer Kräfte, die als einzige einen sozialen Transformationsprozess gewährleisten können. Es wird keine Linke und keine Transformation geben, wenn es nicht gelingt, den popularen Protagonismus, also eine soziale und politische Praxis von unten, die über die traditionellen politischen Institutionen und Interessen hinausgeht, in den Mittelpunkt unserer Strategien zu stellen.