Von Katja Maurer
Eines der Ratespiele in Mickey-Mouse-Heften heißt „Finde den Fehler“. Anlässlich der Parlaments- und Senatswahlen in Haiti, die am 9. August 2015 stattfanden, veröffentlichten die haitianischen Zeitungen auch ein solches Rätsel. Sie druckten den Ausschnitt eines Wahlzettels für Senatoren ab, auf dem die Köpfe der Kandidaten, die Partei und der entsprechende Listenplatz vermerkt waren. Darüber stand: Finde den Fehler. Die Lösung: Ein und derselbe Kandidat tauchte unter zwei Namen, zwei Parteien und zwei Listenplätzen auf, unverhohlen mit dem gleichen Foto. Eine Episode, die dafür steht, welche Farce diese Wahlen darstellten. Erst zwei Wochen nach den Wahlen verkündete der Wahlrat, die Wahlbeteiligung habe bei 18 Prozent gelegen. Zudem teilte er mit, dass in 25 von 99 Wahlkreisen die Wahl wegen Wahlfälschung wiederholt werden muss.
Glaubwürdigkeit ist Nebensache
Für Pierre Esperance, den Direktor des haitianischen Menschenrechtsnetzwerkes und medico-Partners RNDDH, ist das bei weitem nicht genug. Denn die Wahlkommission habe Senatoren bestätigt, obwohl in vielen ihrer Wahlkreise, etwa in dem bevölkerungsreichen Elendsviertel Cite Soleil, aufgrund von Unregelmäßigkeiten gar keine Abstimmung stattgefunden habe. Und das Prinzip des Zweigleisig-Fahrens beherrscht auch die Partei des derzeitigen Präsidenten Martelly. Sie kandidierte einfach unter zwei verschiedenen Namen. So habe die Wahlkommission einige Martelly-Kandidaten aufgrund von Wahlfälschung und demonstrativer Gewalt gestrichen.
Andere wiederum, berichtet Pierre Esperance, seien als gewählte Abgeordnete anerkannt, obwohl gegen sie Verfahren wegen Kidnapping und Korruption anhängig seien. „Die Wahlen waren geprägt von Gewalt, Manipulationen und Irregularitäten“, sagt Esperance. Die internationalen Wahlbeobachter hingegen hätten die Wahlen als „bis auf einige Unregelmäßigkeiten als fair“ bezeichnet. Wie das? „Die EU und die USA interessieren sich nicht für die Qualität der Wahlen.“ Sie haben sie zwar finanziert und die Gelder über die UN in Haiti abgewickelt, aber offenkundig reicht es aus, dass Wahlen durchgeführt werden. Ob sie eine legitime Regierung zustande bringen und der Prozess glaubwürdig ist, ist unbedeutend. „Korrupte und gewalttätige Kandidaten werden demnächst Abgeordnete und Senatoren sein“, so Esperance. Einzig die jüngste Entscheidung des Präsidentschaftskandidaten und Universitätsdirektors Lamarque, angesichts der Unregelmäßigkeiten seine Präsidentschaftskandidatur zurückzuziehen, könne die Wahlfarce doch noch in eine „sehr ernsthafte Krise“ stürzen.
Die Diskreditierung des demokratischen Prozesses, zu dem Wahlen wesentlich gehören, hatte bereits nach dem Erdbeben 2010 begonnen. Auch damals drängten die internationalen Geber, allen voran die USA und die EU, auf die schnelle Durchführung von Präsidentschaftswahlen. Noch im Jahr des Erdbebens fanden sie statt. Nach einer Menschheitskatastrophe mit 250.000 Toten wurde ein ohnehin schwacher Staatsapparat gezwungen, Wahlen durchzuführen statt seine Rolle im Wiederaufbau zu finden. Der haitianische Filmemacher Raoul Peck beschreibt in seinem Dokumentarfilm „Tödliche Hilfe“, in dem er zwei Jahre lang die politischen Prozesse nach dem Erdbeben begleitete, die Durchführung der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen als ein Manöver – einen „subtilen Putsch“ –, um einen den USA genehmeren Kandidaten durchzusetzen, der nicht wie der damalige Präsident Preval auf eine linke Vergangenheit im Umfeld von Aristide zurückblickt.
Immer wieder sind seither Details über die damaligen Wahlmanipulationen veröffentlicht worden, kürzlich von Al Jazeera: Danach habe die US-amerikanische Agentur für Entwicklungshilfe (USAID) knapp 100.000 US-Dollar an eine Gruppierung gezahlt, die dem späteren Sieger Martelly nahestand. Laut US-Regierungsdokumenten hätten die Zahlungen in direktem Zusammenhang mit US-Einflussnahmen im Streit um die Ergebnisse der ersten Wahlrunde gestanden. Damals hatte die Gruppe Mouvement Tét Kale (MTK) eine führende Rolle bei den Straßenprotesten bekommen. Letztlich wurde der Preval-Kandidat von der Liste für die zweite Runde gestrichen. Die Gelder für MTK flossen über das USAID-Vertragsunternehmen Chemonics. Die MTK unterstützte die Wahl Martellys.
Martellys Präsidentenlosung lautet seither „Haiti is open for business“. Teure Hotels und ein schicker Flughafen haben die Parallelwelt der einheimischen Elite schöner gemacht. Aber für die meisten Haitianer sieht die Welt anders aus. Haiti ist nach wie vor das ärmste Land der westlichen Hemisphäre. Zwei Drittel der Bewohner leben unter dem Existenzminimum von zwei Dollar pro Tag, die Hälfte der städtischen Bevölkerung ist arbeitslos und nur 25 Prozent der Bevölkerung verfügen über Sanitäranlagen, die den Namen verdienen. Alles Zahlen des UN Welternährungsprogramms von 2015. Ein Drittel aller Kinder sind im Wachstum zurückgeblieben. Die chronische Unterernährung vieler Familien führt zu dauerhaften Folgeschäden insbesondere für die Kinder, physisch wie psychisch.
Kein Recht auf Rechte
Zu dieser Situation kommt nun noch die Krise um in der Dominikanischen Republik lebende Haitianer oder Dominikaner haitianischer Herkunft. Denn Regierung, Parlament und selbst der Oberste Gerichtshof des als demokratisch beschriebenen haitianischen Nachbarlandes haben die Ausbürgerung ihrer haitianischen Mitbürger beschlossen. Schätzungsweise eine Million Haitianer leben in der Dominikanischen Republik, viele von ihnen seit Generationen. Sie tragen gegen minimale Entlohnung bei maximaler Ausbeutung als Landarbeiterin, Bauarbeiter oder Bedienstete der Touristenressorts wesentlich zur Prosperität der Dominikanischen Republik bei. Gegen sie, und nur gegen sie, wurde der in ganz Lateinamerika übliche Grundsatz des „Ius soli“, des Geburtsortsprinzips, abgeschafft, und zwar rückwirkend.
Die Folge: Viele, die schon lange im Besitz der dominikanischen Staatsbürgerschaft waren, sind plötzlich staatenlos, weil die Behörden ihnen die Verlängerung ihrer Staatsbürgerschaft verweigert haben. Ein fast beispielloser Vorgang im internationalen Recht, der sich nur mit dem Phänomen der Staatenlosigkeit im 20. Jahrhundert der Zwischenkriegszeit und des Nationalsozialismus vergleichen lässt. Auf die Haitianer der Dominikanischen Republik und die Aberkennung ihrer Rechte trifft zu, was die Philosophin Hannah Arendt mit Blick auf die Staatenlosen und Flüchtlinge beschrieben hat: „Die abstrakte Nacktheit ihres Nichts-als-Menschseins war ihre größte Gefahr. Sie waren damit in das zurückgefallen, was die politische Theorie den ‚Naturzustand’ und die zivilisierte Welt die Barbarei nannte.“
Die haitianische Regierung unter Martelly schaute diesem Geschehen untätig zu. Kein Protest erhob sich aus Port-au-Prince. Und es gibt viele in Haiti, die glauben, dass Martelly nun die Wahlkampfgeschenke der dominikanischen Baufirmen, die nach dem Erdbeben prächtig an Haiti verdienten, durch das schweigende Hinnehmen dieser Politik zurückbezahlt. Pierre Esperance erlebt diese Situation als Katastrophe, deren Höhepunkt möglicherweise erst noch bevorsteht. Seit Juni, so Esperance, seien
10.000 Haitianer aus der Dominikanischen Republik ausgereist oder ausgewiesen worden. Sie erhielten keinerlei Hilfen durch die Regierung und ständen mit Nichts da. Nur Hilfsorganisationen würden für das Nötigste sorgen. Ein Regierungsprogramm, das sich der schlimmsten Nöte dieser Menschen systematisch annehme, existiere nicht. „Jederzeit müssen wir mit weiteren Deportationen rechnen“, meint Esperance. „Es ist keine Struktur vorhanden, die diesen Menschen helfen kann.“ Pierre Esperance ist ein sachlicher Kollege, der stets professionell bleibt. Aber angesichts dieser Entwicklung versagt auch ihm die Stimme.
Die Kooperation mit dem haitianischen Menschenrechtsnetzwerk RNDDH existiert seit 2011. Die Organisation gehört zu den wichtigsten und wenigen Gruppierungen in Haiti, die hörbar Menschenrechtsarbeit in all ihren Facetten leisten. Immer wieder geraten sie bei dieser Arbeit in Konflikte und in Bedrohungssituationen. Ein Interview mit dem Direktor Pierre Esperance findet sich auch in dem medico-Film „Haitianische Erschütterungen“.
Spendenstichwort: Haiti
Dieser Artikel erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2015. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. <link material rundschreiben rundschreiben-bestellen internal-link internal link in current>Jetzt abonnieren!