Moria-Interview

Existenzielle Unsicherheit

19.06.2020   Lesezeit: 6 min

Noch gibt es keinen Covid-19-Fall im Lager Moria. Menschenunwürdige Bedingungen und schlechte medizinische Versorgung lassen jedoch das Schlimmste befürchten. Die Ärztinnen Jessica Horst und Charlotte Linke berichten aus Moria.

medico: Seit Mitte Juni ist Griechenland wieder für Tourist*innen aus Europa geöffnet, während der Lockdown für die Menschen in den Flüchtlingslagern erneut verlängert wurde. Wie schätzt Ihr die aktuelle Lage in Moria und die der Geflüchteten in Griechenland im Allgemeinen ein?

Jessica Horst und Charlotte Linke: Für Geflüchtete ist die Gesamtsituation in Griechenland katastrophal. Die griechische Küstenwache geht immer konsequenter und brutaler bei Push-Backs, also illegalen Rückführungen ohne die Möglichkeit einen Asylantrag zu stellen, vor. In den Lagern auf den Inseln sind die Lebensbedingungen bekanntermaßen menschenunwürdig. Auch die medizinische Versorgung ist dort absolut ungenügend. Sie wird größtenteils durch Nichtregierungsorganisationen abgedeckt. Es gibt zwar eine Einrichtung von EODY, der nationalen Organisation für Öffentliche Gesundheit, diese ist jedoch vor allem für Notfälle und die Vermittlung ins öffentliche griechische Gesundheitssystem zuständig – und dabei sehr restriktiv.

Die primär-medizinische Versorgung der Erwachsenen wird von drei NGOs übernommen, die größtenteils mit Kurzzeit-Freiwilligen arbeiten. Bedingt durch die Covid-19-Pandemie, den Lockdown des Camps und die faschistischen Übergriffe Anfang März gibt es derzeit so wenig Personal, dass alle drei Organisationen in einer Klinik zusammenarbeiten, mit verkürzten Öffnungszeiten. Die Räume der Klinik sind eng, chaotisch, laut und nur durch Vorhänge getrennt, so dass für Konsultationen kaum Privatsphäre besteht. Ein Um- bzw. Ausbau wurde bisher nicht genehmigt. Aufgrund der mangelnden Kapazitäten können bei weitem nicht alle Menschen, die medizinische Behandlung suchen, auch behandelt werden. Eine Zahnärztin oder einen Zahnarzt gibt es seit Ausbruch der Covid-19-Pandemie nicht mehr.

Wie entscheidet sich, wer medizinisch versorgt wird und wer erstmal keine Behandlung bekommt?

Für die Patient*innen ist es eine Tagesaufgabe, einen Arzt oder eine Ärztin aufzusuchen. Oft stehen die Menschen schon früh morgens an, um eine der ca. 150 ausgegebenen Nummern zu bekommen, mit denen sie eine krankenpflegerische Konsultation bekommen. Hier wird entschieden, ob eine ärztliche Behandlung notwendig ist (die sogenannte Triage). Für die ärztliche Behandlung werden die Patient*innen an eine andere Stelle weitergeleitet, verbunden mit erneuter Wartezeit. Die ärztliche Behandlung selbst führt ebenfalls oft nur zu symptomatischer Therapie oder Behandlungen nach dem Trial-and-Error-Prinzip, weil wir selten ausreichende Möglichkeiten zur Diagnostik haben. Von einer den europäischen Leitlinien entsprechenden Behandlung sind wir weit entfernt.

Auch für viele Griech*innen ist die Gesundheitsversorgung nicht gut. Welche Unterschiede gibt es dennoch?

In den letzten Monaten wurde aufgrund der Covid-19-Pandemie das gesamte öffentliche Gesundheitssystem auf Notfallversorgung reduziert. Während Griech*innen zumindest noch die Möglichkeit hatten, auf eigene Kosten zu privat tätigen Ärzt*innen zu gehen, ist dies für Menschen aus dem Camp aufgrund des Lockdown und ihrer eingeschränkten finanziellen Kapazitäten keine realistische Option.

Inzwischen läuft die öffentliche Gesundheitsversorgung langsam wieder an. Aber weiterhin haben wir kaum Möglichkeiten, Menschen in das öffentliche System zu vermitteln. Wir dürfen zwar wieder Laboruntersuchungen anordnen, allerdings nur acht pro Woche, sodass Termine, die wir dafür vergeben, mittlerweile im August liegen. Fachärztliche Termine sind weiterhin bis auf absolute Ausnahmen nicht möglich – anscheinend will das Krankenhaus erst einmal die Termine nachholen, die durch den Lockdown verschoben wurden.

Aber auch vor der Covid-19-Pandemie waren die Möglichkeiten der medizinischen Versorgung auf Lesbos eingeschränkt, einfach dadurch, dass bestimmte ärztliche Fachrichtungen und diagnostische Möglichkeiten auf der Insel nicht vorhanden sind. Die Organisation des in diesen Fällen notwendigen Transfers auf das Festland dauert teilweise Monate.

Gleichzeitig wirken sich die Lebensbedingungen im Camp – unzureichende sanitäre Anlagen, ungesundes Essen, räumliche Enge, gewaltsame Auseinandersetzungen und existenzielle Unsicherheit – stark auf den Gesundheitszustand der Menschen aus. Dazu erhöht der Lockdown, gepaart mit dem Mangel an psychosozialen Unterstützungsangeboten, noch einmal spürbar die psychische Belastung der Menschen im Camp.

Bislang gibt es keinen Covid-19-Fall in Moria. Wie sieht Eure medizinische Arbeit im Hinblick auf die Corona-Prävention aus?

Die Maßnahmen zur Corona-Prävention im Camp passierten hauptsächlich in Selbstorganisation von Geflüchteten und NGOs. Seit sechs Wochen gibt es eine extra für das Covid-19-Screening gebaute sogenannte ‚Central Triage‘, in der alle Menschen, die sich ärztlich vorstellen möchten, auf neu aufgetretene Atemwegsinfektionen gescreent und dann ärztlich konsultiert werden. Aktuell ist die Anzahl der Tests jedoch durch die griechischen Behörden auf 4-5 pro Tag beschränkt. Deswegen sollen wir anhand klinischer Kriterien entscheiden, wer ein Verdachtsfall ist. Für diese gibt es inzwischen ein von Ärzte ohne Grenzen geführtes Isolationszentrum, in dem Patient*innen getestet und dann bis zum Erhalt des Ergebnisses isoliert werden. Die letzte Entscheidung darüber, wer getestet wird und wer nicht, liegt jedoch bei der griechischen Gesundheitsbehörde und ist für uns oft nicht transparent. Viele der Patient*innen, die wir testen würden, werden von den Behörden abgelehnt.

Sind die Maßnahmen denn dann überhaupt geeignet, einen Ausbruch der Pandemie zu verhindern?

Die Menschen in Moria sind gezwungen, auf sehr engem Raum zusammenzuleben und müssen für alle Bedarfe des täglichen Lebens in Schlangen anstehen. Allein das macht das Verhindern eines Ausbruches nahezu unmöglich, gleichzeitig wird zu wenig getestet. Neben dem Blockieren der Behörden hat das auch damit zu tun, dass die betroffene Person mit der Unterbringung in der Isolationseinheit einverstanden sein muss. Nur wer isoliert wird, wird auch getestet. Für viele Menschen ist es jedoch nicht möglich, ihre Familien für mehrere Tage alleine im Camp zu lassen, da sie um ihre Sicherheit fürchten. Das Ziel, einen Ausbruch frühzeitig zu erfassen, kann so nur schwer erreicht werden.

Wie weit eine Isolationseinheit mit 50 Betten für ein Camp mit 19.000 Bewohner*innen funktionieren kann, war von Anfang an eine Frage. Im Falle eines Ausbruchs wäre die Aufgabe der ‚Central Triage‘ und der Isolationseinheit, vulnerable und erkrankte Menschen zu erkennen und zu isolieren. Letztendlich gibt es aber wahrscheinlich noch keinen Covid-19-Ausbruch im Camp, da es keine Anzeichen einer erhöhten Mortalität gibt, denn aktuell würden wir einen Ausbruch am ehesten daran erkennen.

Wurden besonders gefährdete Personen aus dem Lager evakuiert?

Eine Evakuierung Covid-vulnerabler Menschen aus dem Camp findet kaum statt. Stattdessen setzen die griechischen Behörden auf den Lockdown. Aber auch die anderen EU-Länder haben durch eine Auslagerung der Verantwortung auf die Mittelmeer-Anrainerstaaten maßgeblich zur Entstehung von Camps wie Moria beigetragen. Die Zustände in Moria waren schon vor der Covid-19-Pandemie untragbar. Aber allerspätestens jetzt wäre es an der Zeit, das Lager komplett zu evakuieren.

Stattdessen ist es den Bewohner*innen seit Wochen untersagt, das Lager zu verlassen, und während auf der Insel ansonsten der Alltag langsam wieder einkehrt, wird der Lockdown für sie immer wieder verlängert. Würde ein Covid-19-Ausbruch hier erkannt, wäre die einzige Antwort der griechischen Regierung vermutlich, das Camp komplett abzuriegeln. Neben dem unzureichenden und rassistischen Umgang mit der Covid-19-Pandemie sehen wir hier die Gefahr einer schleichenden Umwandlung des Lagers in ein geschlossenes Camp.

Interview: Maja Klostermann und Ramona Lenz

Die Berliner Ärztinnen Jessica Horst und Charlotte Linke arbeiten seit April freiwillig für Medical Volunteers International in Moria. Beide sind Mitglieder des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte und waren lange beim Medibüro Berlin aktiv.

Die medico-Partner von „Stand by me Lesvos“ haben in Moria ein Corona Awareness Team gebildet, das die Menschen im Lager in verschiedenen Sprachen aufklärt, wie sie sich und andere vor dem Virus schützen können. Mit Megaphonen und Plakaten vermitteln sie Verhaltensregeln. In einem provisorischen Atelier sind andere dabei, Atemschutzmasken zu nähen, die dann im Lager verteilt werden.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2020. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!


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