Stärkung notwendig

7,5 Thesen zur Zukunft der WHO

03.04.2023   Lesezeit: 8 min

Gerade in Zeiten, in denen verstärkt innen- und außenpolitische Konflikte der Mitgliedstaaten ausgetragen werden, ist eine unabhängige WHO von globaler Bedeutung.

1. Die WHO sollte zu ihrem menschenrechtlichen Kernauftrag zurückkehren

Die WHO darf weder Dienstleisterin der Wirtschaft noch ihrer Mitgliedsstaaten sein, wenn sie ihren Anspruch erfüllen will, weiterhin die „führende und koordinierende Institution der Weltgesundheit“ zu sein. Dazu ist sie derzeit nicht in der Lage. Zu Beginn der Covid-19-Pandemie ließen viele Mitgliedstaaten die Warnungen der WHO ungehört und begannen zu spät mit eigenen Vorbereitungen zur Vorsorge und Bewältigung der Krise. In ihren Reden zur globalen Verantwortung war von vielen Politiker:innen zwar immer wieder zu hören, dass Impfstoffe ein „Globales Öffentliches Gut“ sein sollten, in der Beschaffung und Verteilung zeigten sich dann aber die nationalen und regionalen Egoismen. Der Einsatz der WHO für eine temporäre Aufhebung von geistigen Eigentumsrechten gemäß des TRIPS-Abkommens der Welthandelsorganisation wurde von einer mächtigen Minderheit der Staaten, allen voran die deutsche Bundesregierung, erfolgreich sabotiert. Das Beispiel Covid-19 zeigt, dass die Mitgliedsländer zwar schnell mit Kritik an der WHO sind, aber zögerlich, wenn ihr eigenes Handeln gefordert ist.

Die WHO muss in die Lage versetzt werden, ihren menschenrechtlichen Kernauftrag wahrzunehmen wie dies im Mandat ihrer Gründungsdokumente 1948 und in der Alma Ata-Deklaration von 1978 verankert wurde: „Der Zweck der WHO besteht darin, allen Völkern zur Erreichung des bestmöglichen Gesundheitszustandes zu verhelfen“ (Artikel 1).

2. Die WHO muss die Länder des globalen Südens bei der Selbstermächtigung unterstützen

Die globalen Ungleichheiten bei den Versuchen zur Eindämmung der Corona-Pandemie haben erneut offengelegt, dass die Maximierung der Profite von Pharmaunternehmen für den globalen Norden Vorrang vor dem Schutz von Leben im globalen Süden hat. Die Lehre für die Länder des Südens ist der Aufbau von Kapazitäten für eigene, unabhängige Forschung, Entwicklung und Produktion, wie es aktuell in Kooperation mit der WHO durch den Aufbau des mRNA-Impfstoff Technologie Transfer Hubs in Südafrika geschieht.

Die WHO muss den Kampf um gesundheitspolitische Unabhängigkeit der Länder des globalen Südens finanziell, fachlich und besonders auch politisch weiter priorisieren und unterstützen.

3. Die ungesicherte Finanzierung der WHO gefährdet ihre Eigenständigkeit

Die WHO ist die größte selbständige Organisation innerhalb der Vereinten Nationen und wurde parallel zu dieser 1948 im Schatten des zweiten Weltkriegs gegründet. Jedoch steht sie mit ihren mehr als 7.000 MitarbeiterInnen in 150 Länderbüros, sechs Regionalbüros auf vier Kontinenten, einem Hauptquartier in Genf und sechs offiziellen Sprachen weiterhin auf finanziell unsicherem Grund. Sie konnte ihr Jahresbudget in den vergangenen 5 Jahren zwar von 2,5 auf 3,7 Mrd. USD erhöhen, zuletzt vor allem auch durch Sondermittel in der Covid-19-Pandemie, aber die längerfristige Finanzierung ist weiterhin prekär. Die regelmäßigen Mitgliedsbeiträge der 194 Mitgliedstaaten, die die finanzielle Selbständigkeit der WHO sichern sollen, machen aktuell weniger als 20 Prozent ihres Budgets aus. Auch wenn sich die Staaten 2022 verpflichtet haben, diesen Anteil schrittweise bis 2030 auf 50 Prozent zu erhöhen, ist ungewiss, ob sich diese Selbstverpflichtung angesichts der aktuellen globalen Rezession und steigender Inflation tatsächlich realisieren wird.

Die ungesicherte Finanzierung bedeutet für die WHO eine wachsende Abhängigkeit von freiwilligen Zuwendungen. Mehr als Dreiviertel des verfügbaren Budgets bestehen aus freiwilligen Mittel der wohlhabenden Mitgliedstaaten, großer philanthropischer Stiftungen und anderer internationaler Organisationen wie der Weltbank. Diese Gelder sind fast immer an einzelne Themen und Programme gebunden. Die Krux: Über deren Gewichtung entscheidet nicht mehr die WHO, sondern der jeweilige Geldgeber – das untergräbt die Glaubwürdigkeit und Kohärenz der Organisation. Konkret spürbar wurde dies in der Pandemie, als die Gates-Stiftung das Eintreten der WHO für einen global gerechten Zugang zu den Medizinprodukten durch die Verteidigung der Pharmapatente unterlaufen hat.

Während der Pandemie war zudem die Aufmerksamkeit für die vielen anderen Gesundheitskrisen, zu denen die WHO arbeitet, gering. Die Mittel für den Notfallfonds der WHO erreichten mit 80 Mio. USD erst 2022 annähernd das jährlich gesetzte Ziel. Die Mittel wurden in 32 verschiedenen Krisenregionen eingesetzt, von den Cholera-Ausbrüchen in Syrien, Libanon, Pakistan, Kamerun, Benin, den Ebola-Programmen in der Demokratischen Republik Kongo und Uganda, den Überschwemmungen und Stürmen in Pakistan, Mozambik, Malawi und Madagaskar bis zu inner- und zwischenstaatlichen Konflikten in der Ukraine, im Sahel, in Sudan und Armenien.

Um ihre Arbeit in der Prävention und zur Bewältigung von Gesundheitskrisen leisten zu können, muss die WHO finanziell unabhängig sein. Voraussetzung dafür sind die weitere Anhebung und zuverlässige Zahlung der Pflichtbeiträge der Mitgliedsstaaten.

4. Die Abhängigkeit der WHO führt zu einem strukturellen Interessenskonflikt

Mehr als von allen anderen externen Geldgebern hängt die WHO von der Bill & Melinda Gates Stiftung ab. Oft ist sie nach den USA der zweitgrößte Geldgeber der jährlichen Budgets. Diese Abhängigkeit prägt die Arbeit der WHO zunehmend. Die Gates-Stiftung betrachtet Gesundheit mit einem medizinisch-technischen Blick und propagiert oft privatwirtschaftliche Lösungen für Gesundheitsprobleme und Gesundheitsversorgung. Dieser Ansatz konkurriert mit einem umfassenderen Verständnis von globaler Gesundheit, das soziale, ökonomische und politische Bedingungen einschließt. Dazu zählen Verschuldungskrisen, der Zugang zu sauberem Wasser, die Ausbildung und sichere Finanzierung von Fachpersonal in öffentlichen Gesundheitsdiensten, der Einfluss von multinationalen Unternehmen auf gesundheitsgefährdende Ernährung, Umweltbelastung durch Rohstoffausbeutung, Landraub von Kleinbäuer:innen und vieles mehr.

Das von der WHO vereinbarte Rahmenabkommen FENSA (Framework for Engagement with Non State Actors) birgt die Gefahr, dass zwischen Akteuren mit privaten Interessen und Vertreter:innen öffentlicher Interessen nicht ausreichend unterschieden wird und Unternehmen und private Stiftungen ihren Einfluss weiter ausbauen können. Die Gates-Stiftung hat von der WHO 2017 den Status eines „non state actor in official relations“ erhalten; die International Federation of Pharmaceutical Manufacturers and Associations als klassischer Lobbyverband für starke Patentrechte folgte im Jahr 2019. Ihre Einflussnahme führt zu einem strukturellen Interessenskonflikt innerhalb der WHO.

Die Abhängigkeit der WHO von profitorientierten Unternehmen und privaten Stiftungen muss beendet werden.

5. Die Regierungen sabotieren die Errungenschaften der WHO

Mit immer neuen Freihandelsabkommen, die Menschenrechte Wirtschaftsinteressen unterordnen, sabotieren die Regierungen der Industrienationen grundlegende Errungenschaften der WHO. Zum Beispiel das völkerrechtlich bindende Rahmenübereinkommen zur Eindämmung des Tabakgebrauchs von 2003: Diese wegweisende Übereinkunft, die zur Reduzierung der Gesundheitsgefahren durch Rauchen die Tabakindustrie stärker reguliert, wird gerade im globalen Süden systematisch untergraben. Nachdem ein verbesserter Nichtraucherschutz in vielen Industrienationen umgesetzt wurde, baut die Tabakindustrie ihre Absatzmärkte in den armgehaltenen Ländern aus. Handelsabkommen schaffen günstige Bedingungen für Klagen der Tabakkonzerne gegen Werbeeinschränkungen, der Anteil der Raucher:innen steigt. Viele Länder sind zögerlich, die Tabakrahmenkonvention umzusetzen, weil ihr Staatshaushalt von Einnahmen aus dem Tabakanbau abhängt.

Globale Gesundheitspolitik erfordert nicht die weitere Liberalisierung von Ökonomie, sondern deren Regulierung. Die weltwirtschaftlichen Verhältnisse sind so zu gestalten, dass sie den Bedürfnissen der Menschen entsprechen. Aus menschenrechtlicher Sicht besteht eine Verpflichtung zur Regulierung, zum Beispiel zur Sicherstellung essentieller Gesundheitsforschung, zum Verbot der Spekulation mit Nahrungsmitteln oder zum Schutz des Zugangs zu Land als Grundlage von Ernährungssouveränität.

Wir brauchen eine unabhängige und handlungsfähige Weltgesundheitsorganisation, die Konflikte mit der Wirtschaftspolitik ihrer Mitgliedsstaaten nicht scheut, wenn dort gesundheitsgefährdende Maßnahmen beschlossen oder nicht verhindert werden.

6. Die WHO untergräbt in der Praxis ihre eigene Agenda

Soziale Unterschiede zwischen den Ländern, aber auch innerhalb derselben, haben einen größeren Einfluss auf die Lebenserwartung als biologische Faktoren. „Soziale Ungleichheit tötet in großem Ausmaß“, stellte die Commission on the Social Determinants of Health der WHO 2008 in einer großen Studie fest. Die Ursache hierfür sieht sie in einer „toxischen Kombination aus schlechten Gesetzen, Politik und Wirtschaft“.

Doch die Mittel ihres wichtigsten Kooperationspartners, der Gates-Stiftung, stammen auch aus Erträgen von Investitionen in jene globale Nahrungsmittel- und Getränkeindustrie, die maßgeblich zur weltweiten Ausbreitung von Diabetes, Fettleibigkeit und anderer nicht übertragbarer Krankheiten beiträgt. Außerdem befürwortet die Gates-Stiftung den Ausbau von industrieller Landwirtschaft und die Patentierung lebensnotweniger Medikamente, was weltweit die Gesundheitssituation verschlechtert. Deutlich wurde das insbesondere am Festhalten an den Patenten auf die Covid-19-Impfstoffe in der Pandemie. Geballtes Vermögen und Macht kaufen nicht nur Einfluss, sondern auch Zustimmung und Selbstzensur.

Die WHO legitimiert ein Wirtschaftssystem, das Vermögen von unten nach oben verteilt, um dann Brosamen zur Behebung der Schäden zu verteilen.

7. Eine Demokratisierung der WHO braucht einen partizipativen Ansatz

Ohne eine maßgebliche Beteiligung derjenigen, um deren Gesundheit es geht, ohne Mitwirkung von Basisinitiativen, sozialen Bewegungen und Verbänden, die Gesundheit als öffentliches Gut und nicht als Business betrachten, kann eine Demokratisierung der WHO nicht gelingen. Als ersten kleinen Schritt hat das WHO-Sekretariat nach hartnäckigem Drängen 2023 eine dauerhafte „Civil Society Commission“ eingerichtet. Wie genau diese besetzt wird und wie sie Einfluss nehmen kann, bleibt abzuwarten und kritisch zu begleiten, damit sie nicht nur zu einem schmückenden Feigenblatt wird. Aber die Aktivist:innen können dies als ersten Erfolg verbuchen.

Akteure der Zivilgesellschaft, darunter medico international und das People's Health Movement gründeten 2016 den Global Health Hub Genf (G2H2). Dieses Netzwerk engagiert sich in einer „Lobbyarbeit von unten“ am Hauptsitz der WHO.

Ein partizipativer Gesundheitsansatz muss wiederbelebt werden. Hierfür gilt es, die Stimme der Zivilgesellschaft zu stärken und diese konsequent einzubinden anstatt sie nur als Zaungast zu dulden.

7,5. Im Konzert der vielfältigen globalen Gesundheitsinitiativen muss die Stimme der WHO unüberhörbar bleiben

Die Vervielfältigung der globalen Gesundheitsinitiativen, Fonds und Projekte seit der Jahrtausendwende hat das Thema Globale Gesundheit zwar stärker in den Fokus internationaler Politik gerückt, zugleich droht aber eine Zersplitterung und Konkurrenz um Finanzierung, mediale Aufmerksamkeit und lokale Personalressourcen.

Die WHO muss ihr historisches Mandat als global koordinierende und führende Gesundheitsorganisation wahrnehmen und ihre Mitgliedsstaaten dabei stärken, ihrer Verantwortung für die Gesundheit der Menschen im umfassenden Sinne eines Basisgesundheitskonzepts (Primary Health Care) gerecht zu werden, anstatt dieses Feld den Interessen und Lobbyaktivitäten unzähliger Einzelinitiativen und privater Akteure zu überlassen.


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