In den letzten Tagen fällt mir oft ein Bild aus meiner Kindheit ein. Wir sind mit Freunden auf dem Land in Evia unterwegs und wir Kinder spielen Ball. Mein Vater spielt mit uns. Er trägt eine dunkle Bluse und lächelt breit. Es ist ein einfaches Bild des Glücks aus einer unbeschwerten Zeit – eine Szene, die zu einer Zeit zurückkehrt, in der die Epidemie Angst und Unsicherheit mit sich bringt. In ähnlichen Fällen hätten wir früher gesagt, dass das, was wir als stabil betrachten, zusammenbricht.
Doch in Wirklichkeit ist die soziale Stabilität in Griechenland seit 2010 zusammengebrochen. Die Wirtschaftskrise in Verbindung mit den drakonischen Sparmaßnahmen der Memoranden hat nicht nur zu einem beispiellosen Rückgang des Lebensstandards geführt – 25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts sind im Laufe der Jahre verloren gegangen. Ebenso wichtig war der Zusammenbruch zweier hegemonialer Überzeugungen in Europa: Erstens die Vorstellung, dass das Leben mehr oder weniger stabil sei, zweitens, dass die Dinge in Zukunft besser würden. Ich denke, dass dies eine enorme Veränderung einer Kultur ist, die eigentlich immer auf einen selbstverständlichen Anstieg des Lebensstandards orientiert war.
Verleugnung und Wiedergutmachung
Die aus der Syriza-Politik resultierende Absage der Hoffnung nach dem Referendum 2015 führte nicht nur zur Vervollständigung des neoliberalen Plans – genau so, wie ihn die Troika entworfen hatte. Sie hat auch bedeutende Veränderungen in der politischen Wahrnehmung eines Großteils der Gesellschaft bewirkt. Sie bekräftigte die Überzeugung, dass es kein alternatives Projekt mehr geben könnte. Sie hat noch mehr Menschen davon überzeugt, dass es keinen kollektiven Ausweg aus der Armut geben kann, sondern nur einzelne "Fluchtpläne" – jeder muss alleine und gegen alle anderen durchkommen. Und sie hat den Hass auf andere intensiviert, insbesondere den Hass auf die Schwächsten. Dieser Hass ist Ausdruck einer gesellschaftlichen Faschisierung, ohne dass ihre Träger bewusst zur politischen Rechten gehören müssen.
Im heutigen Griechenland ist es durchaus üblich geworden, Migrant*innen den Status des Mensch-Seins zu verweigern. Der Wahlerfolg der Nea Demokratia ist nicht nur Ergebnis des Niedergangs von Syriza, sondern auch der konservativen Dynamik eines bedeutenden Teils der griechischen Gesellschaft. Der hartgesottene neoliberale (aber nicht rechtsextreme) Regierungschef Mitsotakis hat sich auf den Konservatismus verlassen, ihn weiter vertieft und wurde dann bis zu einem gewissen Grad zur Geisel genommen. Diese Geiselnahme erfolgt nicht nur vom mächtigen rechtsextremen Flügel der Nea Demokratia selbst, sondern vor allem von einem sehr großen Teil der ND-Wähler, die jetzt weitaus rechter positioniert sind als das politische Personal der Partei. In der Flüchtlingsfrage proklamierte Mitsotakis im Wahlkampf eine harte Anti-Flüchtlings-Linie mit dem Versprechen, "die Grenze, die Syriza geöffnet hatte", zu schließen. Mit dieser Politik brachte er eine sehr weit verbreitete Haltung der griechischen Gesellschaft zum Ausdruck. Durch die Adoption dieser Haltung durch die ND jedoch wurde sie absolut hegemonial. Als Regierung wurde die Neue Demokratie mit ihren Versprechen und dem politischen Publikum konfrontiert, das sie weitgehend selbst hergestellt hatte.
Trotz drastischer Beschränkungen des Asylrechts und Push-Backs wurden die Grenzen in der Folge nicht nur nicht "geschlossen", sondern auch die Zahl der Asylsuchenden auf den Nordostinseln "explodierte" von 16.000 auf 42.000 (Asylsuchende dürfen die Inseln aufgrund des EU-Türkei-Deals nicht verlassen). Wo auch immer versucht wurde, eine Infrastruktur (ob offen oder geschlossen) für Flüchtlinge zu schaffen, protestierten die Einwohner. Bei diesen Protesten übernahmen die Wähler und die Bürgermeister der ND die Führung. Auf den Inseln nahmen die Mobilisierungen die Form einer Rebellion an, als die Regierung starke Polizeikräfte entsandte, um die Schaffung geschlossener Zentren für Asylbewerber zu erzwingen. In einer Zeit, in der die Regierung die härteste Anti-Flüchtlingspolitik verfolgt, die jemals umgesetzt wurde, beschwert sich die Mehrheit der Gesellschaft darüber, weil sie eine noch strengere Politik einfordern. In dieser Haltung vieler Bürger gibt es zwei Trends, die sich während der Krise verstärkt haben: Der Konservatismus und der Hass auf die Schwächsten.
Die Grenzkrise
In dieser Zeit, als die Regierung mit ihrer Antwort auf die „Flüchtlingsfrage“ in einer Sackgasse steckte, begann die "Krise der Grenzen". Erdogan instrumentalisierte Flüchtlinge und Einwanderer, um die EU unter Druck zu setzen, Geld zu erpressen und eine für ihn bessere Lösung in Idlib und Syrien zu erreichen. Nach der irreführenden Ankündigung, die Grenze geöffnet zu haben, strömten Tausende von Flüchtlingen und Einwanderern an die Evros-Grenze und versuchten, nach Griechenland einzureisen.
In der "Grenzkrise" versuchte Mitsotakis, die Krise in eine Chance zu verwandeln, indem er seine Wählerbasis auf einer nationalistischen und anti-migrantischen Grundlage vereinigte. Die griechische Regierung hat genauso wie die türkische die Flüchtlinge instrumentalisiert und sie in der Folge als asymmetrische Bedrohung und als Invasoren bezeichnet. Die Flüchtlingskrise hat sich in eine nationale Krise verwandelt und die Regierung hat die Verteidigung des Heimatlandes in einem "hybriden Krieg" auf eigenem Boden ausgerufen. In dieser Szenerie moralischer Panik war alles erlaubt: Umfangreiche Verletzungen der Flüchtlingsrechte, einschließlich den Morden an den Grenzen, strengste Grenzkontrollen und Manipulation und die Abschaffung internationalen Rechts durch die Aussetzung des Asylverfahrens. Das Land war im Krieg, nur dass die "Invasoren" unbewaffnet waren.
Patriotismus und Rassismus
Wir, die reagierten, waren Tausende, wie die Proteste zeigten. Meinungsumfragen zeigten jedoch auch, dass die überwiegende Mehrheit der Gesellschaft die Regierung unterstützte. Die Kombination von Patriotismus und Rassismus war politisch erfolgreich. Sie hätte nicht gewirkt, wenn die Krise und das Memorandum diese ideologische Mischung aus Rechtsextremismus, Individualismus und Hass gegenüber den Schwächsten nicht an die Oberfläche gebracht hätten. Sie hätte nicht wirken können, wenn Flüchtlinge und Einwanderer nicht jahrelang als Bedrohung dargestellt worden wären, sondern als Menschen mit Bedürfnissen und Rechten. Und sie hätte nicht wirken können, wenn der EU-Türkei-Deal nicht Zehntausende Menschen auf den Inseln unter miserablen Bedingungen gefangen genommen hätte – der Käfigzustand ist eine Tragödie für Flüchtlinge und ein ernstes Problem für die Einheimischen. Ich muss zugeben, dass wir während der „Grenzkrise“ in der öffentlichen Debatte eine erstickende Situation erlebt haben. Wir haben aber auch die Entschlossenheit vieler Menschen gesehen, gegen den Strom zu tun, was sie machen mussten.
Die Epidemie des Coronavirus
Wie im Rest der Welt verändert die Coronavirus-Epidemie alles vollständig. Wir leben in Zeiten der Angst. Wir werden die Tragödien bald in unserem täglichen Leben spüren. Insbesondere für Griechenland wird die Epidemie von vielen als Fortsetzung nicht nur der "Grenzkrise", sondern auch der Wirtschaftskrise der vergangenen Jahre erlebt. Die ständige Krise ist zur neuen Normalität geworden. Und es sieht aus, als wären wir die verlorene Generation – die Generation, deren Träume in den Mahlsteinen der Geschichte zerrieben werden. Aber wir geben nicht auf. Wir kämpfen hartnäckig darum, in dieser Zeit zu den Schwächsten stehen, die Wichtigkeit eines öffentlichen Gesundheitssystems zu propagieren und das Pflegepersonal zu stützen, auch um menschlich zu bleiben. Wir setzen unsere Kämpfe fort und wir haben jetzt immerhin nicht mehr viel zu verlieren. Wir haben unsere Erinnerungen. Unsere Träume finden wir vielleicht auf dem Weg wieder.
Übersetzt von Margarita Tsomou.
Yannis Albanis ist Journalist aus Athen und Aktivist beim griechischen diktio – Netzwerk für soziale und politische Rechte, das auch Teil des City Plaza-Kollektivs war.