Ist Mali ein Staat in Auflösung, ein kommender "failed State", und vollzieht sich tatsächlich die Teilung und damit die Gründung eines unabhängigen Tuareg-Staates Azawad? Droht im Sahel ein grenzüberschreitendes "Sahelistan" unter radikalreligiöser islamischer Vorherrschaft? Welche Rolle spielen EU-Grenzpolitik und der "Kampf gegen den Terror"? Und schließlich, wie beeinflusst die Situation die Arbeit der medico-Partner in der Region?
Seit einigen Monaten spitzen sich die Ereignisse in dem westafrikanischen Wüstenstaat Mali zu. Stichworte: ein Aufstand der Tuareg erschüttert das Land, dann folgte ein Militärputsch in der Hauptstadt Bamako, in Folge der Terror radikalreligiöser Milizen im Siedlungsgebiet der Tuareg und zusätzlich Hungersnot sowie die Flucht von Hunderttausenden. Bislang werden diese Geschehnisse in den westlichen Medien von den klischeehaften Bildern begleitet, die zum wiederholten Male ein typisches Afrikabild nachzeichnen sollen. Da wird die Sahelzone im SPIEGEL als "Gürtel der Gewalt" und "gesetzloser Riesenraum, in dem das Recht des Stärkeren gilt" tituliert, und während betrunkene Soldaten plündernd durch die Straßen von Bamako streunen, sind bis an die Zähne bewaffnete Tuareg-Kämpfer aus Libyen zurückgekehrt, um mit erbeutetem Kriegsgerät aus den Arsenalen der besiegten Gaddafi-Armee nun endlich den "eigenen Staat" durchzusetzen. Nicht oder nur kaum hörbar sind dagegen die Stimmen der malischen Zivilgesellschaft, die der Sichtweise vieler externer Beobachter eher widersprechen.
Kurzer Abriss einer komplizierten Gemengelage
Was bisher passierte, ist schnell notiert: Seit Januar 2012 kam es im Norden Malis zu Kämpfen. Die hier mehrheitlich lebenden Tuareg reklamieren für sich einen unabhängigen Staat. Auslöser für diesen erneuten Tuareg-Aufstand ist zum einen tatsächlich die Rückkehr von bewaffneten Kämpfern aus Libyen, wo sie teilweise mehrere Jahrzehnte in der Armee Gaddafis assoziiert waren. Zum anderen gibt es die Gründung der “Nationalen Bewegung für die Befreiung von Azawad” (Mouvement national de libération de l'Azawad, MNLA), die den Unabhängigkeitsambitionen politischen Auftrieb und den Tuareg einen bisher nicht gekannten Grad an organisatorischer Durchschlagskraft verlieh. Hinzukam die fehlende staatliche Präsenz in der nördlichen Wüstenregion, in deren touristischen Sehnsuchtsorten "am Rande der Welt", Tombouctou und Gao, eine von Algeriern geführte radikalreligiöse Miliz sich seit Jahren durch Entführung von Europäern und internationalen Drogenhandel ein enorm prosperierendes Geschäftmodell aufgebaut hatte. Dieser Zustand wurde sogar durch die gestürzte Regierung letztlich offen protegiert – senkte doch die malische Verwaltung gezielt im Norden die Brot- und Zuckerpreise um sich die Unterstützung der Bevölkerung zu erkaufen.
Zivilgesellschaftliche Solidarität mit Militärs
Diese politische Subvention der Destabilisierung des Nordens von Mali führte aber nicht zur Beruhigung der Situation, sondern ließ die Kämpfe kontinuierlich eskalieren. Als Reaktion darauf putschte schließlich am 22. März 2012 eine Gruppe junger Offiziere gegen den amtierenden Präsidenten, Amadou Toumani Touré. Es war ein Putsch, dem ein massiver öffentlicher Protest gegen die Regierungspolitik vorausging. Schon im Februar waren Frauen und Angehörige malischer Soldaten in einem Protestmarsch aus der Garnisonsstadt Kati nach Bamako gezogen, um bessere Ausrüstung und Munition für ihre kämpfenden Männer zu fordern. Auslöser waren die hohen Verluste, die die schlecht ausgerüsteten Regierungstruppen in Gefechten mit den Tuareg immer wieder verzeichnen mussten. Dieselbe Garnison in Kati war einen Monat später Ausgangspunkt für den Putsch, angeführt von dem Offizier Amadou Sanogo. Gegen die Unfähigkeit der Regierung die nördliche Unruheprovinz zu befrieden, protestieren die jungen Soldaten, die sich nach der Machtübernahme in einem "Nationalen Komitee für die Wiederbelebung der Demokratie und die Wiederherstellung des Staates" (Comité national pour le redressement de la démocratie et la restauration de l'Etat, CNRDRE) der Öffentlichkeit präsentierten, aber auch gegen den zutiefst korrupten Charakter der Regierung Amadou Tourés und den Verfall der politischen Klasse allgemein. Während die im Staatsfernsehen von wenig furchteinflößenden Soldaten verlesene Putscherklärung international als Angriff auf die malische Vorzeigedemokratie gewertet wurde, blieb in den internationalen Medien fast völlig unerwähnt, dass die Soldaten mit ihren Forderungen in der malischen Zivilgesellschaft durchaus auf breite Zustimmung trafen. Ist doch die Demokratie in Mali für viele nicht mehr als eine Fassade, hinter der sich in Wahrheit ein klientelistisches Geschäft der ökonomischen Bereicherung verbirgt und Politiker als käuflich und korrupt gelten. Die Solidarität mit der Kritik der Putschisten an dem herrschenden Politikbetrieb in Mali zeigte sich in der Gründung der Bewegung des 22. März, kurz MP-22, aus, die bereits am folgenden Tag ihre Unterstützung für die Soldaten mit einer Presseerklärung und einer Großdemonstration mit 25.000 TeilnehmerInnen ausdrückte.
Der neue Freistaat "Azawad"
Aber der Putsch hatte im Norden Malis einen weiteren Preis – durch die Unterbrechung der militärischen Kommandostruktur begünstigt, weiteten die Tuareg-Rebellen ihre Angriffe auf die Regierungstruppen aus und begannen offen in die Städte des Nordens einzudringen. Als letzte Stadt eroberten die Tuareg-Rebellen am 1. April 2012, unterstützt durch islamistische Kräfte der Gruppe Ansar Dine, die Oasenstadt Tombouctou. Fast gleichzeitig sah sich das CNRDRE gezwungen, aufgrund des Drucks externer Kräfte und insbesondere angesichts der drohenden Sanktionen durch die westafrikanische Wirtschaftsunion (ECOWAS), die Verfassung wieder in Kraft zu setzen. Am 6. April 2012 erklärte die MNLA dann die Stammesgebiete der Tuareg zum neuen unabhängigen Stadt "Azawad". Nach direkten Verhandlungen und einem weiteren Gipfeltreffen der ECOWAS-Staaten akzeptierten die Putschisten schließlich am 21. Mai 2012, dass der Wunschkandidat der ECOWAS, Dioncounda Traoré, als Übergangspräsident in den darauffolgenden 12 Monaten Neuwahlen organisieren soll. Der 70-jährige Mathematiker Dioncounda Traoré ist seit über zwanzig Jahren eine Figur des malischen Politikbetriebs und gilt als Paradebeispiel einer Generation von Politikern, die zwar 1991 Malis Mehrparteiensystem mit erkämpfte, in den Jahrzehnten danach aber in jeder Hinsicht scheiterte.
medico-Partner im Handgemenge
In Mali unterstützt medico international zwei Selbsthilfeorganisationen von ab- und rückgeschobenen MigrantInnen. Zum einen die "Association Malienne des Expulsés" (AME), zum anderen die "Association des Réfoulés d'Afrique Centrale au Mali" (ARACEM). Die AME ist eine seit 1996 bestehende Selbsthilfeorganisation von und für abgeschobene MigrantInnen in Bamako. Die Organisation kümmert sich vorrangig um Abgeschobene und Abgewiesene u.a. aus Europa, aus Afrika und dem Maghreb, die am Flughafen von Bamako, an der algerisch-malischen oder der mauretanisch-malischen Grenze ankommen. Sie leistet medizinische Ersthilfe, aber auch psychosoziale und juristische Beratung und arbeitet an bedarfsorientierten lokalen Netzwerken für Reintegration. Darüber hinaus leisten die Mitglieder der Organisation wichtige politische Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit, mit der sie in der Vergangenheit immer wieder politische Prozesse in ihrem Land beeinflussen konnten. Die ARACEM unterscheidet sich kaum in ihrer Arbeitsweise, dafür aber in Mitgliedern und Zielgruppe. Gegründet 2006 von abgewiesener MigrantInnen zumeist zentralafrikanischer (Kamerun, Congo Brazaville und DRC, Tschad, Zentralafrikanische Republik, Gabun) Herkunft, richtet ARACEM sich an (Trans-) MigrantInnen in Mali und befasst sich neben der materiellen Versorgung von gestrandeten MigrantInnen, ebenso mit dem Kampf für die eigene Anerkennung und gegen Xenophobie.
Beide Organisationen sind von der Situation im Land besonders betroffen. Mali ist ein Schlüsselland der Transsahara-Migration. Fast alle, die den Weg durch die Wüste wählten, passieren die großen Orte am Niger, Gao und Kidal – Städte im Norden Malis, die sich derzeit in der Hand der aufständigen Tuareg befinden. Auch wenn die Wüstenroute nur einer der Wege ist, den Kontinent zu verlassen, ist sie doch der Saumpfad für das "Proletariat" der MigrantInnen – für all diejenigen, die sich weder Bootspassage noch gar eines der wenigen begehrten Schengen-Visa – und sei es nur ein gefälschtes – leisten können. Die Sahelrouten der Migration sind – nicht erst seit, jedoch verstärkt durch die Umbrüche im Maghreb (Tunesien, aber vor allem Libyen) im Visier der EU – durch die aktuellen Kämpfe im Norden Malis zusätzlich versperrt. Laut Alassane Dicko, dem Beauftragten für Kommunikation beim medico-Partner AME, sind malische MigrantInnen wie auch eine große Zahl von TransmitgrantInnen aus den subsaharischen Ländern Afrikas in der umkämpften Wüstenzone nördlich von Kidal blockiert.
Schutzlose in der Wüste
Alle jene MigrantInnen, die in der Wüste zwischen die Kämpfe der malischen Armee und den Tuareg-Gruppen, und zunehmend auch verschiedener radikalreligiöser Milizen, geraten sind, können nicht in die besetzten Städte im Norden Malis zurück. "Diese Situation gefährdet die ohnehin Schutzlosen zusätzlich und macht die Betroffenen extrem verletzlich", so Alassane Dicko gegenüber medico. Insgesamt befinden sich nach Zahlen der humanitären UN-Agentur OCHA (Office for the Coordination of Humanitarian Affairs) derzeit bis zu 500.000 MalierInnen auf der Flucht, wobei die Unterscheidung zu TransmigrantInnen in einer Region, die historisch und kulturell immer von einer grenzüberschreitenden Migration geprägt war, vermutlich schwerfällt. OCHA spricht derzeit von 180.000 Binnenflüchtlingen im Süden Malis und 290.000 Flüchtlingen, die sich in den Nachbarländern, insbesondere in Mauretanien und in Burkina Faso in Camps sammeln. Hier berührt die Situation auch medico-Partnerorganisationen wie die mauretanische Menschenrechtsorganisation Association Mauritanienne des Droits de l’Homme (AMDH), die ebenfalls am Schutz der Rechte von MigrantInnen arbeiten, hat doch unter dem Vorwand des "Kampfes gegen den Terrorismus" die mauretanische Regierung bereits im Mai 2012 begonnen MigrantInnen aus dem subsaharischen Afrika ohne Rechtsgrundlage direkt abzuweisen. Nur aufgrund des öffentlichen Protestes des medico-Partners AMDH und anderer Initiativen der mauretanischen Zivilgesellschaft, konnte diese willkürliche staatliche Abweisungspolitik vorerst wieder gestoppt werden.
"Rebellen", "Putschisten" & "Terroristen" – Wer sind die Akteure in Mali?
Die Vielzahl der Akteure im malischen Konflikt macht es sinnvoll einen genaueren Blick auf die aktuellen Konfliktparteien zu werfen. Auch hier sind die Entwicklungen fließend und die genauen Interessen, bzw. wer mit wem tatsächlich kooperiert, nicht immer eindeutig auszumachen, da zudem die Informationslage widersprüchlich ist und manche Koalitionen eher Verschiebungen in diesem dynamischen Kräftefeld geschuldet scheinen.
Tuareg-Rebellen und radikalislamische Milizen
Eine zentrale Rolle kommt zunächst der MNLA zu – einem Zusammenschluss von Tuareg-Organisationen, die für die Gründung eines unabhängigen Tuareg-Staates kämpfen. Die genaue Zahl der Kämpfer, die die MNLA umfasst lässt sich schwer bestimmen. Zumeist ist die Rede von etwa 1.000 Bewaffneten (Le Monde Diplomatique), die sich zum einen aus rückkehrenden Kämpfern aus Libyen rekrutieren, zum anderen aus desertierten Tuareg aus der malischen Armee und Polizei. Die MNLA fordert die Unabhängigkeit der drei nördlichen Regionen Tombouctou, Gao und Kidal, die 800.000 Quadratkilometer beziehungsweise 65 Prozent des malischen Staatsgebiets umfassen. Bei ihrem Kampf werden die Aufständischen von verschiedenen islamistischen Gruppen unterstützt. Immer wieder fällt dabei der Name "Ansar Dine" (dt.: "Verteidigung des Islam"). Dabei handelt es sich um eine Gruppe, die als Verbündete von Al-Qaida im Islamischen Maghreb (AQIM) gehandelt wird. Anführer dieser Einheit, Iyad ag Ghali, war einer der Anführer der Tuareg-Rebellion Anfang der 1990er Jahre. Gleichzeitig diente er sich Mittler in verschiedenen Entführungsfällen, die von AQIM-Gruppen in den letzten Jahren durchgeführt wurden. Der britische Anthropologe Jeremy Keenan, dessen jüngstes Buch "The Dying Sahara: US Imperialism and Terror in Africa" (2012) die Hintergründe des aktuellen Sahel-Konflikts analysiert, ist mehr denn je davon überzeugt, dass Ansar Dine zu Anfang ein „Produkt“ des algerischen Geheimdienst war, dem Département du Renseignement et de la Sécurité (DRS), um in Absprache mit den USA im Sahel den "Terrorismus zu erzeugen", damit der algerische Sicherheitsapparat und seine Präsenz am Rande der Wüstenregion von der Größe Europas sich dadurch erst legitimiert und – als gewünschter Nebeneffekt – das US-amerikanische Waffenembargo gegen Algerien aufgehoben wird.
Die Verbindung zwischen MNLA und islamistischen Kräften gilt als gespannt. Während die MNLA den historischen Kampf für einen unabhängigen Tuaregstaat weiterführt, ließen Sprecher von Ansar Dine in den letzten Monaten immer wieder verlauten, dass sie die Sharia bis nach Bamako durchsetzen wollten. Angeblich bereisen ihre Kader nahezu ungehindert den Tschad, Algerien, Mauretanien und die nördlichen Provinzen von Nigeria. Die Milizen bauen so sukzessive ihr Einflussgebiet im Sahel aus, ihre Waffen und den Sold für ihre Kämpfer finanzieren sie nicht nur durch die Entführungen von Europäern, sondern auch durch Transportsicherung südamerikanischer Kokain-Exporteure durch die Wüste zum Mittelmeer. Letzteres wird zumindest immer wieder von Geheimdiensten behauptet (etwa Marokko), wobei es aber keine Bestätigung durch unabhängige Quellen gibt.
Ein starkes Anzeichen für die Spannungen zwischen den Tuareg-Rebellen und radikalreligiösen Milizen war das Ultimatum, das MNLA der Ansar Dine-Gruppe zeitgleich mit der Unabhängigkeitserklärung des Tuareg-Staates "Azawad" im April 2012 stellte, Tombouctou wieder frei zu geben und den Tuareg zu überlassen. An der Besetzung der Stadt der "333 Heiligen" mit ihren Schreins und Mausoleen aus dem 15. Jahrhundert waren auch Kämpfer der Ansar Dine beteiligt. Ende Juni 2012 zerstörten Mitglieder von Ansar Dine unter anderem das Mausoleum des sufistischen Heiligen Sidi Mahmud welches zum UNESCO-Welterbe gehörte. Inzwischen wurden der Alkoholausschank verboten und zahlreiche Straßenbars und auch Kirchen in Brand gesetzt. Dennoch verwahrte sich die MNLA gegen die Gleichsetzung mit den radikalreligiösen Milizen: "Die Aktionen der AQIM sind eine Schande für das Land und dauern nur wegen der Unfähigkeit der Regierung in Bamako noch an. Wir sagen der internationalen Gemeinschaft: Gebt uns die Unabhängigkeit, und die AQIM in Mali ist am Ende". Mittlerweile ließen MNLA und Ansar Dine verlauten, dass sie sich in Verhandlungen darauf geeinigt hätten ihren Feldzug nicht Richtung Süden fortzusetzen und Azawad zu einem Staat des gemäßigten Islam zu machen, so wie er in der Region bereits seit Jahrhunderten praktiziert wird.
Progressive "Putschisten"?
Auf der anderen Seite finden sich die Putschisten um ihren Anführer Amadou Sanogo. Sie verstehen sich als die Verteidiger der malischen Einheit und Demokratie, die sie durch das politische Nicht-Handeln von Ex-Präsident Amadou Toumani Touré in Gefahr sahen. Unterstützt wurden sie von einer breiten Bewegung, kurz MP-22. In einem Unterstützerschreiben für die Putschisten und die zivile Bewegung erklärt der malische Schriftsteller Tahirou Bah den Hintergrund für diese Vorwürfe. Amadou Toumani Touré sei nicht der Held der Revolution gegen den Militärdiktator General Moussa Traoré als der er immer inszeniert werde. Vielmehr habe er sich mit Unterstützung des reaktionären Flügels der Armee den "Aufstand des Volkes" von 1991 angeeignet, um dieser Bewegung ein Ende zu bereiten. In den darauffolgenden Jahren, bis zu seiner Wahl zum Präsidenten 2002, habe sich eine korrupte politische Klasse etablieren können, die bis heute von einer Pfründewirtschaft profitiere. Hinzu kommt der Vorwurf, dass der gestürzte Präsident den Aufstand der Tuareg selbst angefacht habe, um die regulären Wahlen Ende März auszusetzen, bei denen er nicht mehr hätte kandidieren dürfen, um so weiter regieren zu können. Dieser Vorwurf geht einher mit Ressentiments gegen die Tuareg-Bevölkerung des Nordens, die angeblich durch Amadou Tourés Politik bevorzugt wurde. Doch lassen sich in der Zivilgesellschaft auch andere Stimmen wahrnehmen. Die Stimmen derjenigen, die an Touré festhalten und die der geflüchteten Tuareg-Zivilbevölkerung. Bereits im März 2012 berichtete Alassane Diko (AME) medico in einem Gespräch, dass sich in den Flüchtlingscamps der Tuareg-Bevölkerung insbesondere in Mauretanien eine starke Unterstützung für die Rebellen spüren lasse. Anstatt um reine Flucht nur aus Angst, handele es sich auch um eine Art des Raumlassens, damit die militanten Flügel der Tuareg die Situation endgültig und definitiv klärten. Die Krise des Vertrauens in die Versprechungen der Zentralregierung sei so tief, so der medico-Partner, dass selbst ein Ausharren in den Camps für mehrere Jahre in Betracht gezogen werde, um den Konflikt ein für alle mal zu entscheiden.
ECOWAS und der Westen
Weitere Akteure sind insbesondere die westlichen Staaten und Staatenorganisationen, wie Frankreich, USA und die EU, oder aber die westafrikanische Wirtschaftsunion ECOWAS. Hier fällt zunächst auf, dass eigentlich keiner der externen Akteure die Regierung des gewählten Präsidenten wieder einsetzen wollte. Das Verhältnis der alten malischen Regierung zu Frankreich war durch das Scheitern eines bilateralen Rücknahmeabkommens für abgeschobene MigrantInnen schon länger getrübt. Zudem lässt sich aus französischer Perspektive ein immer stärkerer Verlust der kolonialen Einflussgebiete befürchten. Andererseits konnte durch den Druck der Zivilgesellschaft die Errichtung einer US-amerikanischen Militärbasis im Norden des Landes verhindert werden, wo die USA, aber auch u.a. die Bundeswehr seit Jahren im "Antiterrorkampf" engagiert sind. Was kaum erwähnt wird, aber die externen Interessen vielleicht zusätzlich aufscheinen lässt, ist der Umstand, dass der Anführer des Putsches Amadou Sanogo Mitglied einer US-amerikanischen "Antiterroreinheit" war und zu diesem Zweck in den USA trainiert wurde. Dies könnte auch auf einen Einflussgewinn der USA zum Nachteil der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich deuten, die das subsaharische Westafrika traditionell als ihren "Hinterhof" betrachtet.
Das postkoloniale Erbe des Zentralstaates
Der Konflikt um die Selbstbestimmung der Tuareg geht bereits auf die koloniale Grenzziehung zurück. Bis zur Etablierung der mit dem Lineal gezogenen Grenzlinien war die Sahara für die Tuareg ein Handelsraum, den sie durch ihre angepasste nomadische Lebensweise besiedelten und frei durchquerten. Durch die kolonialen Grenzen und deren Bestätigung durch die Unabhängigkeit der westafrikanischen Staaten wurde das Gebiet, in dem die Tuareg traditionell umherziehen, zwischen fünf Staaten aufgeteilt: Algerien, Libyen, Niger, Mali und Burkina Faso. Einige junge Nationalstaaten versuchten darauf die Tuareg durch Ansiedlung und Anwerbung in die staatlichen Apparate wie das Militär zu integrieren. Die ersten Unabhängigkeitsverhandlungen der malischen Tuareg fanden bereits 1957 mit der französischen Kolonialregierung statt, gefolgt von einem ersten bedeutsamen Aufstand gegen die Zentralregierung Anfang der 1960er Jahre. Die wohl wichtigste jüngste Tuareg-Rebellion fand unter der Militärdiktatur von General Moussa Traoré statt. Nach dem Putsch gegen Traoré trat die neue demokratisch gewählte Regierung in Verhandlungen mit den Tuareg ein, die trotz immer wiederkehrenden örtlichen Aufständen in den folgenden Jahren zu einer Integration von malischen Tuareg in Institutionen der Zentralregierung führten. Die Rebellen kritisieren heute allerdings, dass sich an der Situation der Bevölkerung von Malis Norden kaum etwas verändert habe.
Die Ressourcen des Landes sind knapp und werden privatisiert, zudem hat die Regierung versprochene Investitionen in die Infrastruktur nicht getätigt, was letztlich zu der Vertrauenskrise, oder "Krise der Repräsentation" geführt hat, die sicherlich auch Auslöser für den erneuten Aufstand war. Hinzu kommt aber auch ein latent ethnischer Konflikt zwischen zumeist hellhäutigen "Weißen" (den berberischen Tuareg und Tamashek) des Sahel und den "Schwarzen" als politisch führenden Bevölkerungsgruppen (den Songhai und Fulbe, die zur Zeit der Pharaonen aus dem Niltal einwanderten, sowie den Bambara und Malinke). Aber auch auf der anderen Seite lassen die Deklarationen der Unterstützerbewegung für den Putsch klare Ressentiments gegen die Tuareg erkennen, was insbesondere in den Behauptungen deutlich wird, Amadou Toumani Touré habe die Tuareg bevorzugt behandelt. Immer wieder wird vom vermeintlichen Empfang von aus Libyen zurückgekehrten Tuareg-Kämpfern im Präsidentenpalast geredet. Den Tuareg-Familien sei eine Unterstützung versprochen worden, während rückkehrende malische ArbeitsmigratInnen leer ausgingen. Hinzukommt der alte Verdacht, dass die ehemalige Kolonialmacht Frankreich schon zu Zeiten der Unabhängigkeit Malis einen Tuareg-Staat als Einflusszone zur strategischen Schwächung und Kontrolle der postkolonialen afrikanischen Zentralstaatsidee implementieren wollte.
Rückwirkung des Libyenkrieges
Von den etwa tausend Milizionären der MLNA sind etwa 300 ehemalige Soldaten des getöteten libyschen Herrschers Muammar al-Gaddafi. Das erst durch einen NATO-Luftkrieg ermöglichte blutige Ende des Gaddafi-Regimes, kann auch als Katalysator für die Tuareg-Revolte und die zusätzliche Militärisierung des Sahel gelten. Gaddafi hatte die Tuareg langjährig unterstützt und sich selbst als "König des Sahel" verstanden, über Jahrzehnte hinweg rekrutierte er Tuareg-Kämpfer für seine Truppen. Mit Gaddafis Tod verloren die "blauen Männer" – die Tuareg tragen traditionell mit Indigo gefärbte Gewänder – zwar zahlreiche Privilegien in Libyen, konnten sich aber auch durch die freigesetzten Waffen so gut ausrüsten, dass sie der schlecht bewaffneten malischen Armee auch militärisch überlegen waren. Hinzukommt das Interesse der EU die Mobilitätskontrollen nicht nur an der Mittelmeerküste der Maghrebstaaten, sondern auch bis in den Sahel ausweiten zu wollen, was die ohnehin geringen Einnahmequellen der Tuareg über den grenzüberschreitenden Handel/Schmuggel durch verstärkte Militär- und Polizeipräsenz sowie dichtere Kontrollen in den Grenzregionen zunehmend einschränken würde; auch das eine Tendenz, die die Forderung nach einem eigenen Staat noch dringender werden ließ.
Die südmalische Regierung steht diesem Zerfall des Zentralstaates derzeit mehr oder weniger ohnmächtig gegenüber und die Zeit scheint für die Tuareg bzw. für die radikalreligiösen Milizen zu arbeiten. Letztere haben in den von ihnen beherrschten Städten eine religiös verbrämte Schreckensherrschaft errichtet. Im Internet sind mit Mobiltelefonen aufgenommene Videos zu finden, in denen unverheiratete Paare mit Kindern öffentlich ausgepeitscht und gar gesteinigt werden. Es wird von zahlreichen Vergewaltigungen von Frauen und sehr jungen Mädchen berichtet.
Düstere Aussichten im Sahel
Am 21. August 2012 stellte Malis Interimspräsident Dioncounda Traoré ein neues Kabinett der nationalen Einheit vor – unter Ausschluss der radikalreligiösen Milizen aus dem Norden. Die Regierungsbildung erfolgte nach einer längeren Phase des wachsenden Drucks der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) auf die malische Führung, aber auch aufgrund des wachsenden Unmuts in der Bevölkerung über die eklatante Handlungsunfähigkeit der politischen Klasse. So hatten nur eine Woche zuvor 50.000 MalierInnen auf einer Kundgebung im Fußballstadion von Bamako das Ende der politischen Krise und die Wiederherstellung der konstitutionellen Ordnung gefordert. Die geschäftsführende Regierung wird weiter von Premierminister Cheick Modibo Diarra, dem ehemaligen Präsidenten von Microsoft Africa, geleitet. Im Kabinett sind zudem Minister, die als Vertrauensleute des Putschanführers Sanogo gelten. Der Führer der Ansar-Dine-Milizen, Iyad Ag Ghali, hatte seinerseits in mehrfachen Gesprächen mit Gesandten des ECOWAS-Unterhändlers, dem burkinischen Außenminister Djibril Bassolé, verdeutlicht, dass die Ansar Dine die territoriale Integrität Malis respektiert. Die inzwischen vor Ort verdrängte Azawad-Befreiungsfront fordert weiterhin einen eigenen Tuareg-Staat, lehnt aber die Einführung der Sharia und die "Talibanisierung" der Region durch die Ansar Dine ab.
Die ECOWAS-Kontaktgruppe bereitet ihrerseits eine Entsendung von bis zu 3.000 Soldaten in den Norden Malis vor, wobei noch immer mit der malischen Regierung keine Einigung über das konkrete Mandat und den Auftrag vereinbart werden konnte. Sowohl Bevölkerung wie Politiker stehen in Mali einer ausländischen Intervention, auch wenn sie vornehmlich aus Nachbarstaaten bestritten werden sollte, traditionell eher ablehnend gegenüber, zudem die ECOWAS-Gruppe auch als ein politisches Instrument gilt, deren Vertreter als mehrheitlich noch immer der alten Kolonialmacht Frankreich hörig gelten. So forderte am 18. August 2012 auf einem ECOWAS-Treffen der Generalstabschef der malischen Armee, Oberst Ibrahima Dembele, dass die ECOWAS-Einheiten zwar malische Soldaten ausbilden könnten und logistisches Material bereitstellen sollten, dass die "Befreiung des Nordens" und die "Sicherung der Institutionen Malis" allein Angelegenheit der malischen Streitkräfte sein dürfe. Die malische Armee selbst gilt aber als schwach und extrem schlecht ausgerüstet und auch die seit zwei Jahren bestehende Kooperation in einem "operationellen Generalstab" (Cemoc) zwischen Algerien, Mali, Niger und Mauretanien führte zu keinem sichtbaren Ergebnis. Für Mauretanien als "Randstaat" des Sahel, der eng mit den Ausbildern des französischen Oberkommandos für Sondereinsätze (Commandement des opérations spéciales, COS) zusammenarbeitet, steht die eigene Sicherheit ohnehin an erster Stelle.
Die Gefahr kommender Interventionen
Die USA hat im Zuge ihres "Global War On Terror" die Sahel-Staaten Mauretanien, Mali, Niger und Tschad in ihre Trans-Sahara Counterterrorism Initiative (TSCTI) eingebunden, hinter der aber nicht nur der Kampf gegen AQMI und andere radikalreligiöse Milizen vermutet wird, sondern auch die Sicherung der Bodenschätze der Region, und hier besonders die neuen Ölfunde im Sahel. Auch die alte Kolonialmacht Frankreich drängt auf eine Lösung der Krise in Mali. Am 12. Juli 2012 hatte durch die Pariser Zeitung Le Figaro Außenminister Laurent Fabius bereits vermelden lassen, dass "früher oder später die Anwendung von militärischer Gewalt wahrscheinlich" sei – wobei Frankreich aus "offensichtlichen Gründen" keinerlei Militärmission anführen könne. Bei diesem französischen Engagement geht es aber nur vordergründig um die Wiederherstellung der demokratischen Fassade und Integrität in Mali. So lud der neue Staatspräsident François Hollande kurz nach seiner Amtsübernahme sofort seinen Amtskollegen im Niger, Staatspräsident Mahamadou Issoufou, nach Paris ein, um mit ihm über die Krise im Sahel zu beraten. Hollande bot dem Niger Infrastrukturprojekte an, wie den Ausbau der Straßen, einen Staudamm und die Modernisierung der maroden Staatsbahn. Im Gegenzug soll die Uranmine in Imouraren, die zweitgrößte Uranmine der Welt unter freiem Himmel, innerhalb der nächsten zwei Jahre der Verwaltung des französischen Atomkonzerns AREVA unterstellt werden. Die Minen im Niger, deren Abbaumethoden äußerst gesundheitsschädlich sind und die Umwelt verseuchen, sind nicht nur für das französische Atomprogramm unentbehrlich, sie sichern auch die atomare "Force de frappe". Frankreichs Albtraum ist ein im Sahel umhermäandernder langjähriger Krieg niederer Intensität, dessen Akteure nicht nur die bestehenden Staaten erodieren lassen, sondern möglicherweise auch in den Besitz strategischer Güter und Rohstoffe kommen könnten. Hinter der bewusst verbreiteten allgemeinen Panik im Westen über die Ausbreitung von Al Qaida im Norden Malis versteckt sich daher möglicherweise die gefährliche Legitimation für einen vollkommenen Verlust der Souveränität durch eine folgende externe Militärintervention. Ernstzunehmende Hinweise auf eine erneute Bewaffnung und militärisch-strategische Ausbildung von Tuareg durch die USA und Frankreich in Mauretanien verweisen zudem auf eine ähnliche Strategie der externen Einflussnahme durch die Stärkung zweifelhafter und heterogener Widerstandsgruppen mit unabsehbaren Folgen, wie im Falle Libyens und Syriens aktuell zu verfolgen ist. Man kann nur hoffen, dass Ousmane Diarra, Präsident des medico-Partners AME, mit seiner Prognose nicht Recht behält, dass die NATO-Intervention in Libyen weiteren Interventionen auf dem Kontinent Tür und Tor geöffnet habe.