Der Franziskaner-Bruder und Migrationsaktivist über die Situation von MigrantInnen auf dem Weg in die USA, über korrupte Behörden, organisierte Kriminalität und seine riskante Arbeit.
Dieter Müller: Seit über einem Jahr stellt die Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI), die zuvor 70 Jahre an der Macht war, wieder die Regierung mit Enrique Peña Nieto als Präsidenten. Ihr hattet keine großen Erwartungen, dass sich dadurch in der Migrationspolitik Mexikos etwas verändern würde. Wie sieht die Praxis aus und was sind eure Forderungen an Nieto?
Fray Tomás González: Vom mexikanischen Präsidenten fordern wir nichts, weil er nichts machen kann. Er gehorcht wirtschaftlichen Interessen, er steht für den Ausverkauf des Landes. Ihm geht es nur um Erdöl, Tourismus, Bergbau usw. In Mexiko setzen wir unsere Hoffnungen auf die Basis, wir richten uns an die Menschen, von denen Veränderung ausgehen könnte. Aber Migration ist ein globales Thema. Deshalb müssen Forderungen auch an die globale Wirtschaftspolitik gerichtet werden. Das Wirtschaftssystem vernichtet weltweit MigrantInnen und müsste eigentlich wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt werden. Wir haben gemeinsam die historische Verantwortung weltweit dafür einzutreten, dass sich die Einstellung gegenüber MigrantInnen verändert. Ihr hier in Europa, wir bei uns in Mexiko.
In Mexiko behauptet die Regierung, dass die Menschenrechte, auch die Rechte der MigrantInnen respektiert werden. Doch das ist nicht wahr, denn die MigrantInnen stellen keineswegs nur für die organisierte Kriminalität ein lukratives Geschäft dar, auch Behörden sind in diese Machenschaften verwickelt. Deshalb ist es sehr wichtig, dass ihr uns nicht alleine lasst. Transnationale Öffentlichkeit spielt eine wichtige Rolle.
Wie ist also die Situation der zentralamerikanischen MigrantInnen, die weiter Mexiko durchkreuzen müssen, um den „amerikanischen Traum“ zu erreichen?
Sehr positiv ist, dass es überall im Land immer mehr Unterstützung für MigrantInnen gibt, sowohl in den über 60 Herbergen, die meist von Einrichtungen der katholischen Kirche betrieben werden, als auch seitens aktivistischer, studentischer und anderer Initiativen, die einerseits konkrete solidarische Hilfe und Unterstützung leisten, aber auch die humanitäre Tragödie anprangern, den Horror, dem MigrantInnen in Mexiko ausgesetzt sind. Sehr positiv ist außerdem, dass all diese Initiativen inzwischen enger zusammenarbeiten, sich austauschen und koordinieren.
Andererseits überqueren weiterhin jährlich geschätzte 400.000 Menschen aus Zentralamerika auf dem Weg in die USA die Grenze. Für sie ist ganz Mexiko ein Minenfeld. Die mexikanische Migrationspolitik wirkt wie ein Filter, der nur die Fittesten durchlässt, jene die in den USA als billige Arbeitskräfte gefragt sind. Seit über einem Jahr verlangen Kriminelle zunehmend von MigrantInnen 100 Dollar, um die Güterzüge besteigen zu können und das geschieht nicht nur bei uns in Tenosique, wo die Migrantinnen aus Zentralamerika erstmals auf „La Bestia“, die Züge, stoßen, sondern es wiederholt sich an mehreren Stellen entlang der Routen. Von Betroffenen wissen wir, dass so schnell 8oo Dollar zusammen kommen.
Entführungen, Erpressungen, Vergewaltigungen, Misshandlungen - all das geht ungemindert weiter. Wir stellen aber auch fest, dass mehr MigrantInnen in Mexiko bleiben, weil der Übergang in die USA gefährlicher und teurer wird. Vor allem aus Honduras kommen immer mehr Minderjährige, viele von ihnen unbegleitet. Das sind 12- oder 14-jährige, die vor der Gewalt in ihrem Land flüchten. Das haben wir bei uns in der „La 72“ in den letzten zwei Jahren ganz unmittelbar erlebt. Inzwischen improvisieren wir schon einen Schulunterricht für die Kinder, die bei uns bleiben. Asyl bekommen sie in Mexiko nicht, da man sagt, Honduras sei kein Kriegsgebiet, egal ob dort mehr Menschen sterben als in manch einem Kriegsgebiet. Wir versuchen für die Kinder Alternativen zu finden in Kooperation mit entsprechenden mexikanischen Einrichtungen der Zivilgesellschaft, denn vom Staat gibt es keine Angebote. Was haben die Behörden gemacht? Sie haben in den Abschiebeknästen Behelfsunterkünfte für Minderjährige eingerichtet. Dort bleiben sie oft mehrere Monate eingesperrt, denn sie können nur deportiert werden, wenn man die Eltern oder Angehörige im Heimatland ausfindig macht.
Neben der konkreten Hilfe, leistet ihr auch Informations- und Aufklärungsarbeit mit MigrantInnen. Worum geht es dabei?
Unsere Aufgabe besteht einerseits darin MigrantInnen aufzunehmen, zu trösten und zu verteidigen. Sie verlassen ihre Länder, sie flüchten vor struktureller Gewalt, Perspektivlosigkeit und konkreter Gewalt. Wir können und wollen ihnen nicht sagen: „Geht doch zurück!" Deshalb informieren wir sie sowohl über die Gefahren, die sie auf dem Weg durch Mexiko erwarten, als auch über ihre Rechte in Mexiko. Dass der Grenzübertritt bspw. keine Straftat ist oder welche Rechte sie haben, wenn sie in einem der Abschiebeknäste landen.
Wie sieht es mit der Gefährdung für Euch aus?
Leider hat sich da nichts geändert, gerade dieser Tage kam es wieder zu einem ernsten Zwischenfall. Einige MigrantInnen, die einem Überfall entkommen konnten, erreichten unsere Herberge. Kurz darauf erhielten wir gezielte Drohungen seitens staatlicher Kräfte, die sich auf diesen Vorfall bezogen. Sie sagten uns, dass wir nichts unternehmen sollten. Leider gibt es auch weiterhin Versuche der Regierung einzelne Herbergen zu schließen, wie es vor drei Jahren in Lechería passiert ist. Bedauerlicherweise finden sie dafür in Teilen der Kirchenhierarchie durchaus Unterstützung.
Glücklicherweise gibt es aber inzwischen deutlich mehr internationale Aufmerksamkeit und Solidarität mit den MigrantInnen und uns VerteidigerInnen der Rechte von MigrantInnen. Und wie ich bereits erwähnte, sind wir untereinander in Mexiko besser vernetzt und damit schlagkräftiger. Wir haben uns mittlerweile auch an die Interamerikanische Menschenrechtskommission gewandt und dort Schutzmaßnahmen für Menschenrechtsverteidigerinnen gefordert. Im Rahmen unseres aktuellen Besuchs konnten wir in Italien und bei der Europäischen Union unsere Situation vortragen. Wir haben dabei immer wieder versucht deutlich zu machen, dass es ein globales Problem, eine globale Angelegenheit ist und dass ein Systemwechsel erforderlich ist.
Das Interview führte Dieter Müller.
Spendenstichwort: Migration
medico unterstützte den Ausbau der Migrantenherberge „La 72“, die Fray Tomás leitet, mit einer neuen kleinen Gesundheitsstation und einem Anbau für die Unterbringung der Freiwilligen.