medico: Du bist kurz nach dem Ausbruch der Ebola-Epidemie für einige Zeit außer Landes gewesen. Wie waren deine Eindrücke nach der Rückkehr?
Abu Brima: Ich habe ein verändertes Sierra Leone vorgefunden. Die Menschen waren voller Furcht. Die aus medizinischer Sicht notwendige Tabuisierung von körperlicher Nähe hat zu einer Entfremdung geführt. Ich war zudem schockiert, wie die Kosten explodiert sind. Die Preise für Lebensmittel sind so hoch, dass immer mehr Menschen hungern. Ebola hat existenzielle Probleme geschaffen, die mit dem Ende der Epidemie nicht verschwinden werden. Gleichzeitig ist es aber auch großartig zu sehen, wie gut die Leute in der Lage waren und sind, auf die Gefahr zu reagieren und ihre Lebensweise zu verändern, um sich besser zu schützen.
Der kamerunische Politikwissenschaftler Achille Mbembe äußerte die Sorge, dass der Kontinent durch Ebola „eingesperrt“ wird: nach außen durch die Abschottung von Europa, im Inneren durch die Schließung der Grenzen zwischen den afrikanischen Staaten.
Diese Befürchtung hat sich leider bestätigt. Die internationale Gemeinschaft hat mit einer massiven Ausgrenzung reagiert. Wir wurden schlagartig vom Rest der Welt abgeschnitten. Die ehemaligen Kolonisatoren aus Großbritannien waren die ersten, die Flüge nach Westafrika gestrichen haben. Diese Form von Protektionismus kann zu Kapitalflucht führen, Handelsbeziehungen einfrieren und die Bewegungsfreiheit der Menschen einschränken.
Ich nehme auch wahr, dass rassistische Einstellungen zugenommen haben. Reisen zu Veranstaltungen im Ausland wurden abgesagt, in einigen Ländern wurden Flüchtlinge schikaniert. Die Ausgrenzung findet aber auch innerhalb Sierra Leones statt. Familien von Erkrankten werden aus ihren Häusern vertrieben, Überlebende werden stigmatisiert und von den eigenen Familien ausgeschlossen. So wenig Europa das Wohl der Bevölkerung im Blick hatte, so wenig hat die Regierung nach dem Ausbruch der Epidemie Fürsorge für die eigene Bevölkerung betrieben.
Stand die Gesundheitsfürsorge gar nicht auf der Agenda der Regierung?
Das größte Problem ist, dass sich die Länder nicht ausreichend um die Etablierung von Institutionen bemüht haben, die das Vertrauen der Bürger und Bürgerinnen in die Regierung und ihre Politik herstellen. In grundlegenden Lebensbereichen wie Arbeit, sozialer Sicherheit und natürlich auch Gesundheit ist der Staat nicht präsent. In der Ebola-Krise hat sich gezeigt, dass informelle Bewältigungsstrategien auch ein Ausdruck des Misstrauens sind.
Hat das mangelnde Vertrauen in die Regierung die Krise verschärft?
Absolut. Im Kampf gegen Ebola wurde eine Praxis deutlich, Entscheidungen von oben herunter durchdrücken zu wollen. Die Teams haben dadurch einen Weg in die Dörfer und zu den Haushalten gefunden, in denen das Virus grassierte. So wurden lokale Praktiken für Beerdigungen und Totenwaschungen verboten, aber keine würdigen Alternativen vorgeschlagen.
Wie konntet ihr euch als Menschenrechtsorganisation darin positionieren?
Das Problem geht weit über Ebola hinaus: Auch wenn Sierra Leone kein offen repressives Land ist, bleibt es für uns als Vertreter der Zivilgesellschaft schwer, öffentlich Kritik an der Regierung zu üben. In der Ebola-Epidemie machte es sich die Regierung einfach: Wir sind in einem Ausnahmezustand, wir haben keine Zeit für kritische Fragen, fertig. Die Tatsache, dass über 60 Prozent der Bevölkerung nicht lesen und schreiben können, verhindert die demokratische Teilhabe der Bevölkerung.
Welche langfristigen Folgen wird die Epidemie für das ohnehin schon schwache Gesundheitssystem haben?
Schon vor der Epidemie musste sich ein Mediziner im Durchschnitt um 30.000 Patienten kümmern. In den letzten Monaten sind unfassbare 200 Gesundheitsarbeiter der Epidemie zum Opfer gefallen. Der Mangel an Ärzten und medizinischem Personal hat sich also eklatant verschärft. Doch die Folgen gehen weit über das Gesundheitssystem hinaus.
Schulen und Universitäten wurden auf unbestimmte Zeit geschlossen. Viele Haushalte mit geringem Einkommen haben die Reserven, die sie für die Bildung ihrer Kinder zur Seite gelegt hatten, aufgebraucht. Viele Kinder sind zu Waisen geworden. Unter diesen Umständen muss die Regierung Entscheidungen treffen, um Ebola zu kontrollieren und gleichzeitig die wirtschaftliche und soziale Härte der Post-Ebola-Phase anzugehen.
Was muss auf internationaler Ebene geschehen?
Unsere Länder müssen in die Lage versetzt werden, sich selbst zu helfen. Ein konkreter Schritt wäre es, den Einfluss der internationalen Unternehmen zurückzudrängen. Deren Geschäftsgebaren wird von europäischen Regierungen zu wenig kontrolliert. Die Menschenrechtsperspektive spielt keine Rolle. Diese Wirtschaftspolitik führt zu Umweltverschmutzung, Vertreibungen und Enteignungen. Wir können und wollen nicht nur Rohstoffproduzenten bleiben.
Wenn wir unsere Rohstoffe nicht selbst weiterverarbeiten und daraus Mehrwert schaffen, bleiben wir abhängig. Und diese Abhängigkeit wollen wir überwinden. Es gibt Alternativen, aber dafür braucht es radikale Köpfe, Entscheidungen und Strategien. Und es ist unsere Verantwortung als Aktivistinnen und Aktivisten des Südens, hier die Führung zu übernehmen.
Wie müssen die nächsten Schritte aussehen?
Nach internationaler Soforthilfe brauchen wir einen Schul-denschnitt. Handelsvereinbarungen müssen fair sein, vor allem bei den natürlichen Ressourcen. Wesentliche staatliche Dienstleistungen müssen für alle zugänglich sein. Wir brauchen eine adäquate Finanzierung des Gesundheitssystems.
Nutzergebühren, die im Zuge der Strukturanpassungsmaßnahmen von IWF und Weltbank eingeführt wurden und die Millionen Menschen von der Gesundheitsversorgung ausschließen, müssen wegfallen. Alle politischen Strategien und Praktiken sollten einen auf Rechten basierenden Ansatz verwenden. Und wir müssen angstfrei kritische Fragen stellen können.
Das Interview führten Anne Jung und Julia Neufeind.