Es hat lange gedauert, bis man sich in Israel mit dem Krieg von 1948 und der Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung durch die israelische Armee auseinanderzusetzen begann. Bis in die 80er Jahre war die israelische Geschichtsschreibung von der Behauptung geprägt, die Palästinenser seien während des Krieges aus ihren Dörfern geflohen. Als der israelische Historiker Benny Morris 1987 seine Studie »The Birth of the Palestinian Refugee Problem 1947 – 1949« veröffentlichte, handelte er sich den Vorwurf eines Nestbeschmutzers ein. Er hatte untersuchen wollen, ob die Vertreibung sich absichtsvoll und systematisch ereignet habe. Die Frage, ob es einen Plan tatsächlich gegeben hat, steht nach Ansicht des israelischen Historikers Ilan Pappe im Zentrum der israelisch-palästinensischen Debatte. Sie werde aber erst eindeutig geklärt werden können, wenn der israelische Staat die Archivdokumente über den Krieg von 1948 lückenlos zugänglich mache. Für Pappe wie für die palästinensischen Historiker Rashid Khalidi und Nur Masalha, die sich unter anderem auf palästinensische Zeitzeugen berufen, steht allerdings eines schon jetzt fest: Die von Morris geschilderten Vertreibungsaktionen und damit einhergehenden vereinzelten Massaker an der palästinensischen Bevölkerung reichen aus, um den Schluß zuzulassen, daß die israelische Regierung Anweisung zur systematischen Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung und zur Zerstörung ihres Lebensraumes gegeben hat. (Ilan Pappe, »Were They Expelled?« in: Ghada Karmi, Eugene Cotran, Hrsg. The Palestinian Exodus 1948 bis 1998, Ithaca Press, Reading, UK.) Die Auswertung von erst vor kurzem zugänglich gemachtem israelischem Archivmaterial erlaubt eine Fundierung der These von der planvollen Vertreibung: Es geht dabei um die israelische Militäroperation »Hiram«, bei der 1948 ein strategisch wichtiger Teil des heutigen nördlichen Galiläa-Gebiets erobert worden war. Nach der Auswertung von Befehlen, Anweisungen und Korrespondenzen der damaligen israelischen Befehlshaber gelangt Morris nun zu dem Schluß, daß die israelische Regierung damals sehr wohl Anweisung gegeben hat, die gesamte palästinensische Bevölkerung aus dem Galiläa-Gebiet zu evakuieren (Benny Morris, »Operation Hiram Revisited: A Correction« in: Journal of Palestinian Studies, Bd. 28, Heft 2, Winter 1999). Yaakov Shimoni, damaliger Leiter der Nahostabteilung des israelischen Außenministers, ließ etwa zwei Wochen nach Beendigung der Operation »Hiram« am 12. November 1948 seinem Vorgesetzten die Nachricht zukommen: »Die Armee war angewiesen, bei der Eroberung alle Anstrengungen zu unternehmen, damit die arabischen Bewohner und die aus anderen Gebieten dorthin gelangten Flüchtlinge Galiläa verlassen.« General Moshe Carmel, damals Befehlshaber der Nordfront und der »Hiram«-Operation, hatte 1985 in einem Interview mit Morris eine solche Regierungsanweisung geleugnet. Daß dies nicht der Wahrheit entsprach, stellte der Historiker Morris erst bei seinen jüngsten Recherchen fest. Am 31. Oktober 1948, kurz vor Beendigung der Militäroperation, ließ Carmel nämlich folgenden Befehl an die Soldaten in Galiläa funken: »Tut alles in eurer Macht Stehende, die eroberten Gebiete umgehend von sämtlichen feindlichen Elementen zu räumen. Den einheimischen Bewohnern soll dazu verholfen werden, die eroberten Gebiete zu verlassen.« Im Zuge dieser Operation kam es zu 10 dokumentierten Massakern an Palästinensern, offensichtlich mit dem Ziel, die einheimische Bevölkerung in Panik zu versetzen und sie so zur Flucht zu bewegen – eine Vorgehensweise, die in früheren Stadien dieses Krieges bereits mehrmals zum Ziel geführt hatte. Damit ist die Frage nach dem »Urverbrechen« – so der von Ilan Pappe verwendete Ausdruck – des israelischen Staates allerdings noch längst nicht beantwortet; das jüngst zugänglich gemachte Archivmaterial betrifft nämlich nur dieses eine Kriegsgeschehen.
In seinem 1992 erschienenen Buch »Expulsion of the Palestinians. The Concept of ›Transfer‹ in Zionist Political Thought 1882-1948« trägt der palästinensische Historiker Nur Masalha die These vor, Ziel der Zionisten sei es schon immer gewesen, die einheimische arabische Bevölkerung aus Palästina zu verjagen. Als sich 1948 dazu die Gelegenheit bot, ließ die zionistische Führung rund 750.000 Palästinenser vertreiben und verwehrte ihnen die Rückkehr. Masalha hat jüngst auch die immer noch wenig bekannten Vertreibungsaktionen von palästinensischen Bewohnern der Westbank während des Sechstagekriegs von 1967 in das von ihm angenommene Kontinuum einer israelischen Transferstrategie einbezogen. Über dieses Thema war in Israel Ende der 80er Jahre öffentlich kurz diskutiert worden, ehe es wieder in der Versenkung verschwand (Nur Masalha, »The 1967 Palestinian Exodus«, 1992). Masalha schätzt die Zahl der Vertriebenen auf über eine Viertelmillion, also etwa ein Drittel der damaligen palästinensischen Bevölkerung der Westbank. An einigen Orten, wie etwa um Latrun unweit von Jerusalem wurden die Vertreibungstaktiken von 1948 wieder angewandt, einschließlich der vollständigen Zerstörung mehrerer Dörfer und sogar eines Stadtteils von Westjerusalem, wo auf dem heute weiträumigen Platz vor der Klagemauer bis 1967 das alte palästinensische Wohnviertel al-Magharbeh gestanden hatte. Noch stärker verdrängt hat man in Israel das traurige Kapitel der 1948 vollzogenen Vertreibung von Palästinensern aus dem Gebiet, das heute als »Westjerusalem« bezeichnet wird. Der israelische Menschenrechtler Nathan Krystall hat unlängst die Ergebnisse seiner Untersuchung zu diesem Thema, die als Buch erscheinen soll, zusammengefaßt (Nathan Krystall, »The De-Arabization of West Jerusalem 1947-1950«). Vor 1948 lebten in diesem Gebiet 28.000 Palästinenser, ihnen gehörte ein Drittel des Bodens; die jüdische Bevölkerung war dreimal so groß und militärisch entschieden besser organisiert. Als Anfang 1948, nicht zuletzt aufgrund von Übergriffen jüdischer Radikaler auf Araber, Kämpfe ausgebrochen waren, begann die jüdische Miliz der Haganah die palästi-nensischen Bewohner der arabischen und gemischten Stadtviertel – die deutsche und griechische Kolonie, Baqa, Qatamon, Tal-biyya, Lifta, Romema und Shaykh Badr – zu terrorisieren und vereinzelt Häuser zu sprengen. Der Bombenanschlag auf das Semiramis Hotel im Qatomon-Viertel, bei dem 26 größtenteils christliche Araber ums Leben gekommen waren, löste bei den meist wohlhabenden Bewohnern eine Massenflucht aus und zog Plünderungen durch Juden nach sich. Die Israelis nutzten diese Lage und begannen, die verlassenen Palästinenser-Häuser mit Juden, vor allem mit obdachlosen Einwanderern, zu besetzen. Anfang Februar 1948, noch vor der Gründung des Staates Israel im Mai, ordnete der spätere Ministerpräsident David Ben Gurion an, in Westjerusalem die Doppelstrategie von Vertreibung und Neuansiedlung konsequent zu verfolgen. Wenige Tage später verkündete er bei einer Parteiversammlung, daß es in einigen Jerusalemer Stadtvierteln »keine Araber mehr gibt. Hundert Prozent Juden. Seit Jerusalem von den Römern zerstört worden war, ist es noch nie so jüdisch gewesen wie heute.« Auf Westjerusalem trifft dies noch heute zu.
Joseph Croitoru
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ARCPA - DAS GEDÄCHTNISPROJEKT
IMAGES & TESTIMONIES FROM THE CAMPS
Wo liegt Palästina? Was war Palästina? Was könnte Palästina sein? – In Nahr al Bared, einem Flüchtlingscamp im Norden des Libanon, bildet man einen Kreis aus alten & jungen Menschen. Es ereignet sich »oral history«. Die erzählende Überlieferung der gemeinsamen Geschichte. Die Rede geht von der Kultur, dem Leben und den Umständen und den Situationen in einem früheren, einem entfernten, einem unzugänglichen Palästina. Vergessen werden soll es nicht. Es gibt kaum Dokumente aus dieser Zeit, kaum Photographien, wenig handfeste Beweise selbst für die Vertreibung, die nur »bewiesen« ist durch ihre eigene Anwesenheit in Nahr al Bared Camp. Die Jungen kennen Palästina nicht, nur das Lager. Sie trauen & mißtrauen den Schwärmereien der Alten. Deshalb müssen sie sich ein eigenes Bild machen. Die Ereignisse selber rekonstruieren. Ihre Amnesien aufheben & die Zerstörung von Erinnerung. In dem medico-Projekt in Zusammenarbeit mit dem »Arab Resource Center for Popular Arts (ARCPA)« gehen Kinder & Jugendliche unter fachlicher Anleitung daran, in einem multimedialen Ansatz ihre Lebenserfahrung und ihre Geschichte auf der Basis des kollektiven Gedächtnisses des Lagers erfahrbar und sichtbar zu machen. In Text-Büchern. Videos. Auf CD-Roms. Durch Erstellung von Arbeits- und Lehrmaterialien, die sie dann anderen Camps zur Verfügung stellen. Diese Arbeit ist überlebenswichtig: Sie ermöglicht die notwendige Auseinandersetzungen mit den Umständen & Bedingungen des Zusammenlebens in Vielvölkerregionen; mit allen dort lebenden Menschen – ohne sich selber verleugnen zu müssen. Dies ist der erste und wichtigste Schritt der mentalen Realisierung der gebotenen Voraussetzungen einer zukünftig multiethnischen menschlicheren Existenz.
Für das »Gedächtnisprojekt« bitten wir Sie ganz besonders herzlich um Ihre zuverlässige materielle Unterstützung. Das Stichwort lautet: »Palästina«.