Schon der erste Lockdown im Frühjahr 2020 hat die globalen Herstellungs- und Lieferketten zerrissen und die Hyperproduktion des Weltmarkts zum Stillstand gebracht. Verlierer:innen blieben die Arbeiter:innen im Sockelgeschoss der Globalisierung. So stornierten die weltumspannenden Handelskonzerne binnen weniger Tage ihre Aufträge an die Textilfabriken Südasiens und stießen Millionen Arbeiter:innen samt ihrer Familien in bittere Armut. Zwar hat, wer einen Textiljob findet, im Millionenheer der megastädtischen Armut den Hauptgewinn gezogen. Doch hängt der Absturz ins soziale Nichts, in Obdachlosigkeit und Hunger buchstäblich an einem Fingerschnippen. Dass Menschen, deren mühselig aufgebautes Leben derart rücksichtslos über den Haufen gerannt wird, das Coronavirus nicht zur ersten ihrer Sorgen machen können, liegt auf der Hand: Wer sowieso kein Zuhause und jetzt auch nichts zu essen hat, der hat für die Gefahr, nicht an dieser (Cholera, Typhus, Tuberkulose), sondern an jener (Covid-19) Krankheit leiden zu müssen, schlicht keine Tränen übrig. Mit der Schließung ihrer Fabriken mussten sich die Ex-Arbeiter:innen durch die Straßen ihrer Millionenstädte treiben, um nach etwas Essbaren, mit Glück nach einem Tagelöhner:innenjob zu suchen. Maskenpflicht, Abstandsregeln, leave no one behind? What the fuck!
In dieser Lage widmeten die pakistanische National Trade Union Federation (NTUF) und die bangladeschische National Garment Workers Federation (NGWF), medicos lokale Partnerorganisationen, der Gewerkschaftsarbeit zugedachte Gelder zur Lebensmittelverteilung um. Mit dem Ende des Frühjahrs-Lockdowns 2020 bekamen längst nicht alle Entlassenen ihren Job zurück, viele Fabriken blieben geschlossen. Dabei steht die Rückkehr zu einer insgesamt schlechteren Normalität unter den himmelschreienden Bedingungen der globalen Impfstoffungerechtigkeit: Während die europäischen Käufer:innen südasiatischer Textilien auf baldige Impfung hoffen dürfen, sieht die Lage in Pakistan und Bangladesch deutlich düsterer aus. Verbindliche Zusagen zur Versorgung mit Impfstoff gibt es nicht.
Hätte, hätte, Lieferkette
Damit sind wir beim hochumstrittenen Lieferkettengesetz, das nach seiner Verabschiedung im Bundestag ab 2023 gelten soll. Nahm sich der erste Entwurf des Gesetzes noch vor, „den Schutz der international anerkannten Menschenrechte und der Umwelt in globalen Wertschöpfungsketten sicherzustellen“, heißt es jetzt unverbindlich: „Ein Lieferketten-Gesetz soll in Deutschland ansässige Unternehmen künftig dazu verpflichten, ihrer Verantwortung in den Liefer- und Wertschöpfungsketten nachzukommen.“ Verpflichtete der erste Entwurf alle Unternehmen ab 250 Beschäftigten auf die Sicherstellung des Schutzes der Menschenrechte und der Umwelt, gilt das jetzt nur für Unternehmen mit mindestens 3.000, ab 2024 auch für solche mit mehr als 1.000 Mitarbeiter:innen. Bei weniger Personal, geht die Firma straffrei aus. „Straffrei“ ist das richtige Wort. Denn während die Verpflichtung aufs Menschenrecht im ersten Entwurf konsequent für „den gesamten Lebenszyklus eines Produktes oder einer Dienstleistung umfassenden Wertschöpfung“ gelten sollte, geht es jetzt nur noch um „den eigenen Geschäftsbereich“ und die ersten Zulieferer. Für die dahinterliegende Lieferkette gilt dann nur noch, dass etwaige Menschenrechtsverletzungen in einer „Risikoanalyse“ geprüft werden müssen, wenn Beschwerden aus dem zweiten, fünften oder achten Glied der Kette das deutsche Unternehmen erreichen.
Trotz dieser Aufweichungen soll das noch nicht durchgekämpfte Gesetz noch immer sicherstellen, dass die universellen Menschen- und Arbeitsrechte in globalen Produktionen deutschen Auftrags nicht länger wie heute vielerorts grob verletzt werden. Verstöße können dann nicht nur öffentlich kritisiert, sondern vor deutschen Gerichten zur Klage gebracht werden. Verurteilten Unternehmen drohen tatsächlich Bußgelder. Politisch zählen dabei zwei Dinge: Zum einen ist klar, dass dieses Gesetz gesellschaftlich mit Mehrheit gewollt wird – ein politischer Erfolg, auch durch Kampagnen wie jene zu den verheerenden Textilfabrik-Katastrophen, dem Brand bei Ali Enterprises in Pakistan 2012 und dem Einsturz der Fabrik Rana Plaza in Bangladesch im Jahr darauf. Zum Zweiten haben Studien der Bundesregierung öffentlich erwiesen, dass nur eine verschwindende Minderheit deutscher Unternehmen ihrer menschen- und arbeitsrechtlichen „Sorgfaltspflicht“ nachkommt. Das Resultat ist so eindeutig, dass es nicht ignoriert werden konnte.
Neuer Typus antikapitalistischer Kämpfe
Wie das deutsche Sorgfaltspflichtgesetz werden auch seine europäische Entsprechung und der in den UN angestrebte „Binding Treaty “ unzureichend sein. In allen drei Fällen geht es zunächst nur um schlechte Kompromisse, die hinter dem zurückbleiben, was nötig wäre. Wenn Gesetz und Vertrag dennoch zu Erfolgen werden können, liegt das in der Veränderung der Kämpfe gegen das Elend: Kapitalistische Globalisierung im Prinzip unters Menschenrecht zu stellen, wird heißen, einen als partikularen (Arbeits-)Kampf historisch verlorenen Kampf perspektivisch zu einem im vollen Sinn des Wortes universellen Kampf um die Form und die Sache selbst der Globalisierung zu machen. Damit beginnt ein antikapitalistischer Kampf neuen Typs. Bewähren wird er sich mit den Subjekten, die ihn führen und mit denen, an die er appelliert. Wird der Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung als Menschenrechtskampf geführt, ist er nicht mehr nur ein Klassenkampf und schon gar kein Arbeitskampf mehr. Er wird sein Zentrum nicht mehr in den Fabriken haben, sondern entlang der ganzen Herstellungs- und Lieferketten geführt werden, von denen, die da beliefert werden und von denen, die das Ausgelieferte herstellen. Wer dem Streit ums Menschenrecht beitritt, antwortet dann auf die allen und jedem einzelnen Menschen gestellte Frage: „In welcher Welt wollen wir leben?“.
Insofern haben die nach den Katastrophen der Jahre 2012/2013 entstandenen Kampagnen nicht nur in ihrem Menschenrechtsdiskurs, sondern auch in ihrer subjektiven Zusammensetzung vorweggenommen, wovon wir hoffentlich mehr sehen werden. Denn in diesen Kampagnen fanden sich südasiatische Gewerkschaftsaktivist:innen mit globalisierungskritischen Solidaritätsaktivist:innen der belieferten Länder zusammen. Was für die Aktiven zutraf, galt dann auch für die, die sich von ihr ansprechen ließen: Wenn sie mit der Kampagne die Entschädigung der Überlebenden, die Klage gegen verantwortliche Unternehmen und zuletzt die Unterstellung der Herstellungs- und Lieferketten unters Menschenrecht forderten, dann taten sie das politisch, im Anspruch auf die Schaffung der anderen Welt, die möglich ist. Diesen Anspruch wird das Lieferkettengesetz auch dann noch stützen, wenn klar wird, dass es gar nicht liefern wird, was es verspricht. Dann hoffentlich erst recht.