Mit der "Deklaration von Alma Ata" bekannten sich die Mitgliedsstaaten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im September 1978 zum Konzept der Primary Health Care (PHC). Gesundheit war nun nicht mehr nur eine medizinische, sondern eine Frage der Menschenrechte und damit der Gerechtigkeit, der Gleichheit und der Partizipation. Es ging und geht der Primary Health Care um den gleichen Zugang aller zu den Ressourcen von Gesundheit und um die gleiche Beteiligung aller an der Gestaltung des Gesundheitswesens. Im Widerspruch dazu droht Gesundheit heute zu einer Ware zu werden, die sich immer weniger Menschen leisten können.
Die medico-Debatte um Globalisierung und Gesundheit auf dem 13. Kongress "Armut und Gesundheit" (2007) in Berlin maß die aktuelle Weltgesundheitslage kritisch an den Maßstäben der Primary Health Care und fragte zugleich nach ihrer Geschichte – und nach ihrer Aktualität.
Panel 1:
Gesundheit als Menschenrecht - Zur Geschichte der Primary Health Care
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Rückblicke auf die Geschichte von PHC - Referate und Diskussion (1Std. 13Min.)
Eröffnet wurde die medico-Debatte mit einer kurzen Anmoderation durch die medico-Mitarbeiterin Anne Jung und Kumanan Rasanathan von der Weltgesundheitsorganisation (WHO).
Referat: Das Konzept der Primary Health Care im historischen Kontext
Thomas Seibert, medico international, Frankfurt/Main
Zur Eröffnung des ersten Panels führte Thomas Seibert in den historischen Kontext des Primary Health Care (PHC) Konzepts ein. Hierzu bezog er sich auf die Deklaration von Alma Ata, in der sich die WHO 1978 zum PHC-Ansatz bekannte und Gesundheit damit nicht mehr nur unter einem medizinischen Blickwinkel betracht wurde. Aspekte von Gerechtigkeit und Teilhabe wurden in den Anspruch nach einer sozialen Gesundheitsversorgung mit einbezogen. Dies zeige sich Seibert zufolge besonders in der Abschlusserklärung, in der Gesundheit im universellen Sinne als Menschenrecht und nicht nur als Abwesenheit von Krankheit definiert wurde. Seibert erwähnte mit den gesellschaftlichen Umgestaltungen, die auf die Proklamation der Volksrepublik China 1949 und die sandinistische Revolution 1979 folgten, zwei zentrale Ereignisse, die einen starken Einfluss auf die Konferenz von Alma Ata ausgeübt hatten.
Die Erfahrungswerte beider Länder wurden im weiteren Verlauf der Konferenz aufgenommen. Zuvor unterstrich Seibert, dass das Konzept der PHC von Seiten medico international als über den zentralen Aspekt der Basisgesundheitsversorgung hinausweisendes Konzept definiert wird. Perspektivisch müsse laut Seibert eine Entmonopolisierung des medizinischen Wissens erreicht werden. Eine Vorraussetzung dessen, sei es, alternative gesellschaftliche Konzepte zur kapitalistischen Globalisierung zu finden.
Audio: Das Konzept der Primary Health Care im historischen Kontext - Referat von Thomas Seibert (mp3, 17 Min., 8 MB) download
Referat: Das Beispiel der Volksrepublik China
Shaoguang Wang, Universitäten Hong Kong und Peking, China
Der Politikwissenschaftler Shaoguang Wang brachte die chinesischen Erfahrungen mit dem Konzept der PHC in die Konferenz ein. Wang wies darauf hin, dass das chinesische Programm einer PHC folgende vier Aspekte umfasse:
- Medizinische Programme sollten den Arbeitern, Bauern und Soldaten zugute kommen - Präventivmedizin sollte Vorrang von therapeutischen Maßnahmen haben - Traditionelle chinesische Medizin sollte mit westlicher Medizin kombiniert werden - Die Gesundheitsversorgung sollte über die Massenbewegungen die gesamte Gesellschaft erreichen
Wang teilte die Gesundheitspolitik des Landes in drei Phasen ein. In der ersten nachrevolutionäre Phase von 1949 bis 1979 wurden zahlreiche Verbesserungen erreicht. Der Staat propagierte das Konzept einer dezentralisierten, gering technisierten und kooperativen Medizin, die ihren Ausdruck in den Barfuss-Doktoren fand, die besonders auf dem Land das Rückrat der Basisgesundheitsprojekte darstellten. Im Zuge dieser Maßnahmen stieg die Lebenserwartung von 35 auf 68 Jahre. Auf diese Phase folgte mit den ökonomischen Reformen der 80er und 90er Jahre ein Paradigmenwechsel, in der sich der Staat seit 1978 nicht mehr in der Lage sah, das System der Gesundheitsversorgung komplett zu finanzieren. Die Folge sei laut Wang, dass viele Menschen heute durchschnittlich etwa 52% Prozent ihres Einkommens für die Gesundheitsversorgung ausgeben müssten und der Anteil an Nichtversicherten gestiegen sei. Auf diese Entwicklung habe der Staat seit Beginn dieses Jahrzehnts reagiert und in einer dritten Phase wurde wieder mehr Geld in die Gesundheitsversorgung investiert. So sei in den Städten die Basisgesundheitsversorgung für Angestellte verbessert worden und bis 2020 sollen alle Chinesen von dieser profitieren können. Wang zeigte sich aufgrund dieser Entwicklung zum Abschluss seines Vortrags optimistisch, dass der Staat dem Konzept der PHC wieder mehr Bedeutung einräumen werde.
Audio: Das Beispiel der Volksrepublik China - Referat von Shaoguang Wang (mp3 englisch, 18 Min., 8,4 MB) download
Referat: Das Beispiel Nicaragua
Walter Schütz, seit 1982 Leiter des Büros von medico international in Managua
Die nicaraguanischen Erfahrungen auf dem Gebiet der Basisgesundheitsversorgung führte anschließend der langjährig dort tätige medico-Vertreter Walter Schütz aus. Er verwies darauf, dass Gesundheit nach der sandinistischen Revolution als Befreiungspolitik gedacht wurde und man demzufolge zum Beispiel darauf verzichtete, ein Gesundheitsministerium einzurichten. Stattdessen sollte das Ziel einer verbesserten Gesundheitsversorgung eine alle gesellschaftlichen Bereiche umfassende Aufgabe werden. Dies bedeutete, dass das erste Gesundheitsprogramm von Kommissionen umgesetzt wurde, die aus den sandinistischen Massenorganisationen bestanden. Gesundheit wurde damit zum Treibriemen für gesellschaftliche Veränderungen.
Dieser Ansatz zeigte bereits frühzeitig Erfolge. So wies Schütz daraufhin, dass in den ersten drei Jahren eine Verdopplung der Gesundheitsstationen erreicht wurde und es zu einer Dezentralisierung und Umverteilung der Ressourcen in den ländlichen Raum kam. Bereits ab 1984 gab es laut Schütz keine Fälle mehr von Kinderlähmung und Diphtherie und auch Krankheiten wie Masern und Keuchhusten gingen zurück. Die Ärztezahl stieg innerhalb von zehn Jahren von 1000 auf 4000 an. Schütz erwähnte auch die Bedeutung von GesundheitsbrigadistInnen, die mit den Kommunen zusammen arbeiteten und als Multiplikatoren eine hohe Aufklärungsrate in den Bereichen Umwelthygiene und Erste Hilfe erwirkten.
Jenseits dieses positiven Szenarios machte Schütz jedoch auch deutlich, in welchem schwierigen Umfeld diese Entwicklungen stattfanden. Der Krieg von 1984 bis 1990 führte zu einer Vielzahl von Toten und traumatisierten Menschen. Er betonte zum Abschluss seines Vortrags, dass das Jahrzehnt der 80er Jahre eine Quantensprung für die Gesundheitsversorgung in Nicaragua darstellte.
Audio: Das Beispiel Nicaragua - Referat von Walter Schütz (mp3, 15 Min., 7,1 MB) download
Diskussion:
Kumanan Rasanathan von der WHO machte in Anschluss deutlich, dass alle drei Beispiele zeigten, dass Veränderungen nur durch Kämpfe, Mobilisierung und einen Druck von unten auf die Politik erreicht werden können. Dennoch weisen die Beispiele ebenso auf den Veränderungsdruck hin, dem PHC-Konzepte ausgesetzt seien. In der anschließenden Runde, bezog sich die erste Frage auf die Bedeutung der internationalen Solidarität für die Erfolge, die durch PHC erreicht wurden.
Schütz schrieb in seiner Antwort nicht nur den internationalen Brigaden eine wichtige Rolle für den nicaraguanischen Prozess zu, sondern auch der Unterstützung durch die WHO.
Wang richtete den Blick auf die aktuellen anstehenden Entscheidungen hinsichtlich des chinesischen Gesundheitssystems, bei denen die Weltbank (WB), der Internationale Währungsfond (IWF) und die WHO versuchen, Einfluss auf die Regierungsbehörden zu gewinnen. Dabei propagieren der IWF und die WB das Konkurrenzprinzip und ein privates Versicherungssystem, wohingegen verschiedene Think-Tanks eher zurück zum alten System der 60er und 70er Jahre wollen. In dieser Situation sei es laut Wang notwendig, dass internationale Erfahrungen auch durch die NGOs an die Regierungen kommuniziert werden und dass dieses Feld nicht der WB überlassen bleibe.
Die nächste Frage bezog sich auf den Komplex, was von den nicaraguanischen Errungenschaften bis heute geblieben sei.
Schütz wies daraufhin, dass man erfolgreiche soziale Prozesse ebenso wie soziale Bewegungen nicht ausknipsen könne. Entgegen der aktuellen neoliberalen Reformen würden viele Gesundheitsprojekte weiter betrieben werden und die Impfzahlen würden sogar steigen. Zwar propagieren die WB und der IWF, dass der Staat sich auf eine Normfunktion zurückziehen solle, aber das bedeute noch keine Exekution dieses Prinzips. Der staatliche Mittelbau funktioniere weiter und sichere die Basisprojekte. Auch die Ortega-Regierung habe erkannt, dass die medizinische Infrastruktur verkümmert ist und deshalb gäbe es wieder mehr finanzielle Mittel für PHC-Projekte.
Wang ging anschließend auf die Frage ein, welche Gründe für die von ihm geschilderte Rückbesinnung in den letzten Jahren in China verantwortlich seien.
Der Politikprofessor führte die 1994 vorgenommene Fiskalreform als Grund an, mit der mehr Geld in die öffentlichen Haushalte gespült wurde. Wang zufolge, habe die Regierung verstanden, dass wirtschaftliches Wachstum nicht automatisch zu einer besseren Gesundheitsversorgung führe, aber es habe auch Proteste gegeben, die Druck auf die Regierung aufgebaut haben.
Die nächste Frage bezog sich auf den Versicherungscharakter von Gesundheitsleistungen in Nicaragua. Schütz kritisierte, dass das Versicherungsprinzip den Gedanken einer Solidargemeinschaft schon lange verloren und sich zu einem monetaristischen Monstersystem entwickelt habe. In Nicaragua habe sich der darin implizierte Gedanke der Selbstverantwortung aufgrund der Armut nie wirklich entwickeln können. Es brauche ein einheitliches System der gesundheitlichen Grundversorgung für alle, da sich der Großteil der Bevölkerung aufgrund der Armut nicht selber versichern könne.
Audio: Diskussion (mp3, 22 Min., 10,4 MB) download
Panel 2:
"Aus der Krankheit eine Waffe machen" – Gesundheitsbewegung nach 1968
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Einblicke in die Gesundheitsbewegung - Referate und Diskussion (1Std. 17Min.)
Die ModeratorInnen Katja Maurer und Martin Glasenapp von medico nahmen die Bemerkung nach den nicht "ausknipsbaren" sozialen Bewegungen auf und stellten den Referenten die Frage, wie Ärzte zu einer Gesundheitsbewegung finden würden.
Referat: Patientenkollektive und Gesundheitsläden. Das waren die Siebziger.
Mathis Bromberger, stiftung medico international, Frankfurt/Main
Als erster beantwortete der Frankfurter Arzt und Mitglied der Stiftung medico international Mathis Bromberger die Frage. Für den deutschen Kontext arbeitete er heraus, wie Medizinstudenten 1968 sich mit der Verstrickung der vorherigen Ärztegeneration in den NS-Faschismus auseinandersetzten und die ungebrochenen Traditionslinien zwischen NS-Regime und Ärzteschaft kritisierten. Konfrontiert mit diesen Ärzten als Professoren und Vorgesetzten entwickelte sich ein politisches Bewusstsein und es entstanden eigenständige Organisationsstrukturen.
Die Themen der "68er Ärzte" reichten dabei von den Aktivitäten gegen den Abtreibungsparagraph 218 über den Aufbau von Drogenberatungsstellen und Anti-Psychiatrie Einrichtungen. Bromberger wies auf viele Erfolge hin, z.B. im Bereich der Reformierung der Psychiatrien, aber kritisierte gleichzeitig, dass andere erkämpfte Einrichtungen wie Gesundheitszentren ihre ursprüngliche Bestimmung verloren hätten und Medizin heute als Ware verkauften.
Audio: Patientenkollektive und Gesundheitsläden - Referat von Mathis Bromberger (mp3, 15 Min, 6,9 MB) download
Referat: Die Beatles, Bangladesh und Revolution No.1
Zafrullah Chowdhury, Gonoshasthaya Kendra, Bangladesh
Im Anschluss ging Zafrullah Chowdhury vom Gesundheitsprojekt Gonoshasthaya Kendra aus Bangladesh auf seine politische Geschichte ein. Für diese spielte besonders der weltweite Aufbruch Ende der sechziger Jahren eine große Rolle. Neben kulturellen Erscheinungen wie den Beatles fühlte sich Chowdhury besonders durch die weltpolitischen Entwicklungen und den Aufschwung der Klassenkämpfe in der Region beeindruckt. Nach seiner Ausbildung zum Chirurgen in England ging er in den siebziger Jahren nach Bangladesh zurück. Er wollte sich zwar der Guerilla im Kampf um die Unabhängigkeit von Pakistan anschließen, aber baute dann ein Krankenhaus auf. Statt zur Guerilla zu gehen, fingen viele Frauen damals an, in dem Krankenhaus eine Ausbildung zur Krankenschwester zu machen. Chowdhury verwies darauf, dass es gerade in einem muslimischen Land besonders wichtig ist, für die Ausbildung der Frauen Sorge zu tragen. Daneben ist sein Grundsatz, dass es den Armen besser gehen müsse, damit es dem Land besser gehe. Zwar sei der Sozialismus aus Chowdhurys Sicht bedauerlicherweise nicht erreicht wurden, aber sie haben wichtige kleine Erfolge gefeiert, wie z.B. mit dem Programm zur Produktion von lebenswichtigen Medikamenten von dem ein großer Teil der Bevölkerung profitieren würde.
Audio: Die Beatles, Bangladesh und Revolution No.1 - Referat von Zafrullah Chowdhury (mp3 englisch, 22 Min., 10,5 MB) download
Referat: Bewegung für Gesundheit oder Gesundheitsbewegung. Was ist zeitgemäßer?
Kayvan Bozorgmehr, Globalisation and Health Initiative GandHI, Frankfurt/Main
Kayvan Bozorgmehr ging im Anschluss auf die medizinische Ausbildung in Deutschland ein. Er kritisierte diese für ihre zu enge berufliche Ausrichtung und vermisste den Aspekt, Gesundheit als soziales Thema zu fassen. GandHi habe sich zur Aufgabe gemacht, hier Abhilfe zu schaffen und organisiere Workshops für Mediziner die ins Ausland gehen. Die Vielfalt der Themen reiche dabei von dem Konzept der PHC, globalen Gesundheitsfragen und Alternativen zum bestehenden Gesundheitssystem. Themen wie die WHO-Erklärung von Alma Ata sollten laut Bozorgmehr dringend in die medizinische Ausbildung aufgenommen werden.
Audio: Bewegung für Gesundheit oder Gesundheitsbewegung. Referat von Kayvan Bozorgmehr (mp3, 19 Min, 9,1 MB) download
Diskussion:
Die erste Nachfrage aus dem Publikum ging an Kayvan Bozorgmehr und bezog sich auf die Vorbereitungsseminare für Mediziner die ins Ausland gehen. Bozorgmehr betonte den allgemeinen Charakter der Seminare, der es leider nicht zuließe auf bestimmte Regionen oder regional spezifische Medizinformen einzugehen. Dagegen seien die Nachbereitungsseminare spezifischer und ausführlicher.
Kumanan Rasanathan stimmte Bromberger in seiner Wahrnehmung zu, dass die heutige Generation etwas unpolitisch sei, aber war sich nicht sicher darin, wen er verantwortlich für diesen Zustand machen könnte. Bromberger erwiderte, dass es die 68er in ihrer Opposition aufgrund der damaligen Weltlage leichter gehabt haben. Dennoch müssten auch heute gesellschaftliche Bedingungen stärker thematisiert werden, wie z.B. die Situationen in den Psychiatrien und Kliniken.
Zafrullah Chowdhury wies daraufhin, dass die Einstellungsveränderungen bei jungen Ärzten und Medizinstudenten dazu führten, dass diese nicht mehr mit armen Menschen in Kontakt kommen möchten. Gleichzeitig sei es mit der Privatisierung von Bildung heute schwieriger für arme Menschen, zu studieren und sich zu qualifizieren. Er schlug daher vor, dass angehende Mediziner erstmal als Pfleger arbeiten sollten, bevor sie mit dem Studium beginnen, um an die Menschen herangebracht zu werden.
Katja Maurer konstatierte zum Abschluss des Panels, dass sich der Beruf des Arztes wieder mehr zum Eliten-Beruf entwickle. Daher betrachte sie die Arbeit von GandHI, die gegen diese Bestrebungen gerichtet sei, als in der Kontinuität zur 68er Zeit stehend.
Audio: Diskussion (mp3, 16 Min, 7,7 MB) download
Panel 3:
Gesundheit ist keine Ware! Zur Aktualität der Primary Health Care
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Ausblicke auf PHC - Referate und Diskussion (1Std. 23Min.)
Im dritten Panel wurde das Augenmerk auf die Aktualität von Primary Health Care gelegt. Andreas Wulf von medico fragte nach den Veränderungen des PHC-Konzepts und stellte zur Diskussion, ob die Herangehensweise fast 30 Jahre nach der Konferenz von Alma Ata nicht überholt sei.
Referat: Primary Health Care im "Jahrtausend der Urbanisierung"?
Oliver Razum, Universität Bielefeld
Zu Beginn des Panels legte Oliver Razum von der Universität Bielefeld dar, warum seiner Meinung nach PHC überholt sei. Sein besonderes Augenmerk legte er dazu auf den Prozess der Urbanisierung, von der der Süden stärker betroffen sei als der Norden. Die frühere Annahme, dass Städte für die Bewohner gesünder seien, als ländliche Regionen habe sich ins Gegenteil verkehrt, wie es sich z.B. anhand von Durchfallerkrankungen zeigen ließe. Die Verbreitung eines westlichen Lebensstils bewirke komplexere Krankheiten, deren Vorbeugung schwierig sei. So sei Rauchen und damit verbundene Herz-Kreislaufkrankheiten zunehmend ein Problem in den Ländern des Südens. In diesen Bereichen versage PHC und erreiche laut Razum zwar die gesundheitsbewusste Mittelklasse, aber nicht die Armen. Zusammenfassend sagte er, dass komplizierte Krankheiten, die im Wachstum begriffen seien, durch PHC nur schlecht behandelt werden könnten.
Der Geschäftsführer von medico international Thomas Gebauer wandte an dieser Stelle ein, ob es nicht unter diesen Umständen angebracht sei, PHC wieder stärker als politisches Konzept zu begreifen. Razum stimmte ihm zu und verwies auf worldwatch, deren Forderungen unter anderem umfassen, dass die Armen über Konzepte der Partizipation einen stärkeren Anteil an den Entscheidungen über ihre urbanen Lebensbedingungen haben sollten.
Audio: Primary Health Care im "Jahrtausend der Urbanisierung"? Referat von Oliver Razum (mp3, 14 Min., 6,6 MB) download
Referat: Reorientating Health Systems Back Towards Equity: the Return to Primary Health Care
Kumanan Rasanathan, Public Health Advisor, WHO, Genf, Schweiz
Kumanan Rasanathan konstatierte eine Rückbesinnung auf die Prinzipien der Erklärung von Alma Ata. Seiner Meinung nach sei ein umfassender Begriff von Basisgesundheitsversorgung auch in einer urbanisierten Welt weiter relevant. Dies zeigten die immer wieder ausbrechenden Seuchen, wie auch die wachsende Anzahl von chronischen Krankheiten und die neuen Herausforderungen die durch Malaria und HIV entstanden sind.
Durch den World Health Report sei PHC wieder auf die Tagesordnung gesetzt wurden. Rasanathan wandte zwar ein, dass viele Staaten es nicht geschafft haben PHC zu implementieren, aber führte zugleich verschiedene Ansätze von Programmen der Familiengesundheit an, die in Russland und Brasilien eingeführt wurden. Auch auf seine eigene Organisation bezogen erklärte sich Rasanathan überzeugt, dass die WHO zum Konzept der PHC zurückkehren werde, da es das kostengünstigste und effizienteste Modell sei. Dieses Mal müssten die vorhandenen Potentiale und Möglichkeiten schneller genutzt werden, um nicht noch einmal Jahrzehnte auf die Durchsetzung der Vision einer globalen Basisgesundheitsversorgung warten zu müssen.
Andreas Wulf merkte an, dass das PHC in vielen Fällen als stark zersplittert erscheine, entsprechend einer Spaltung des Gesundheitssystems für Arme und für Reiche.
Rasanathan entgegnete, dass PHC gerade dort erfolgreich war, wo es für alle angewendet wurde. Diese zeige sich bei einem Blick auf die OECD-Länder, in denen die Gesundheitsindikatoren in den Ländern am besten seien, die PHC implementiert haben. Hinsichtlich der Implementierung forderte er dazu auf, den Staat nicht aus seiner Verantwortung zu entlassen, aber auch Basisbewegungen in die Ausgestaltung von Gesundheitssystemen mit einzubeziehen. Es müssen ein Zusammenkommen geben von topdown und bottomup Ansätzen.
Audio: Reorientating Health Systems Back Towards Equity Referat von Kumanan Rasanathan (mp3 englisch, 20 Min., 9,2 MB) download
Referat: Das Beispiel Bangladesh
Zafrullah Chowdhury, Gonoshasthaya Kendra, Bangladesh
Zafrullah Chowdhury ging in dem letzten Referat des Tages auf die Erfahrung mit PHC in alternden Gesellschaften ein. Die Lebenserwartung steige global an und es müssten Wege gefunden werden, um sich um die alten Menschen zu kümmern. Diese Aufgabe könne nicht bürokratischen Apparaten oder den Ärzten überlassen bleiben, sondern müsse auch von den Communities geleistet werden. Er plädierte vor dem Hintergrund steigender Kosten für medizinische Geräte dafür, sich mehr der Wissensvermittlung von einfacheren Methoden zu widmen, als bisher. Gleichzeitig sollte sich die Gesundheitsversorgung unabhängiger vom Stand der Ärzte machen und die zu bewältigenden Aufgaben stärker an junge Leute und an Heathworkers delegieren.
Chowdhury ging davon aus, dass Razum sich noch immer positiv auf das Konzept von PHC beziehe. Razum habe aber einen wichtigen Aspekt benannt. Es sei vor allem aufgrund der WHO-Politik nicht gelungen, dass PHC sich des Rufs entledigen konnte, eine "zweite Klasse"-Medizin zu sein. Das liege unter anderem daran, dass sich zu wenig auf die Patienten eingelassen werde und zu wenig Healthworkers vorhanden seien, die die Menschen besser als die Ärzte erreichen könnten.
Audio: Das Beispiel Bangladesh - Referat von Zafrullah Chowdhury (mp3 englisch, 12 Min, 5,5 MB) download
Diskussion:
Thomas Gebauer arbeitete aus den Statements zwei große Tendenzen heraus. Zum einen gäbe es die Zunahme einer globalen Gesundheitskatastrophe im Kontext der Urbanisierung und zum anderen findet eine Rückbesinnung auf PHC statt. Die Frage wie sich das miteinander verbinden ließe, gab er an die Referenten zurück.
Aus dem Publikum kamen weitere Fragen.
An Kumanan Rasanathan wurde die Frage gerichtet, ob die Ziele von Alma Ata nicht zu hoch gesteckt waren für viele Entwicklungsländer.
Rasanathan kritisierte, dass viele Staaten zu wenig Engagement gezeigt hätten, um die Ziele von Alma Ata zu erreichen. Die Kritik die sich heute gegen den PHC-Ansatz wende, beziehe sich auf eine Karikatur dieses Modells, aber nicht auf seine intendierte Form. In seiner ursprünglichen Form hält er den PHC-Ansatz noch immer für richtig, da die Bedürfnisse der Menschen ernst genommen wurden. Eine solche Herangehensweise erklärte er für vernünftig und nicht utopisch. Ein Trugschluss dem viele der unterzeichnenden Staaten von Alma Ata aufsaßen, war der Glaube, dass ein Wirtschaftswachstum auch zu einer besseren Gesundheitsversorgung führen würde. Dieser Umkehrschluss habe sich nicht bewahrheitet, daher sei es nötig, wieder mehr Energie für Gerechtigkeitsanstrengungen aufzubringen.
Zafrullah Chowdhury reagierte auf Razums Kritik. Gegen eine Verallgemeinerung der Urbanisierungsthese wandte er ein, dass in Bangladesh nur 15 Prozent der Menschen in urbanen Regionen leben würden. Auf die Frage aus dem Publikum nach der konkreten Umsetzung von PHC vor Ort erläuterte er, dass oftmals die Interessen der Pharmakonzerne einer Basisgesundheitsversorgung entgegenstehen würden. Diese Klasseninteressen hätten auch Eingang in die Regierungen und in die WHO gefunden und beeinflussten deren Berater.
Oliver Razum bezog sich zum Abschluss auf Rasanathans Anmerkung, dass sich die Kritik zumeist an einer Karikatur von PHC abarbeiten würde. Für die Forschung gäbe es keine andere Möglichkeit, als sich die vorhandenen, realen Versuche der Umsetzung anzuschauen und diese seien seiner Meinung nach in ihrer Ausgestaltung häufig nicht erfolgreich. Razum nannte in diesem Zusammenhang PHC-Projekte in der Türkei, die nur diejenigen erreichten, die am wenigsten darauf angewiesen wären.
Gebauer griff zum Abschluss den Begriff der Karikatur auf und verwies auf die kapitalistische Globalisierung die oftmals keine andere Form der Gesundheitsversorgung zulassen würde. Er verwies auf den bereits am Morgen angesprochenen Krieg in Nicaragua, der unter anderem geführt wurde, um ein gutes Beispiel für soziale Gesundheitsversorgung zu verunmöglichen. Dieser Zusammenhang dürfe nicht in Vergessenheit geraten. Anschließend lud er zu den Workshops am folgenden Tag ein.
Audio: Diskussion (mp3, 25 Min., 11,9 MB) download
Workshop:
Primary Health Care im 21. Jahrhundert: Gesundheit als Globales Öffentliches Gut - mit allen Referentinnen und Referenten und Beiträgen aus dem Publikum
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Weiter sehen - moderierte Talkshow (1Std. 23Min.)
Die medico-Mitarbeiter Thomas Seibert und Andreas Wulf fassten zu Beginn kurz die Themen des vorherigen Tages zusammen und formulierten drei Felder, die dem Workshop als Leitfragen vorangestellt wurden.
- Das erste Feld betraf den Charakter des Primary Health Care (PHC)-Konzepts, z.B. den Grundsatz einer Basisgesundheitsversorgung die auf sozialer Gleichheit basiere. Hier wurde die Frage aufgeworfen, inwiefern dieser Grundsatz noch immer gelte und wie sich PHC heute in verschiedenen Ländern ausgestalte.
- In enger Verbindung zu dieser Fragestellung stand das zweite Themenfeld, welches die Kritik aufnahm, dass sich PHC zu stark an ländlichen, funktionierenden Gesellschaftsstrukturen orientiere. Damit verbunden wurde die Frage formuliert, inwiefern PHC verändert werden müsse, um auch die prekarisierten, atomisierten Menschen in den urbanen Armutszonen zu erreichen.
- Das dritte Feld bezog sich auf den Druck der von der Privatisierung des Gesundheitswesens ausgeht. Hier wurde gefragt, wie das Projekt einer Basisgesundheitsversorgung auf diesen Trend reagieren könne.
Kumanan Rasanathan beantwortete die erste Frage nach dem heutigen Charakter von PHC mit dem Hinweis, dass die meisten reichen Länder PHC implementiert haben, da dies noch immer die beste und alternativlose Form einer egalitären Gesundheitsversorgung darstelle. Dies sei jedoch in den meisten Fällen nicht konfliktfrei geschehen, sondern habe den Druck durch soziale Bewegungen gebraucht. Skeptisch bezog sich der WHO-Mitarbeiter auf seine eigene Organisation und bezweifelte, dass die WHO im nächsten Jahr PHC zum Hauptschwerpunkt erklären werde. Diese Einschätzung wurde durch einen Teilnehmer bestätigt, der diesen Zustand jedoch begrüßte und dafür plädierte, dass die Länder des Südens mehr Eigenverantwortung für ihre Gesundheitsversorgung übernehmen sollten. Thomas Seibert gab die Frage nach dem politischen Willen, der für die Durchsetzung von PHC erforderlich sei, an Shaoguang Wang mit der Bitte weiter, die chinesische Situation zu beleuchten. Wang erklärte, dass PHC stark an die Existenz der Volkskommunen gebunden sei, die in China in Auflösung befinden würden. Diese Situation stelle den Staat vor eine große Herausforderung, weil damit eine PHC tragende Graswurzelbewegung nicht mehr existent sei.
Diese Problematik leitete zum zweiten Aspekt über, des Drucks auf PHC durch die Veränderung von Gesellschaftsstrukturen. In China habe sich gezeigt, dass das Konzept der Barfuss-Ärzte überdacht werden müsse, da es an bestimmte sozioökonomische Strukturen gebunden sei. Obwohl die Barfuss-Ärzte heute besser ausgebildet sind, gingen die Menschen aufgrund höherer Erwartungen eher ins Krankenhaus. Wang betrachtete die aktuellen Entwicklungen kritisch und führte an, dass eine Gesellschaft mit der Individualisierung der Menschen auch die Fähigkeit verlieren würde, auf Naturkatastrophen wie den Hurrikan Katrina kollektiv reagieren zu können. Zafrullah Chowdhury richtete den Blick nochmals auf den Aspekt der Ausbildung. Hier müsste mehr energischer auf die Vermittlung der PHC-Grundsätze und auf ein kollektives Verständnis von Gesundheitsarbeit, welches den Arzt entmystifiziere, hingewirkt werden.
Eine zentrale Kontroverse während des Workshops stellte das dritte Thema – Privatisierung – dar. Andreas Wulf führte aus, dass ein privatisiertes Gesundheitssystem trotz der Empfehlungen der WHO heute eine Tatsache sei und PHC zu einer Medizin für die Armen abqualifiziere. Daraus ergebe sich die Herausforderung, die Gesellschaftsteile, die von der Privatisierung profitieren in PHC zu reintegrieren. Ein Teilnehmer verwies in diesem Zusammenhang auf die Erfolge der Zapatisten in Mexiko. Diese haben es geschafft, über Gesundheitsprojekte auch diejenigen Bevölkerungsteile aus der Mittelschicht zu erreichen, die sich bislang nicht der indigenen Revolte angeschlossen haben. Die negative Beurteilung der Privatisierung brachte bei einem anderen Teilnehmer Widerspruch hervor. Er erhoffte sich die Förderung eines innovativen Unternehmertums in der Dritten Welt, da die Regierungen häufig über keine finanziellen Mittel verfügten oder das Geld in die falschen Hände gelange. Kayvan Bozorgmehr sah in dieser Option keine Lösung für die Probleme des Südens, da die Privatisierung zu einer Unterversorgung der Bevölkerung und einer Verknappung von medizinischen Mitteln führe. Dem wurde entgegengehalten, dass auch in den Ländern des Südens politische Richtlinien existierten, die eine privatisierte Gesundheitsversorgung regulieren könnten.
Walter Schütz forderte an dieser Stelle dazu auf, sich zu vergegenwärtigen, dass ein privatisiertes Gesundheitswesen Krankheit notwendigerweise produziere, um profitabel zu bleiben, während PHC den Anspruch habe, Krankheiten zu überwinden und vermeidbar zu machen.
In diesem Kontext wurde von einigen TeilnehmerInnen auch die Rolle der internationalen Institutionen thematisiert. Eine Teilnehmerin stellte die Frage, ob die Weltbank und der Internationale Währungsfond durch ihre Empfehlungen nicht die Stärkung des PHC-Ansatzes, wie ihn die WHO propagiert, konterkarieren würden.
Kumanan Rasanathan verwies darauf, dass die WHO zum PHC-Modell tendiere, aber sich auch für andere Konzepte stark machen würde. Zwar sei die WHO einflussreich und verfüge über ein Mandat durch die Vereinten Nationen, doch spielten heute andere Akteure wie die Bill Gates Stiftung oder die Weltbank eine ebenso wichtige Rolle für die globale Gesundheitspolitik. Es gäbe keine Alternative dazu, als von unten Druck aufzubauen, um eine Institution wie die WHO an ihre Aufgaben zu erinnern.
Diese Herangehensweise wurde von einem anderen Teilnehmer unterstützt, der darauf hinwies, dass die WHO kein Weltgesundheitsministerium, sondern eher ideeller Anstoßgeber sei. Von den anderen Institutionen könne man erwarten, dass die lokalen Gesundheitsstrukturen respektiert und die progressiven Ansätze nicht torpediert werden. Die jeweiligen Programme der verschiedenen Institutionen sollten individuell beurteilt werden.
Für die Abschlussrunde verlangte Thomas Seibert von jedem Referenten des Vortages ein kurzes Statement. Wang unterstrich, dass PHC vor dem Hintergrund der Existenz einer bestimmten sozioökonomischen Struktur und kollektiven Lebensweise ein kostengünstiges und effektives Modell der Gesundheitsversorgung armer Menschen sei. Rasanathan hob die Notwendigkeit eines kontextspezifischen Charakters der PHC hervor. Kayvan Bozorgmehr vertrat die Ansicht, dass der Marktmechanismus im Bereich der Gesundheit versage und der Staat daher seine Verantwortung wahrnehmen müsse. Walter Schütz spannte den Bogen zu den hiesigen Verhältnissen. Er betonte, dass das PHC-Prinzip kein ausschließliches Dritte-Welt Thema sei, sondern dass er vor dem Hintergrund einer Privatisierung des Gesundheitswesens ebenso ausreichenden Bedarf für eine soziale Gesundheitspolitik in Deutschland sähe.