„Eure Regierungen und die Menschen in den reichen Staaten müssen verstehen, dass wir nur gemeinsam eine Zukunft auf diesem Planeten haben und dass niemand sicher ist, solange nicht alle sicher sind“ sagt Rene Loewenson gleich zu Beginn des Interviews. Die Epidemiologin aus Simbabwe leitet die medico-Partnerorganisation Training and Research Support Centre (TARSC), die u.a. Gesundheitsaufklärung im Kontext großer Bergbauprojekte betreibt. Neben ihr haben medico-Kollege Dieter Müller und ich Anfang März 2021 fünf weitere Mediziner:innen und Gesundheitsaktivist:innen aus dem Globalen Süden dazu interviewt, welche Auswirkungen die Covid-19-Pandemie in ihrem Land und welchen Einfluss die geistigen Eigentumsrechte auf die dortige Versorgung mit Impfstoffen und Medikamenten haben.
Hierzulande mag die Impfkampagne nur langsam vorankommen. Für die meisten Menschen in den Ländern des Südens liegt sie noch in völliger Ferne. Das ganze Drama zeigt sich gerade in Brasilien, wo in mehrere Provinzen, darunter in Sao Paulo, der Gesundheits- und Krankenhaus-Notstand ausgerufen wurde. Die Bettenauslastung liegt bei fast 100 Prozent, mit ansteigenden Infektions- und den weltweit höchsten Todesraten. Das ist der Politik Bolsonaros zuzuschreiben, aber auch der Tatsache, dass in Brasilien wie in vielen anderen Ländern des Südens in den vergangenen Jahrzehnten die nationalen Kapazitäten zur Impfstoffforschung und -produktion zurückgefahren wurden. Davon berichten die Ärztin und Koordinatorin des Peoples Health Movement auf den Philippinen (PHM), Delen de la Paz, und der mexikanische Arzt Gabriel García, der in indigenen Gemeinden im Bundesstaat Chiapas praktiziert. Beide Länder konnten sich bis Ende der 1990er-Jahre weitgehend selbst mit Impfstoffen versorgen und teilweise Überschüsse in Nachbarländer exportieren. Durch den Einzug des Neoliberalismus wurden die eigenen, meist öffentlichen Produktionskapazitäten privatisiert oder durch die Öffnung der eigenen Märkte für den Weltmarkt niederkonkurriert. Die heutige Abhängigkeit von Impfstoffdosen weniger Weltmarkführer aus dem Norden ist also ein relativ junger Effekt der neoliberalen Globalisierung, wie Delen de la Paz betont.
Ungleichheit als Pandemie-Treiber
Wir fragen Leslie London nach den Gründen für die desaströsen Auswirkungen der Pandemie in Südafrika. Der Professor für öffentliche Gesundheit und Aktivist beim PHM in Südafrika hebt die Rolle der sozialen Ungleichheit in der Gesellschaft und im Gesundheitssystem hervor. Insbesondere in der weitverbreiteten Arbeitslosigkeit und den informellen Arbeitsverhältnissen sieht er die Ursache für die hohen Fallzahlen. In ein Homeoffice können sich die wenigsten zurückziehen. Positiv hingegen sei, dass man sich bei der aktuellen Pandemie auf Erfahrungen aus der HIV-AIDS-Arbeit stützen kann. Dazu gehörten partizipative Gesundheitsansätze mit sogenannten Community Health Workers und der freie und kostenlose Zugang zu den benötigten Medikamenten. Der Aufbau eigener pharmazeutischer Produktionskapazitäten und die Aufhebung des Patentschutzes, nicht nur für Covid-19-Impfstoffe, seien für die Zukunft wichtige Schritte.
Antonio Martins wundert sich über den geringen Protest im Globalen Norden gegen den Umstand, dass Pharmaunternehmen zur Entwicklung von Impfstoffen öffentliche Gelder erhalten haben und sie diese Impfstoffe nun teuer an die jeweiligen Regierungen verkaufen können. Der Herausgeber des linken Online-Newsportals und medico-Partners Outras Palavras kritisiert im Interview das Konzept des geistigen Eigentums, das es inmitten einer globalen Gesundheitskrise möglich macht, Impfstoffe zu verknappen und zu Höchstpreisen anzubieten. Deshalb müsse der Kampf gegen die Pandemie auch die Stärkung von Commons, also Gemeingütern, und die Schaffung eines weltweit freien Zugangs zu Wissen, Technologie und Bildung forcieren.
Wie wird die Welt nach der Pandemie aussehen? Es brauche unbedingt eine Neugestaltung der Nord-Süd Beziehungen, sagt Rangarai Machemedze aus Simbabwe. Der Sozialwissenschaftler beschäftigt sich beim medico-Partner Regional Network on Equity in Health in East and Southern Africa (EQUINET) mit globaler Gesundheitspolitik und kritisiert die Macht, die den Pharmaunternehmen durch den Patentschutz innerhalb der WTO und WHO zugestanden wird. Auch wenn der Vorstoß der Regierungen Südafrikas und Indiens zur Aussetzung des Patentschutzes innerhalb der WTO politisch richtig sei, löse eine Ausnahmeregelung nicht das grundsätzliche Problem. Das sieht Machemedze darin, dass das Patentsystem die Profite von Unternehmen über das weltweite Recht auf Gesundheit stellt.
Neben der Frage nach Zugang zu Impfstoffen bewegen unsere Gesprächspartner:innen die zunehmend autoritären Tendenzen in ihren Ländern. Unter dem Vorwand der Pandemiebekämpfung würden systematisch Menschenrechtsverletzungen begangen. Nicht nur autoritäre Regime setzten Grundrechte außer Kraft und agierten repressiver. So erließ die philippinische Regierung unter Präsident Duterte ein neues Anti-Terror-Gesetz, das eine tödliche Jagd auf Oppositionelle ausgelöst hat, wie Delen de la Paz berichtet. Sie beharrt darauf, dass der emanzipatorische Kampf für das Recht auf Gesundheit daher immer als Kampf um ein selbstbestimmtes Leben im umfassenden Sinne verstanden werden müsse.
Alle Video-Interwiews finden sich unter www.medico.de/stimmen-gesundheit