Die WHO

Im Würgegriff

12.03.2018   Lesezeit: 8 min

Chronisch unterfinanziert ist die Weltgesundheitsorganisation so abhängig von nationalstaatlichen und privatwirtschaftlichen Interessen wie nie zuvor.

Von Dr. Andreas Wulf

Drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden nicht nur die Vereinten Nationen in der Absicht gegründet, Kriege künftig zu vermeiden und gerechtere Entwicklungschancen für alle Länder der Welt zu schaffen. Zeitgleich entstand auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit dem unmissverständlichen Mandat, die „koordinierende internationale Gesundheitsorganisation“ zu sein und mit einem überraschend umfassenden Gesundheitsbegriff: Weit über die klassisch bio-medizinische Vorstellung hinausgehend, versteht die WHO Gesundheit als ein „vollständiges physisches, psychisches und soziales Wohlbefinden“, auf dessen weitmöglichstes Erreichen alle Menschen einen Rechtsanspruch haben sollten. Dieser Anspruch hält fest, was auch die Menschenrechtserklärung der UN definiert: dass die Menschenrechte unterschiedslos für alle Menschen gelten und dass die politischen Repräsentanten, vornehmlich der Nationalstaaten, verpflichtet sind, diese Rechte zu realisieren.

Mit dieser Vorgabe wurde die WHO vor genau 70 Jahren auf den Weg geschickt. Vor 30 Jahren wurde sie noch einmal weitreichend konkretisiert. Auf der Konferenz in Alma Ata in Kasachstan verabschiedeten die Mitgliedsstaaten 1978 eine Erklärung zum Primary Health Care-Konzept. Dieser zufolge sind Verbesserungen der grundlegenden Lebens-, Ernährungs-, und Wohnbedingungen Teil einer bereichsübergreifenden Gesundheitsarbeit. Damit wurde bestimmt, dass die Ziele der WHO nicht nur mit Impf- und Behandlungsprogrammen sowie Aufklärungskampagnen über Krankheitsursachen und für gesundheitsgerechtes Verhalten zu erreichen sind, sondern relevante gesellschaftliche Veränderungen erfordern. Konkret: Im Zentrum der Gesundheitsarbeit sollten die Mitsprache und Mitwirkung von Gemeinden stehen. Das Gesundheitswissen sollte nicht länger bei der traditionellen ärztlichen Profession monopolisiert bleiben, sondern durch BasisgesundheitsarbeiterInnen allen zugänglich gemacht werden. Mittel sollten von der kurativen Medizin in wenigen städtischen Krankenhäusern zu den dezentralen Gemeindeprogrammen verlagert werden, die die Mehrheit der Menschen mit ihren dringlichsten Gesundheitsbedürfnissen erreichen. Mit der Erklärung von Alma Ata wurde das Ziel ausgegeben, „Gesundheit für Alle im Jahr 2000“ zu erreichen.

Vier Jahrzehnte später lässt sich feststellen, dass entsprechende Programme kaum in notwendiger Weise und dauerhaft umgesetzt worden sind. Das liegt nicht zuletzt daran, dass eine im Alma Ata Dokument festgehaltene wesentliche Voraussetzung zu ihrer Finanzierung nie realisiert wurde: eine grundlegende Änderung der globalen Wirtschaftsstrukturen, die es den armen Ländern erlaubt hätte, selbst genügend Ressourcen in einem Prozess „nachholender Entwicklung“ für die eigenen sozialen Grunddienste zu sichern. Weil das nicht geschah, blieben sie abhängig von der kontrollierenden Wohltätigkeit der oft kreditgebundenen Entwicklungshilfe. Das führte schon kurz nach dem Ende der 1970er-Dekade zu massiven Verschuldungskrisen und sich anschließenden Austeritäts-Diktaten der globalen Geldgeber IWF und Weltbank. Statt garantierter Rechte wurden Effektivitätsrechnungen zum Mantra der Gesundheitsexperten. Defizitäre Gesundheitseinrichtungen mussten die Löcher mit Nutzergebühren stopfen, was wiederum die Ärmsten der Armen, die am dringlichsten auf die öffentlichen Dienste angewiesen waren, von ihrer Nutzung ausschloss. Vor allem wurde die WHO im neuen Jahrtausend ihrer erklärten Rolle, zentraler Akteur der globalen Gesundheitspolitik zu sein, zunehmend weniger gerecht.

Nur ein Dienstleister für die Geldgeber?

Wie konnte es dazu kommen? Tatsächlich steht die WHO, eine imposante Organisation mit mehr als 7.000 MitarbeiterInnen in 150 Länderbüros, sechs Regionalbüros in vier Kontinenten, einem Hauptquartier in Genf und sechs offiziellen Sprachen, auf äußerst tönernen Füßen. Ihr Jahresbudget ist mit etwas mehr als 2,2 Mrd. USD kaum größer als das des Genfer Universitätshospitals. Die Mitgliedsbeiträge der 191 Staaten, die die finanzielle Selbständigkeit der WHO sichern sollen, machen nur noch 20 Prozent ihres Budgets aus, mehr als Dreiviertel sind thematisch und projektgebundene Mittel. Über diese können die Geber wesentlich mehr Einfluss auf die tatsächlichen Arbeitsschwerpunkte der Organisation nehmen, als es die Mitgliedstaaten mit ihren Resolutionen und Appellen in der jährlichen Vollversammlung und dem rotierend besetzten 34-köpfigen Exekutivrat tun. Vor allem die großen Mitgliedstaaten des globalen Norden bestimmen wesentlich mit. Traditionell sehr engagiert sind die USA, Großbritannien, die EU, Kanada, Japan und die skandinavischen Länder, in letzter Zeit hat sich auch Deutschland stärker beteiligt: Auch externe Finanzgeber wie private Stiftungen haben ihren Einfluss auf die WHO vergrößert. So ist bei projektgebundenen Spenden die Bill & Melinda Gates Foundation zeitweise der zweitwichtigste Geber nach den USA gewesen.

Dieses Missverhältnis ist nicht neu und immer wieder Anlass zur Debatte. Der Vorwurf, die WHO sei de facto zu einem „Dienstleister“ in Sachen Globaler Gesundheitspolitik von nationalstaatlichen und privatwirtschaftlichen Interessen geworden, wird vor allem von kritischen zivilgesellschaftlichen Initiativen erhoben. Viele, darunter medico und das People’s Health Movement, haben sich 2016 in dem Global Health Hub zusammengeschlossen. Das Netzwerk setzt sich mit Studien, Veranstaltungen und einer Lobbyarbeit „von unten“ am Hauptsitz der WHO dafür ein, dass diese die Unabhängigkeit zurückerlangt, die sie zur Bewältigung der globalen Gesundheitskrise braucht. So macht es auch darauf aufmerksam, wofür die WHO von externen Geldgebern Mittel bekommt und wofür nicht. Einem umfangreich finanzierten Programm zur Ausrottung des Poliovirus stehen völlig unterfinanzierte Programme wie das zur Förderung unentbehrlicher Arzneimittel gegenüber. Zufall ist das nicht. Einem eher technisch umsetzbaren Impfprogramm, dessen Erfolge in Form von geretteten Kindern gut medial präsentierbar sind, sind Geldgeber wie die Gates- und die Rotary-Club-Stiftungen eher zugetan als etwa einem Projekt, das die lokale Produktion und Qualifizierung von Generikaalternativen zu patentierten Markenmedikamenten fördert. Und mit den vielen Arbeitsstellen, die in den Länderbüros der WHO für das globale Polio-Impfprogramm finanziert werden, sind auch die Länder des globalen Südens durchaus zufrieden.

Die WHO könnte in ihrer Selbständigkeit gestärkt werden, wenn die Mitglieder sich gegenseitig zu höheren Beitragszahlen verpflichten. Die Bereitschaft hierzu ist jedoch nicht nur in den reichen Staaten minimal. Insbesondere die BRICS-Staaten China, Brasilien, Russland müssten bei einer Neujustierung der Mitgliedbeiträge, wie sie die WHO vorgeschlagen hat, kräftig nachlegen. Ein Minimalkompromiss, der bei der letztjährigen Weltgesundheitsversammlung im Mai erreicht wurde, war die erste Erhöhung der Pflichtbeiträge seit vielen Jahren – um gerade einmal drei Prozent. Das ist Kosmetik und schafft keine Abhilfe bei den realen Finanzierungsengpässen.

Abhängig von externen Akteuren

So bleibt die WHO abhängig von externen Akteuren und versucht die damit verbundenen Interessenkonflikte zu managen. Auch das tut sie mehr als schlecht als recht, sagen die KritikerInnen vom Geneva Global Health Hub. Die Kritik macht sie beispielsweise an dem neuen Rahmenabkommen FENSA der WHO zum Umgang mit nichtstaatlichen Akteuren fest. Eine Überprüfung der Interessen dieser Akteure bleibt weiterhin unzureichend. Oder welche kritische Haltung zu „big food“ und „big pharma“ kann man von der Gates Foundation erwarten, deren Gelder auch aus den Profiten von Großunternehmen der Nahrungsmittel- und Pharmaindustrie stammen? Dass die WHO bereits zweimal das Ehepaar Gates als „special speaker“ zu ihrer Jahresversammlung einlud und die Stiftung jetzt gar den Status der „official relations“ bekommen hat, verstärkt dieses Misstrauen noch.

Nicht weniger bedenklich sind die vielen Möglichkeiten der Einflussnahme durch die Hintertüren der internationalen Politik und vermeintlich unpolitischer Fachleute. Ein besonders krasser Fall ist das Knebelabkommen der WHO mit der Internationalen Atomenergie Organisation (IAEO), das noch aus dem Jahr 1959 stammt. Dieses verhindert systematisch eine unabhängige Stellungnahme der WHO zu den Gesundheitsgefahren radioaktiver Strahlung auch bei großen Unfällen. Zu Tschernobyl oder Fukushima war von Seiten der WHO denn auch wenig zu hören.

Aber auch in ihrem „ureigenen“ Terrain – der Bekämpfung weltweiter Krankheitsausbrüche – häufen sich Kontroversen um ihre Unparteilichkeit der Organisation. Eine große Debatte entspann sich etwa bei der weltweiten Schweinegrippe-Epidemie (H1N1-Virus) 2009. Nachdem die WHO diese – wie sich später herausstellte fälschlicherweise – zu einer globalen Pandemie erklärt hatte, wurden enorme Ressourcen in die Bereitstellung von Medikamenten und eines neuen Impfstoffs investiert. Die die WHO beratenden Impfstoffexperten hatten offenbar finanzielle Verbindungen zu den großen Impfstoffherstellern, die sich davon ein einträgliches Geschäft versprachen. Ebenso erbitterte Auseinandersetzungen gab es um die Verfügbarkeit des neu entwickelten Impfstoffes, der von den finanzkräftigen Staaten vorbestellt wurde, während die Länder des Südens befürchten mussten, leer auszugehen oder die hohen Preise nicht bezahlen zu können. Während in diesem Fall der WHO Panikmache vorgeworfen wurde, erschien ihr Handeln in der Ebola-Krise 2014/15 viel zu zögerlich. Hier machten sich besonders auch die lokalen und regionalen politischen Einflussnahmen bemerkbar. Sowohl die betroffenen Staaten in Westafrika als auch das afrikanische Regionalbüro hatten die Einschätzungen der drohenden Ausbreitung der Epidemie lange zurückgehalten, um eine Isolation der Länder zu verhindern.

Solche Fehlentwicklungen sollen nun mit konkreten Strukturreformen innerhalb der WHO beantwortet werden. Ziel ist es, die verschiedenen Ebenen der WHO besser miteinander zu vernetzen, um schneller reagieren zu können. Auch hier zeigt sich aber, dass die Mitgliedsländer zwar schnell mit der Kritik an der WHO bei der Hand sind, aber zögerlich, wenn sie selbst gefordert sind. Ein Beispiel ist der „Emergency Contingency Fund“, mit dem die schnelle Handlungsfähigkeit der WHO bei Epidemien gestärkt werden soll. Auch zwei Jahre nach seiner Etablierung ist von den zugesagten 100 Mio. USD nicht einmal die Hälfte beisammen.

Zurück zu den Kernaufgaben

Vor diesem Hintergrund erscheint es am wichtigsten, dass die WHO selbst sich nicht nur als technische und administrative Behörde wahrnimmt, sondern zu ihrer menschenrechtlichen Kernaufgabe zurückfindet, wie es im Mandat ihrer Gründungsdokumente und in der Alma Ata Deklaration verankert ist. Hier ist die Stimme der WHO weiterhin wichtig. Nimmt sie ihre Aufgabe ernst, darf sie Konflikte mit einer Wirtschaftspolitik nicht scheuen, wenn dort Patentregeln verhandelt werden, die den Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten für alle verhindern. Genauso wenig darf sie Dienerin oder Dienstleisterin ihrer Mitgliedsstaaten sein, wenn sie als die „führende und koordinierende Institution der Weltgesundheit“ verstanden werden will. Defizite bei der WHO zu benennen, sie in ihrem Mandat aber gleichzeitig zu verteidigen und zu unterstützen – das ist mehr denn je Aufgabe der Zivilgesellschaft und ein wichtiger Teil der Arbeit von medico international und Partnern im People’s Health Movement und im Geneva Global Health Hub.


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