Die Ereignisse zur WHO und ihrer Rolle in der Bewältigung der Coronavirus Pandemie eskalieren im Wochentakt: Donald Trump erhebt in der Woche vor Ostern die massivsten Vorwürfe gegenüber der Weltgesundheitsorganisation WHO, die ein Staatschef je gegen diese UN-Organisation erhoben hat - inmitten einer globalen Gesundheitskrise, die in Umfang und Geschwindigkeit und mit ihren massiven Auswirkungen auf die globalen Wirtschaftsprozesse unvergleichlich ist. Und keine Woche später macht er seine Drohung wahr – die Mitgliedsbeiträge der USA werden ausgesetzt. Die WHO, so Trumps Vorwurf, stehe zu sehr auf Seiten Chinas und habe deshalb zu spät und unzureichend in der sich entwickelnden Gesundheitskrise reagiert.
Auch wenn allen ernsthaften Beobachter*innen der globalen Gesundheitspolitik klar ist, dass der US-amerikanische Präsident vor allem ein „Blame-Game“ spielt, um von seinen eigenen Unzulänglichkeiten während der sich ausbreitenden Covid19-Epidemie abzulenken, so wurden doch in den ersten 100 Tagen der Pandemie tatsächlich strukturelle Defizite und Probleme deutlich, die die auf den ersten Blick starke WHO hat – jene WHO, die 1946 in ihrer Verfassung mit dem Mandat ausgestattet wurde, die „leitende und koordinierende internationale Gesundheitsorganisation“ zu sein. Diese Defizite liegen jedoch ganz woanders, als dort wo Donald Trumps Kritik ansetzt.
Das Recht auf Gesundheit
Zur Gründung der WHO als eigenständiger Teil der Vereinten Nationen gehörte auch der ihr eingeschriebene, umfassende Gesundheitsbegriff: Weit über die klassisch bio-medizinische Vorstellung hinausgehend, versteht die WHO Gesundheit als ein „vollständiges physisches, psychisches und soziales Wohlbefinden“, auf dessen weitmöglichstes Erreichen alle Menschen einen Rechtsanspruch haben sollten. Dieser Anspruch hält fest, was auch die Menschenrechtserklärung der UN definiert: dass die Menschenrechte unterschiedslos für alle Menschen gelten und dass die politischen Repräsentanten, vornehmlich der Nationalstaaten, verpflichtet sind, diese Rechte zu realisieren.
Die WHO erhielt mit ihrer Gründung auch das Mandat, internationale Verträge zu verhandeln, wie sie es im Jahr 2005 mit den „International Health Regulations“ tat, die im Nachklang der SARS-Pandemie 2003 von den Mitgliedsstaaten der WHO verabschiedet wurden. Darin erhielt die WHO formal eine starke Rolle bei der Koordination internationaler Aktionen im Falle eines „öffentlichen Gesundheitsnotfalls von internationaler Bedeutung“, den der/die WHO Generalsekretär*in in Abstimmung mit den WHO Beratergremien ausrufen kann.
Und die Mitgliedstaaten verpflichten sich darin, nicht nur Informationen über aktuelle Krankheitsausbrüche und ihre Ursachen unverzüglich zu teilen, sondern auch, sich gemeinsam auf solche Ausbrüche vorzubereiten, bei ihrer Bewältigung zusammenzuarbeiten (zum Beispiel neuartige Erreger und ihre Gensequenzen in der wissenschaftlichen Community zu verbreiten, um rasch diagnostische Tests, Medikamente und Impfstoffe zu entwickeln) und sich gegenseitig zu unterstützen - nach den Empfehlungen und technischen Vorgaben der WHO.
Weltgesundheitsbehörde oder politische Theaterbühne?
Das klingt alles nach einer starken Rolle - aber in Wirklichkeit ist die WHO trotz dieses Mandats ein zahnloser Tiger. Tatsächlich steht sie als Organisation trotz mehr als 7.000 MitarbeiterInnen in 150 Länderbüros, sechs Regionalbüros in vier Kontinenten, einem Hauptquartier in Genf und sechs offiziellen Sprachen auf tönernen Füßen. Ihr Jahresbudget ist mit aktuell etwas mehr als 2,5 Mrd. USD kaum größer als das des Genfer Universitätshospitals. Die regelmäßigen Mitgliedsbeiträge der 191 Staaten, die die finanzielle Selbständigkeit der WHO sichern sollen, machen davon wiederum nur 20 Prozent aus, mehr als Dreiviertel sind thematische und projektgebundene Mittel.
Über diese können die Geber wesentlich mehr Einfluss auf die tatsächlichen Arbeitsschwerpunkte der Organisation nehmen, als es die formal alle gleichberechtigten Mitgliedstaaten mit ihren Resolutionen und Appellen in der jährlichen Vollversammlung und dem rotierend besetzten 34-köpfigen Exekutivrat tun. Vor allem die großen Mitgliedstaaten des globalen Nordens bestimmen dabei wesentlich mit. Traditionell sehr engagiert sind die USA, Großbritannien, die EU, Kanada, Japan und die skandinavischen Länder, in letzter Zeit hat sich auch Deutschland immer stärker beteiligt, was gerade in Zeiten der verstärkten Isolationismus in den USA und des Vereinigten Königreiches hoch gelobt wurde.
Darüber hinaus tragen externe Finanzgeber wie private Stiftungen zur Hälfte die freiwilligen Beiträge, und haben so ihren Einfluss auf die WHO vergrößert. So ist bei projektgebundenen Spenden die Bill & Melinda Gates Foundation regelmäßig der zweitwichtigste Geber nach den USA. Dieses Missverhältnis ist nicht neu und immer wieder Anlass zur Debatte. Der Vorwurf, die WHO sei de facto zu einem „Dienstleister“ in Sachen Globaler Gesundheitspolitik von nationalstaatlichen und privatwirtschaftlichen Interessen geworden, wird vor allem von kritischen zivilgesellschaftlichen Initiativen erhoben. Viele, darunter medico und das People’s Health Movement, haben sich 2016 in dem Global Health Hub zusammengeschlossen. Das Netzwerk setzt sich mit Stellungnahmen, Veranstaltungen und einer Lobbyarbeit „von unten“ am Hauptsitz der WHO dafür ein, dass diese die Unabhängigkeit zurückerlangt, die sie zur Bewältigung der globalen Gesundheitskrise braucht. So macht es auch darauf aufmerksam, wofür die WHO von externen Geldgebern Mittel bekommt und wofür nicht.
Einem umfangreich finanzierten Programm zur Ausrottung des Poliovirus stehen beispielsweise völlig unterfinanzierte Programme wie das zur Förderung unentbehrlicher Arzneimittel gegenüber. Zufall ist das nicht: Einem eher technisch umsetzbaren Impfprogramm, dessen Erfolge mit Bildern geretteter Kinder medial gut präsentierbar sind, sind Geldgeber wie die Gates- und die Rotary-Club-Stiftungen eher zugetan als etwa einem Projekt, das die lokale Produktion und Qualifizierung von Generikaalternativen zu patentierten Markenmedikamenten fördert. Und mit den vielen Arbeitsstellen, die in den Länderbüros der WHO für das globale Polio-Impfprogramm finanziert werden, sind auch die Länder des globalen Südens durchaus zufrieden.
Keine Autorität: Nur ein Dienstleister für die Geldgeber?
Doch die Finanzierung ist nicht das einzige Problem. Die WHO hat auch keine Möglichkeiten, ihre Mitgliedsstaaten zur Kooperation zu zwingen - so wie etwa die Welthandelsorganisation bei Verstößen gegen die gemeinsamen Abkommen Zwangsauflagen erheben kann. Zwar ist ihr neuerdings erlaubt, Daten von nicht-staatlichen Quellen zu benutzen, um zu einer eigenständigen Beurteilung der Lage zu kommen, wenn die nationalen Regierungen zum Beispiel aus Furcht vor wirtschaftlichen Folgen Krankheitsausbrüche verheimlichen oder herunterspielen wollen – dies war etwa in Westafrika zu Beginn der Ebola Epidemie passiert. Aber weiterhin darf die WHO beispielsweise nur auf Einladung der entsprechenden Regierung eine eigene Untersuchungskommission in ihre Mitgliedsländer entsenden – dies lehnte beispielsweise die chinesische Regierung noch im Januar 2020 ab.
Erst durch die „Charmeoffensive“ des Generalsekretärs Dr. Tedros mit einem prominenten Besuch beim chinesischen Premierminister Xi Jinping am 28. Januar hinter verschlossenen Türen und einem anschließenden umfassenden Lob der chinesischen Eindämmungsmaßnahmen konnte sich Mitte Februar ein solches Team auf den Weg machen - und auch deren Report wurde von den chinesischen Behörden nur ohne kritische Zwischentöne autorisiert.
Schon damals wurde die „Umarmungsstrategie“ der WHO kritisiert, die immer wieder betont, dass sie Kritik an einzelnen Mitgliedstaaten nicht öffentlich äußert und mehr Umsetzungschancen für ihre Empfehlungen sowie die unerlässliche Kooperationsbereitschaft der Regierungen durch solche diplomatischen Maßnahmen sieht als durch ein konfrontativeres Verhalten. Das aktuell von Dr. Tedros immer wieder betonte Mantra, die Bekämpfung der Pandemie nicht zu „politisieren“ wird durch diese diplomatischen Gepflogenheiten verständlich. Dass die WHO aber ganz unabhängig von den politischen Konstellationen nur eine „technische, normgebende Funktion“ haben könnte und sich so aus den Konflikten der Mitgliedsstaaten heraus halten könnte, ist bei einem hoch politischen Thema wie der Corona-Pandemie eine falsche Hoffnung.
Stärkung der WHO ist notwendiger denn je
Die WHO könnte in ihrer Selbständigkeit gestärkt werden, wenn die Mitglieder sich gegenseitig zu höheren Beitragszahlungen verpflichten. Die Bereitschaft hierzu ist jedoch nicht nur in den reichen Staaten minimal. Insbesondere die BRICS-Staaten China, Brasilien und Russland müssten bei einer Neujustierung der Mitgliedbeiträge, wie sie die WHO vorgeschlagen hat, kräftig nachlegen. Ein Minimalkompromiss, der bei der Weltgesundheitsversammlung 2018 erreicht wurde, war die erste Erhöhung der Pflichtbeiträge seit vielen Jahren – um gerade einmal drei Prozent. Das ist Kosmetik und schafft keine Abhilfe bei den realen Finanzierungsengpässen.
Wie dramatisch die Unterfinanzierung ist, wurde auch in der aktuellen Covid19 Krise deutlich: ein nach der Ebola Epidemie 2014 eingerichteter Contingency Emergency Fund bei der WHO sollte mit 100 Mio Dollar regelmäßig gefüllt sein, um rasch handlungsfähig zu sein, daraus konnten in der aktuellen Krise aber nur 9 Mio. Dollar mobilisiert werden[1]. Der von der WHO Anfang Februar zusätzlich ins Leben gerufene Covid 19 Solidarity Response Fund mit dem 675 Mio Dollar für die Unterstützung der WHO und der betroffenen Länder im globalen Süden eingesammelt werden sollte, hatte einen Monat später nur 1,2 Mio Dollar eingespielt, Anfang April waren immerhin gut 400 Mio Dollar eingetroffen. Verglichen mit den Milliarden, die von den hauptbetroffenen Ländern in Europa und den USA zur Stützung ihrer eigenen Unternehmen und Bürger*innen mobilisiert wurden, und auch den Versprechen der G20 Staaten, 2 Billionen Dollar bereitzustellen, sind diese Summen vernachlässigbar klein und zeigen das Missverhältnis zwischen Anspruch und Wirklichkeit einer globalen Solidarität in der Krise.
Zurück zu den Kernaufgaben
Vor diesem Hintergrund erscheint es am wichtigsten, dass die WHO selbst sich nicht nur als technische und administrative Behörde wahrnimmt, sondern zu ihrer menschenrechtlichen Kernaufgabe zurückfindet, wie es im Mandat ihrer Gründungsdokumente und in der Alma Ata Deklaration verankert ist. Hier ist die Stimme der WHO weiterhin wichtig. Nimmt sie ihre Aufgabe ernst, darf sie Konflikte mit einer Wirtschaftspolitik nicht scheuen, wenn dort Patentregeln verhandelt werden, die den Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten für alle verhindern. Genauso wenig darf sie Dienerin oder Dienstleisterin ihrer Mitgliedsstaaten sein, wenn sie als die „führende und koordinierende Institution der Weltgesundheit“ verstanden werden will. Defizite bei der WHO zu benennen, sie in ihrem Mandat aber gleichzeitig zu verteidigen und zu unterstützen – das ist mehr denn je Aufgabe der Zivilgesellschaft und ein wichtiger Teil der Arbeit von medico international und Partnern im People’s Health Movement und im Geneva Global Health Hub.
[1]www.who.int/emergencies/funding/contingency-fund-for-emergencies