Die zunehmende Sichtbarkeit des massenhaften Sterbens von Flüchtlingen im Mittelmeer scheint etwas in Bewegung gesetzt zu haben. Aktuell beteiligt sich sogar die Bundeswehr an der Rettung von Flüchtlingen auf dem Mittelmeer und die Daimler AG erklärt sich in Presserklärungen zum Vorreiter der Flüchtlingshelfer. Hat sich das Klima gewandelt?
Hagen Kopp: Die aktuelle Situation ist ein Erfolg. Vor wenigen Monaten wurde Mare Nostrum abgeschafft. Die Politik hat auf Frontex mit der Operation Triton fokussiert. Mit dieser europäischen Entscheidung wurde das Sterben lassen der Flüchtlinge zum Programm gemacht. Außerhalb einer 30-Meilen-Zone sollten die Flüchtlinge sich selbst überlassen bleiben. Alle Rettungskapazitäten wurden systematisch heruntergefahren und vor diesem Hintergrund kam es im April zu mehreren Hundert Toten.
Heute aber steht Frontex mit dem Rücken zur Wand. Es kommen so viele Menschen über das Zentrale Mittelmeer und die Ägäis wie noch nie nach Europa. Ganz verschiedene Akteure retten bis ganz nah an der libyschen Küste. Darunter sind zivile Akteure wie die MOAS, das Schiff eines maltesischen Millionärsehepaars, die letztes Jahr schon damit angefangen haben und auch dieses Jahr Rettungseinsätze machen. Ärzte ohne Grenzen haben ein eigenes Boot vor Ort geschickt, mit ihnen sind wir im guten direkten Kontakt.
Jetzt kommt auch noch die Seawatch, das kleine Boot aus Brandenburg, das in Deutschland große mediale Resonanz gefunden hat. Neben den zivilen Akteuren ist seit dem 8. Mai auch die Bundeswehr im Einsatz. Wir haben zum ersten Mal davon gehört, als wir am 8. Mai mit Bootsflüchtlingen Kontakt hatten, die uns direkt berichteten, dass da ein Boot mit einer deutschen Flagge käme. Wenn man sich vorstellt, dass die Bundesregierung noch im April gesagt hat, dass sie nichts ändern solle und zwei Wochen später zwei Bundeswehr-Fregatten vorfahren müssen, ist das dem enormen öffentlichen Druck geschuldet.
„Die Schande Europas“ – das Sterben an den europäischen Küsten, das ist für keine politische Partei mehr hinnehmbar und deshalb wird jetzt gerettet. Das ist erstmal ein Erfolg der Hartnäckigkeit der Migrationsbewegung.
Ist der 10-Punkte-Plan der EU also ausgesetzt?
Kopp: In einem der zehn Punkte geht es um Rettung, in den anderen neun um Kriminalisierung, Repression und Militarisierung. Parallel zum Retten sitzt die EU an konkreten Planungen von Militärschlägen in Libyen, um die sogenannten Schlepperstrukturen zu zerstören. Das wäre ein absoluter Wahnsinn. Aber es ist ernst gemeint, denn die Planungen sind überaus konkret.
Man versucht sich vom UN-Sicherheitsrat ein Mandat dafür geben zu lassen und man verhandelt mit einer der beiden libyschen Regierungen, um auch von ihnen eine Erlaubnis zu erhalten. Die Militärschiffe, die jetzt retten, sind also in einer Doppelfunktion dort. Die Deutschen werden unserer Einschätzung nach nicht militärisch eingreifen. Aber ihre Überwachungsmöglichkeiten werden sie sicher gegebenenfalls in einem Nato-Militäreinsatz zur Verfügung stellen. Das ist hochproblematisch.
Wie nehmen die politische Akteure der Migration im Süden, also beispielsweise die medico-Partner in Mali, die Haltung der EU wahr?
Sabine Eckart: Sie stehen im Kontakt mit transnationalen Netzwerken und den Migranten, die sich an den nordafrikanischen Küsten befunden haben oder befinden. Die Militarisierung der Abschottung ist in den vergangenen 20 Jahren ein Dauerthema. Sie beobachten, dass es für Frontex wichtig war, Abwehrerfolge vorzuweisen.
Die Folge dieser Abschottung ist, dass sich die Migrations- und Fluchtrouten verschieben, die Wege immer gefährlicher werden und die Menschen höhere Risiken auf sich nehmen müssen. Dadurch wurde das Schlepperwesen, das jetzt medial im Mittelpunkt steht, erst alimentiert. Mehr Risiken bedeuten mehr Tote und sind Ergebnis einer Aufrüstung der Abschottung. Unsere Partner nehmen das als Krieg gegen die Migranten und die Flüchtlinge wahr.
Dieser Krieg scheint ausgesetzt und fast alle werden gerettet, oder?
Kopp: Wie viele sind fast? An dem Rekordrettungstag am 29. Mai wurden 4.243 Flüchtlinge in 25 Einsätzen gerettet. Trotzdem sind nach dem, was uns bekannt ist, 17 Flüchtlinge ums Leben gekommen. 17 zu viel. Deshalb haben wir vom Alarmtelefon einen alternativen 10-Punkte-Plan entworfen unter dem Titel „Fähren statt Frontex“. Als zentrale Forderung für legale sichere Zugangswege. Denn es ist nicht möglich, die Rettung so gut zu organisieren, dass niemand ums Leben kommt. Es bleibt hochgefährlich, wenn Menschen gezwungen sind, in kleinen Booten das Meer zu überqueren. Und das erleben wir am Alarmtelefon immer wieder live mit.
Seit wann betreibt ihr das Alarmtelefon?
Kopp: Wir betreiben das Telefon seit Oktober 2014 zusätzlich zum Monitoring von Watch the Med, was ja eher ein Recherchieren und Rekonstruieren der Abschottungs- und Verdrängungsstrategien von Frontex im Mittelmeer war. Es geht uns darum, auch in Echtzeit agieren zu können, wenn Menschen in Seenot geraten. Rund um die Uhr sitzen Ehrenamtliche am Telefon. Das klappt mittlerweile gut. Es sind etwa 100 Leute aus verschiedenen Städten und Ländern beteiligt.
Wir bekommen täglich Anrufe von allen drei Fluchtrouten über das Meer. Wir sind quasi ein selbstorganisiertes Callcenter. Unsere Nummer ist in den migrantischen Communities verbreitet. Wir bleiben mit den Leuten auf See in Kontakt, wir laden ihnen ihre Satellitentelefone auf, denn sie sind zwar mit solchen Telefonen ausgerüstet, aber in Seenot ist ihr Guthaben schnell verbraucht. Mit diesen Anrufen können sie auch ihre GPS-Daten durchgeben. Diese Daten geben wir an die Leitstelle in Rom weiter und schauen auch, ob Handelsschiffe in der Nähe sind.
Gerade in den letzten Wochen, als viele Einsätze gleichzeitig nötig waren, gab es viele Rettungen durch Cargoschiffe. Wir bekommen am Telefon unmittelbar mit, was mit den Flüchtlingen in Seenot passiert. Das MRCC in Rom (Maritim Rescue Coordination Centre) ist die zentrale Leitstelle für die Rettungsaktionen im zentralen Mittelmeer. Interessant ist, dass die Bundeswehr ihre beiden Schiffe diesem MRCC in Rom unterstellt hat und nicht Frontex mit Triton. Man kann unterstellen, dass von Rom aus zur Zeit wirklich alles getan wird, um zu retten. Und im Moment sind die Rettungskapazitäten relativ hoch.
Wie ist die Situation in der Ägäis, die sich mit der neuen Regierung in Griechenland auch verändert hat?
Kopp: Das ist eine ganz andere Situation, weil es sich um kurze Distanzen zwischen zehn und 15 Kilometer handelt. Seit Jahren versuchen Leute mit kleinen Booten von der Türkei aus überzusetzen. Die brutalen Push Backs, also das Zurückdrängen der Menschen in türkische Gewässer, was die griechische Küstenwache über Jahre systematisch betrieben hat, wurden nach einer Anweisung der neuen griechischen Regierung nahezu vollständig eingestellt. Das waren Sondereinheiten, die maskiert und mit Waffen die Migranten ausgeraubt haben und dann aufs Meer zurückdrängten. Für die syrischen Flüchtlinge ist das die Hauptroute. Auf diesem Weg kommen fast so viele Flüchtlinge wie über das zentrale Mittelmeer. In den letzten sechs Monaten fast 50.000.
Viele Akteure sind mit konkreter Rettung beschäftigt. Das ist wichtig. Gibt es aber darüber hinaus auch Perspektiven der Zusammenarbeit, um die strukturellen politischen Fragen, die die Menschen zur Flucht zwingen und auf diese gefährliche Wege leiten, anzugehen?
Kopp: Rettung allein genügt nicht. Trotz der Operation Mare Nostrum sind letztes Jahr über 3.500 Menschen im Mittelmeer gestorben. Damit kann sich niemand arrangieren. Alle diese Menschen könnten leben, wenn es legale Zugangswege gäbe. Unsere Forderung nach der Einrichtung von Fähren für die Flüchtlinge zielt politisch darauf ab. Es geht darum, das herrschende Visumsregime zu brechen. Und neue Visa-Regeln dürfen nicht mit einem neuen Lagerregime und neuem Selektionsprinzip einhergehen.
Schnell möglich wäre die Vergabe von humanitären Visa für diejenigen, die hier ohnehin eine hohe Anerkennungsquote hätten. Sigmar Gabriel hat kürzlich diese Forderung aufgenommen. Auch im UNHCR wird das diskutiert, weil alle wissen, dass der Diskurs über die Schlepper völlig verlogen ist. Denn sobald es die Fähren gäbe, wäre das Schleppergeschäft erledigt. Es ist doch klar, dass die Schlepper ein Produkt des Grenzregimes sind.
Was aber ist mit den Flüchtlingen, die wegen anderer struktureller Ursachen fliehen müssen?
Kopp: Die EU und die europäischen Regierungen versuchen diese Flüchtlinge gegen Kriegsflüchtlinge auszuspielen. Das ist heuchlerisch, denn die EU gehört zu den großen Verursachern struktureller Fluchtgründe. Rettung und sichere Wege sind aktuell nötig und müssen für alle gelten, unabhängig von den Ursachen der Flucht.
Eckart: Wenn wir über Rettung der Flüchtlinge reden, müssen wir auch die Rolle der Regierungen an der Südküste des Mittelmeers betrachten, die ein aktiver Teil des europäischen Grenzregimes sind. Wenn sie davon sprechen, dass sie Flüchtlinge gerettet haben, dann bedeutet das allzu häufig, dass sie Flüchtlinge unter Waffengewalt daran gehindert haben, nach Europa überzusetzen. Hiergegen müssen wir die Kräfte in den Ländern unterstützen, die ihre Regierung zu einer Umkehr in Sachen Flüchtlingspolitik bewegen können.
In vielen Ländern gibt es zum Beispiel die Selbstorganisation der Angehörigen von Verschwundenen, die sich mittlerweile viel Gehör verschaffen. Auf dem Weltsozialforum dieses Jahr in Tunesien gab es die Überlegung, eine Angehörigen-Karawane, wie sie medico in Mexiko unterstützt, durchzuführen. Zum Beispiel von Nordafrika nach Italien. Es muss ein Recht zu gehen geben, aber auch ein Recht zu bleiben. Dazu gehört, dass die EU-Politik sich so ändern muss, dass die Menschen eine freie Wahl haben zu bleiben.
Ganz sicher ist die gegenwärtige Lage ein Erfolg von Watch the Med und all den Aktivisten, die seit Jahren gegen das europäische Grenzregime kämpfen. Aber liegt es nicht auch daran, dass der Migrationsdruck trotz immer schwierigerer Wege nicht nachgelassen hat?
Kopp: Die Hartnäckigkeit der Migrationsbewegung setzt die Bewegungsfreiheit durch. Die Migranten führen den Kampf um Bewegungsfreiheit selbst, auch indem sie die Risiken eingehen. Gestern sind 800 gestorben und heute setzen sich 5.000 Menschen wieder in die Boote. Das bringt derzeit das Grenzregime ins Wanken. Es gibt verschiedene und zum Teil überraschende Akteure, die diesen Druck aufgebaut haben. Zum Beispiel die Reeder. In einem Brief an Merkel haben sie dagegen protestiert, dass sie sich zwar bemühen, Flüchtlinge zu retten, es aber oft nicht gelingt, weil sie nicht dafür ausgerüstet sind.
Ihr Brief hat meiner Ansicht nach wesentlich dazu beigetragen, dass die Bundesregierung die Fregatten der Bundeswehr mit dem Rettungsauftrag gesandt hat. Außerdem erleben wir seit dem verheerenden Unglück vor Lampedusa 2013 ein anhaltend großes Interesse der Journalistinnen und Journalisten. Das Medieninteresse ist hoch und sehr kritisch gegenüber dem Grenzregime. Ob Frontex, Triton, der EU-Plan – das wird alles in den Medien zerrissen. In den Medien spielt der kritische Blick die Hauptrolle.
Eckart: Der stärkste Motor ist einfach die nackte Not. Die Menschen haben keine Alternative. Sie sitzen in einem Land wie Libyen, wo sie unter extremen Bedingungen leben müssen und nur eine Möglichkeit sehen, von dort schnellst möglich wegzukommen. Man sollte das nicht idealisieren. Es handelt sich um Not, aus welchen konkreten Gründen sie auch immer fliehen.
Hat sich die Wahrnehmung verschoben? Auch wenn jetzt die Retter im Blickpunkt stehen werden die Migranten als Akteure wahrgenommen und nicht nur als Opfer.
Eckart: Das ist richtig. Aber auch in dieser Community gibt es beides. Selbst unter den Migranten gibt es Eliten, die sich nicht mit den bedrohten Flüchtlingen solidarisieren und sich vor den Karren des Grenzregimes spannen lassen. Auch Migrantenvereine in Europa lassen sich benutzen. Was wirklich wichtig bleibt, ist die Selbstorganisation der Flüchtlinge.
Kopp: Wenn ich von der Hartnäckigkeit rede, dann meint das auch den Mut der Verzweiflung, aber auch Mut zum Aufbruch. Es gibt die Flüchtlinge aus Krieg und Diktatur, aber auch Menschen, die einfach ein anderes Leben suchen. Wir hatten kürzlich in Frankfurt eine gemeinsame Veranstaltung, an der auch medico beteiligt war, auf der es vier kurze Statements von Flüchtlingen aus Hanau gab. Das waren vier Generationen von Boat-People. Das waren keine Opfer, sondern Akteure. Manche leben seit zehn Jahren hier, andere erst seit einem Jahr.
Sie sagen, dass sie es sich erkämpft haben hier zu sein und sie sich hier gemeinsam für ihre Rechte einsetzen. Sie haben sich in Hanau organisiert, um zu verhindern, dass die Lampedusa-Flüchtlinge, die in Hanau lebten, nach Italien zurückgeschickt werden. Und sie haben sich durchgesetzt. Die Selbstorganisation der Flüchtlinge in Deutschland hat mit dem Marsch von Würzburg nach Berlin im Jahr 2012 einen großen Schub bekommen und sich seitdem definitiv weiterentwickelt. Wir waren gestern in Straßburg mit einer Boostaktion vor dem EU-Parlament und dort haben nur Migrantinnen und Migranten mit großem Selbstbewusstsein gesprochen. Das ist ein sehr positiver Prozess. Auch bei unserem Alarmtelefon sind Leute dabei, die selbst über das Mittelmeer gekommen sind und sich nun engagieren.
Eckart: Diese Menschen hatten auch großes Glück, dass sie auf eure Unterstützungsstruktur gestoßen sind. Diese Netzwerke sind von immenser Bedeutung, um die Migrantinnen und Migranten darin zu unterstützen, selbst in eine Sprechposition zu gelangen.
Diese Unterstützernetzwerke umfassen in Deutschland ein ganz breites Spektrum von Menschen und politischen Gruppen. Wären sie in der Lage zu einer politischen Kraft zu werden, um das Grenzregime zu durchlöchern?
Kopp: Gerade in der Frage der Umsetzung von Dublin und gegen das Abschieben von Flüchtlingen in die europäischen Erstankunftsländer erleben wir eine deutliche Politisierung. Zum Beispiel beim Kirchenasyl. In Hanau z.B. haben Menschen aus einer Kirchengemeinde die Aufforderung zur Willkommenskultur ernst genommen. Sie. haben sich mit Deutsch-Kursen und für die Versorgung der Flüchtlinge engagiert. So entstanden persönliche Beziehungen und Freundschaften.
Als dann vier Flüchtlinge, zwei aus Syrien, zwei aus Afghanistan, nach Ungarn und Bulgarien angeschoben werden sollten, waren die Leute sehr empört. Erst fordert man sie auf, sich um die Flüchtlinge zu kümmern und dann schiebt man sie einfach ab. Sie haben die vier ins Kirchenasyl genommen und sind nun mit dem politischen System der Abschiebung konfrontiert.
Das ist eine Politisierung, die zur Zeit sehr viele Leute erleben. Und es hat dazu beigetragen, dass auch Dublin faktisch gescheitert ist. Wer heute in Italien ankommt, der gibt momentan seltenst noch einen Fingerabdruck ab. Ich kenne noch Leute, die mit Elektroschock gezwungen wurden, ihren Fingerabdruck abzugeben. Das gibt es nicht mehr. Auch hier hat sich die Hartnäckigkeit der Migration durchgesetzt.
Bedeutet das im Umkehrschluss, dass die besten Partner für eine EU-Abschottungspolitik die Länder vor Ort sind?
Eckart: Die EU-Politik will die Migranten außer Sichtweite halten, sie wollen nicht die Toten und nicht die Bilder der Toten. Sie wollen nicht, dass die Medien es in der Form aufgreifen, wie es zur Zeit geschieht. Das ist ihr oberstes Ziel, weil sonst genau das entsteht, was Hagen beschreibt. Deswegen wollen sie die Transit- und zunehmend auch Herkunftsländer in Nord- und Westafrika in ihre Strategie einbinden. Früher funktionierte diese Einbindung durch Entwicklungshilfe und bilaterale Kooperationen.
Heute sind viele Länder sehr willfährig, sie verhindern Migration auch ohne Druck. Selbst in Libyen versuchen sich die dortigen Strukturen gegenüber der EU als handlungsfähig zu präsentieren, ebenso in Marokko und Ägypten. Aber auch Länder wie Mauretanien sind da sehr wichtig. Hier hatten vor allen Dingen die Spanier das Interesse, den Zugangsweg zu den Kanaren zu schließen und das ist Frontex auch fast völlig gelungen.
In den letzten Monaten ist Niger zunehmend in den Fokus der EU-Außenpolitik geraten. Vor wenigen Tagen haben die Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Italiens in einem gemeinsamen unveröffentlichten Papier an die EU-Außenminister vorgeschlagen, die Eucap-Einsätze in Niger und Mali um den Bereich des Grenz- und Migrationsmanagements zu ergänzen. Wieso Niger?
Eckart: Durch die erfolgreiche Einbindung von Ländern wie Mauretanien und Marokkko in das europäische Grenzregime haben sich die Routen verschoben und der Weg über Niger hat an Bedeutung gewonnen. Ein sehr gefährlicher Weg. Erst vor wenigen Tagen wurden fast fünfzig Leichen in der nigrischen Sahara gefunden. Menschen, die auf dem Weg nach Europa bereits mitten in Afrika verdurstet sind. Aufgrund der politischen Instabilität in Ländern wie Mali und der nach Afrika vorgelagerten Kontrolle der EU-Außengrenzen blieb ihnen nur die gefährliche Route über Niger und Libyen.
Anders als die Toten, die die Mittelmeerüberquerung nicht überleben, spielen die Toten der Wüstendurchquerung in den europäischen Medien kaum eine Rolle. Mit dem Fokus auf Niger, wo die EU auch ein „Aufnahmezentrum für Flüchtlinge“ errichten will, kann die EU die Migranten und ihre Not außer Sichtweite halten. In Mali gab es bis Ende 2014 ein ähnliches Zentrum, das von Migranten allerdings gemieden wurde. In diesem klassischen Auswanderungsland in andere afrikanische Staaten ist es einer starken Zivilgesellschaft lange gelungen, die Unterzeichnung von Abkommen mit der EU im Rahmen des Grenzregimes zu verhindern.
Trotz aller Probleme in Mali ist es der EU bis heute nicht gelungen, sie zur Unterschrift zu bewegen. Das zeigt, wie wichtig es ist, selbst vermeintlich kleine Strukturen der migrantischen Selbstorganisation zu unterstützen. Und sie werden jetzt noch wichtiger, weil die mit der Reform des Cotonou-Abkommens die afrikanischen Länder dazu bewegen will, entsprechende Vereinbarungen zu unterzeichnen. Da müssen unsere Partner in Mali Unterstützung bekommen, um den Druck bei ihrer Regierung aufrecht zu erhalten. Denn die EU wird nicht nachlassen zu versuchen, das Grenzregime zu verstärken.
Das Interview führte Katja Maurer. Eine kürzere Fassung erschien zuerst im Rundschreiben 2/2015. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt bestellen!
Hagen Kopp ist einer der Mitbegründer des bundesweiten Netzwerkes „kein mensch ist illegal“ und aktiv in der lokalen Flüchtlingsinitiative „Lampedusa in Hanau“. Er hat das von medico unterstützte transnationale Projekt „Watch the Med“ sowie das damit verbundene „Alarmphone“ mitentwickelt – zwei Initiativen, mit denen Flüchtlinge und MigrantInnen in Seenot unterstützt werden und gleichzeitig Druck auf das europäische Grenzregime ausgeübt werden soll.
Sabine Eckart ist bei medico international Projektkoordinatorin für den Bereich Migration und zugleich für die Region Westafrika zuständig.